Heilung von beiderlei Glück - Francesco Petrarca

1.70. Von der Geburt vieler Kinder

Freude: Mir wurden viele Kinder geboren.

Vernunft: Und damit viele Probleme und eine Herausforderung für den Haushalt.

Freude: Meine Frau hat die Kinder geboren.

Vernunft: Unruhe bringt die Frau, Unruhe bringt die Schwiegermutter, und noch mehr Unruhe bringen die Kinder.

Freude: Ich erfreue mich der Kinder.

Vernunft: Eine bittere Freude, ein Gift mit Honig überzogen.

Freude: Mir wurden aber süße Kinder geboren.

Vernunft: Glaube mir, eine Quelle vieler Probleme zieht in dein Haus. Nie wieder wirst du ohne Angst und Sorge leben.

Freude: Ich habe diese Kinder selbst gezeugt.

Vernunft: Du hast wohl nie gelernt, was Angst, Hoffnung und Versprechen sind? So lerne nun, was Risiko ist, wie man die Eltern bemitleiden muß, die ihre Kinder verlieren, und wieviel langwierige Sorgen in ein kurzes Leben passen. Du mußt nun lernen, dein weltliches Geschäft auszuweiten, dich um fremde Dinge zu kümmern, Ziele anzustreben, deren Erfolg du nie sehen wirst, dich mehr um andere zu sorgen als um dich selbst und schließlich wenig Lohn zu empfangen. Das sind wirklich große Herausforderungen!

Freude: Mir wurden diese Kinder gegeben.

Vernunft: Nun beginnst du langsam zu verstehen, was du deinen Eltern schuldest.

Freude: Nein, es sind Kinder, die ich selbst gezeugt habe.

Vernunft: Du hast einen Baum gepflanzt, der mit unendlicher Sorgfalt gepflegt werden muß und dich solange beschäftigt, wie du lebst. Seine Früchte wirst du vielleicht niemals, sehr spät oder sogar erst nach deinem Tode ernten.

Freude: Ich habe gute Kinder.

Vernunft: Wenn sie gut sind, fürchtet man ständig ihren Verlust. Wenn sie schlecht sind, leidet man ständig unter Schmerz. Ihre Hilfe ist zweifelhaft, aber die Sorgen sind sicher.

Freude: Ich habe nun einmal viele Kinder.

Vernunft: Viele Sorgen im Leben und vielleicht Erkenntnis im Sterben, weshalb du sicherlich nicht nur einmal leben und sterben mußt.

Freude: Ich bin der Vater guter Kinder.

Vernunft: Je besser die Kinder, desto gefährlicher deine Anhaftung. Du ahnst noch nicht, welche Sorgen sie dir bringen, welche Trauer in dein Haus kommt und welche Macht du Tod und Schmerz über dich gegeben hast. „Oh ihr unglücklichen Mütter!“, rief Statius. Ich sage: „Oh ihr unglücklichen Väter!“

Freude: Ich bin der Vater vorzüglicher Kinder.

Vernunft: Du solltest hoffen zu sterben, während sie noch gesund und munter sind, damit du nicht verlierst, was dich im Leben erfreut. Sonst mußt du noch wie Nestor deine Freunde fragen: „Warum habe ich nur so lange gelebt?“

Freude: Ich bin glücklich und froh, daß ich mir Kinder gewünscht habe.

Vernunft: Ein unverläßliches Glück, eine schwer haltbare Freude, und oft von Trauer gefolgt. Ein unglückliches Glück! Ich könnte dir viele berühmte Männer aufzählen, die das größte Hindernis für ihr Glück in ihren Kindern fanden, die sie sich selbst gewünscht hatten.

Petrarcameister - Von der Geburt vieler Kinder

Der Petrarca-Meister gibt in seinem Bilde eine Ergänzung zu seiner Kinderstube von Kapitel 1.67. Als Patrizier sitzt der Vater im Lehnstuhl, umgeben von seinen Söhnen. Drei sind schon erwachsen, als junge Stutzer gekleidet und als Eigenwesen aus der Gruppe hervorgehoben. Ein kleiner Knabe ist noch eng mit dem Vater verbunden, der ihn liebkost. Drei andere Halbwüchsige stehen dem Vater noch mehr oder weniger nahe, aber doch mit von ihm abgewandtem Gesicht. Isoliert ist links die Gruppe, die aus einem Kleinkind und dem Großvater gebildet wird. Der kindisch gewordene Alte scheint sich mit dem Kleinsten am besten zu verstehen und auf seine kindlichen Spiele einzugehen. Das Ganze ist eine vom Künstler wohlüberlegte Darstellung, aus der ein tiefes Wissen um die Entwicklung des jungen Menschen spricht, und die auch den Stolz eines Vaters auf glücklich heranwachsende Kinder erkennen läßt, durchaus gegensätzlich zu Petrarcas Ausführungen.

Soweit spricht Walther Scheidig über dieses Bild, und wir können uns im Grunde nur anschließen und daran erinnern, daß sich aus geistiger Sicht im Vergleich zur körperlichen Sicht viele Bedeutungen umkehren. Und vermutlich spricht auch Petrarca in seinem Text mehr über die innere geistige Nachkommenschaft als über die leiblichen Kinder. Entsprechend zeichnet der Künstler das Innere eines körperlichen Raumes mit einem Patrizier auf dem Thron, sozusagen dem reichen „Händler“, der als Ichbewußtsein bzw. Ego „handelt“ und nach dem weltlichen Reichtum „greift“. Dazu greift er (wie auch im Bild gezeichnet) vor allem nach den Sinneserfahrungen und erfreut sich seiner fünf Kinder bzw. fünf Sinne, die ihm zum Glück dienen sollen, aber natürlich auch viele Sorgen, Schmerzen und Leiden bringen. Die drei älteren Söhne erinnern uns an die drei Seelenkräfte der Natur (Voluntas, Intellectus und Memoria bzw. Wille, Verstand und Gedächtnis), die hier im Inneren des Körpers natürlich nicht fehlen dürfen. Entsprechend würden wir vermuten, daß damit nicht die Söhne des Egos gemeint sind, sondern die Brüder der Mutter, also die Söhne der Schwiegermutter auf Seiten der Natur.

Im linken Teil des Bildes kann man aus geistiger Sicht die Vernunft in Gestalt eines alten gebrechlichen Mannes sehen, der am Stock geht und den Rosenkranz als Symbol der Gottesverehrung trägt. Sicherlich versteht er das Spiel der kindischen Sinne und vielleicht spielt er auch mit, doch offenbar scheint er mit der Zügelung des wilden Kindes überfordert zu sein, das gerade eine Truhe mit Stoff ausräumt, aus dem unsere weltlichen Sinneserfahrungen gemacht werden. Das liegt natürlich vor allem daran, weil der innere Raum dieses Körpers noch vom Ego beherrscht wird, das als reicher Händler auf dem Vater-Thron des Geistes sitzt.

Die Reihenfolge der hier abgebildeten Bewußtseins-Generationen wird in der indischen Philosophie ähnlich beschrieben. Zuerst entsteht aus dem Ungestalteten der Großvater, die universale Intelligenz mit der ganzheitlichen Vernunft bzw. dem Selbstbewußtsein. Daraus entsteht der Vater als das unterscheidende Ichbewußtsein mit den gegensätzlichen Gedanken von Mein und Dein usw. Und als Kinder entstehen die fünf Sinne mit dem Sinnesbewußtsein und den dazugehörigen Eigenschaften (siehe zum Beispiel Vayu-Purana 1.4).

Nun könnte man berechtigterweise fragen, warum der Petrarca-Meister immer wieder auf diesen natürlichen und geistigen Grundprinzipien herumreiten sollte, und auch wir immer wieder davon sprechen. Es war sicherlich eine äußerst große Errungenschaft unserer Vorfahren, solche ganzheitlichen Grundprinzipien in der Natur entdeckt zu haben, auf die man viele tausend Jahre bauen konnte. Auch das war natürlich nicht die absolute Wahrheit, die man nur jenseits aller gegensätzlichen Begriffe erkennen kann, aber es war ein sehr wertvolles Wissen, und wer es verinnerlicht hatte, konnte diese Grundprinzipien überall in der Welt wiedererkennen und die unübersehbare äußerliche Vielfalt darauf reduzieren, um eine ganzheitliche Sicht zu entwickeln. Das machte die Welt relativ einfach, und die Menschen konnten sich auf das Wesentliche im Leben konzentrieren. Heute ist die Situation anders. Zum einen regiert der Naturalismus bzw. Materialismus, der alles Geistige kategorisch ablehnt und unterdrückt. Zum anderen kann man heutzutage mit der Wissenschaft sehr viel Geld verdienen, so daß die geniale und selbstverständliche Einfachheit nicht mehr das große Ziel ist, sondern das gedanklich Komplizierte mit möglichst viel begrifflichem Erklärungsbedarf. Das mag aus weltlicher Sicht sinnvoll bzw. nützlich erscheinen, doch aus geistiger Sicht verstärkt es den Egoismus ins Maßlose und die vernünftige Mäßigung geht mit der Vernunft verloren.

1.71. Vom lieblichen Kinde

Freude: Ich habe einen lieblichen Sohn.

Vernunft: Ich hoffe nur, daß deine große Freude nicht in großer Trauer endet. Je mehr du dein Kind jetzt genießt, desto trauriger wirst du sein, wenn es weg ist.

Freude: Ich habe einen vielversprechenden Jungen.

Vernunft: Versprich dir lieber nicht so viel, denn das zarte Alter ist besonders zerbrechlich und wird oft in seiner ersten Blüte abgeschnitten. Wenn es jetzt nichts Süßeres gibt, so gibt es dann nichts Bittereres.

Freude: Ich habe wirklich einen süßen und prächtigen Jungen.

Vernunft: Ach, möge dieser Zauber niemals zu Tränen werden! Ich gebe zu, Gesicht und Geplapper eines Babys sind die süßesten Dinge. Wie schon Statius sagte: „Wunderbar das himmlisch-strahlende Angesicht und die halbgeformten Worte!“ Solange du sie hören kannst, bis du voller Freude. Wenn sie jäh verstummen, trifft dich große Qual, und bei jeder Erinnerung schmerzt dein Herz. In allen weltlichen Dingen sind das Süße und Bittere nah verwandt, aber hier besonders.

Freude: Ich freue mich wirklich sehr über meinen kleinen lieblichen Sohn.

Vernunft: Ich verbiete dir nicht die Freude oder deine natürliche Neigung. Aber ich bitte dich in allen Dingen um ein vernünftiges Maß. Ohne dieses Maß kann sich nichts Gutes entwickeln. Ich wünsche dir Mäßigung im Genuß, dann wird auch die Trauer mäßig sein. Ich bitte dich nachzudenken, ob du vielleicht auf unzuverlässigen Sand zerbrechliche Mauern baust oder dich auf einen zerbrechlichen Stock aus Schilfrohr stützt, wie König Hadrian oft gesagt haben soll, nachdem er Aelius adoptiert hatte, einen schönen, aber kranken Jungen. Dann kannst du mit ihm den Vers von Vergil rezitieren:
Das Schicksal wird ihm nur die Erde zeigen, aber ihn nicht länger bleiben lassen.

Freude: Ich freue mich aber sehr über mein kleines Kind.

Vernunft: Dann freue dich auch darauf, daß es dir leid tun wird, wenn es dir vom grausamen Tod entrissen wird, oder was noch gemeiner und schwerer erträglich ist, wenn das liebliche Kind ein unfreundlicher, ungehorsamer und übelgesinnter Junge wird.

Freude: Nein, ich habe viel Freude an meinem kleinen Sohn.

Vernunft: Kein Bauer ist so dumm, daß er sich nur über die Blüte freut. Der Lohn ist die Frucht, und der maßvolle Genuß, wenn sie reif ist. Bis dahin sind Wind, Hagel und Krankheiten zu fürchten, und die Freude ist mit Furcht zu zügeln.

Petrarcameister - Vom lieblichen Kinde

Die Gefährdung des kindlichen Lebens, von der Petrarca spricht, gibt auch der Petrarca-Meister in seiner Darstellung zu. Er hat, wohl nach Sebastians Brants Hinweisen, sein Bild wieder zweiteilig angeordnet und vermittelt links volkstümliche Weisheit, rechts geschichtliche Lehre. Da sitzt der stolze Vater vor dem Hause, mit seinem zierlichen Kindchen auf dem Arm. In Gestalt eines Teufels kommt Krankheit oder Unfall groß und unabwendbar auf ihn zugeschritten und entreißt ihm mit den Krallen sein Kind. Rechts spielt ein Kindchen mit dem Steckenpferd und einem Windrädchen vor einem Dickicht von Schilf. Ein Kaiser streckt schützend die Hand nach seinem Kopf, er lehnt an einer geborstenen Säule, und zerfallenes Mauerwerk ist um ihn. Diese Szene ist nun bis in Einzelheiten vom Text Petrarcas bestimmt worden: „Bedenke, ob du vielleicht auf unzuverlässigen Sand zerbrechliche Mauern baust oder dich auf einen zerbrechlichen Stock aus Schilfrohr stützt, wie König Hadrian oft gesagt haben soll, nachdem er Aelius adoptiert hatte, einen schönen, aber kranken Jungen.“ Man wird zugeben müssen, daß in der volkstümlichen Form der linken Darstellung der Gedanke des Kapitels viel deutlicher ausgesprochen ist als im Geschichtsbild daneben. Doch zeigt diese Geschichtsdarstellung zugleich, daß in den Bildern des Petrarca-Meisters alles etwas „bedeutet“, wie hier das Schilfdickicht und die geborstene Säule.

Soweit beschreibt der Kunsthistoriker das Bild. Aus geistiger Sicht erinnert uns hier der Teufel wieder an das gegensätzliche Wesen des Ichbewußtseins. Einerseits als Angst vor dem Tod, die durch das gegensätzliche Denken entsteht, wie es auch in der biblischen Schöpfungsgeschichte heißt: „Von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen sollst du nicht essen, denn welches Tages du davon ißt, wirst du des Todes sterben. (1.Moses 2.17)“ Anderseits als die unersättliche Begierde des Ichbewußtseins nach persönlichem Besitz, die dazu führt, daß das Ego alles wieder verlieren muß, was es persönlich festhalten will. Oder wie es in der Bibel heißt: „Wer sein Leben festhalten will, der wird es verlieren. Wer es aber um Gotteswillen verliert, der wird’s erhalten und die Unsterblichkeit dazu. (Matthäus 16.25 / Johannes 12.25)“ So wird das Ichbewußtsein durch die Vorstellung von „Ich“ und „Mein“ zum Teufel und erscheint sich selbst gegenüber als ein Schreckgespenst in Form von Verlust, Tod und Krankheit. Diese Polarität ist wunderbar im Bild gezeichnet, wie sich Ego und Teufel um die lebendige Seele streiten. Man sieht, wie das Leben in Form des nackten Kindes zwischen dem Ichbewußtsein, das als Vater auf der Bank seines körperlichen Hauses sitzt, und dem Teufel, der ihm gegenüber als bedrohliche Ich-Reflexion erscheint, zu einem Gegenstand persönlichen Besitzes wird, den man festhalten will. Ein typisches Spiel der Polarität: Je mehr man vom Pluspol ergreift, desto größer wird der Minuspol. Das heißt: Je größer das Ego, desto größer der Teufel. Und beide sind natürlich immer miteinander verbunden, wie die beiden Pole einer Batterie.

Dieses Ichbewußtsein mit dem gegensätzlichen Denken ist auch der Sand, auf den wir gewöhnlich bauen, oder das hohle Schilfrohr, auf das wir uns stützen. Die Lösung des Problems bzw. die Erlösung kann man dann auf der rechten Seite des Bildes sehen, nämlich in Form der ganzheitlichen Vernunft die als herrschender König auch inmitten der äußerlich vergänglichen Welt, wo die kindlichen Sinne der lebendigen Seele spielen, das Leben als unvergängliches Leben erkennen und beschützen kann. Das ist das ganzheitliche Selbstbewußtsein, das bezüglich der gedanklichen Gegensätze gelassen dasteht und wahre Sicherheit geben kann.

1.72. Von wunderschönen Kindern

Freude: Meine Kinder sind wunderschön.

Vernunft: Wenn du von mir gelernt hast, deine eigene körperliche Schönheit zu ignorieren, solltest du auch wissen, wie du die Schönheit anderer betrachten solltest.

Freude: Die Schönheit meiner Kinder ist aber großartig.

Vernunft: Eine großartige Gefahr für deine Jungen, und eine weit größere für deine Mädchen, weil körperliche Schönheit und Tugend selten zusammen leben. Sie wollen es auch nicht, denn heutzutage sind alle menschlichen Tugenden und vor allem die Bescheidenheit schwer zu bewahren, insbesondere, wenn sie vom Stolz auf körperliche Schönheit verdunkelt werden. Viele beneiden die Schönheit anderer, und dieser Neid züchtet Sorge und Zorn. Wer kann unverletzt alt werden in einer Welt des Zorns? Wer kann unerschütterlich gedeihen unter der Tyrannei der Schönheitsideale? Wie viele Seeleute fahren furchtlos über ruhige See? Wie viele Kaufleute gehen mit all ihren reichen Waren sicher durch den Wald? Zeige mir eine schöne Frau, die nicht wichtig ist! Sie mag keusch sein, aber wird beständig belagert und angegriffen. Welcher weibliche Geist kann den vielen Versuchungen lange widerstehen? Verführer lehnen ihre langen Leitern zur Eroberung an die körperlichen Mauern, Geschenke dienen als Werkzeuge der Belagerung, und mit Lügen werden geheime Gänge durch die Schutzwälle der Stadt gegraben. Und wenn diese Mittel nicht funktionieren, greifen böse Hände auf Gewalt zurück.

Wenn du Beweise benötigst, dann erinnere dich an die berühmten Geschichten der Vergangenheit, denn schon viele hat die körperliche Schönheit in Versuchung geführt, ruiniert oder sogar in Verbrechen und Tod getrieben. Unter den Hebräern war Joseph ein Beispiel leidenschaftlicher Versuchung, doch göttliche Vorsehung wandelte seine Gefahr in Herrlichkeit. Unter den Griechen sind Hippolytos und Bellerophon zu erwähnen, und unter den Römern Spurina, der sich mit eigenen Händen entstellte, um der Versuchung zu entgehen. Im Altertum war die Jungfrau Tamar nicht sicher, bei den Griechen Penelope und bei den Römern Lucretia. In allen Zeitaltern wurden Frauen wegen ihrer Schönheit bedrängt oder sogar unterworfen. Das sind die Früchte der vergänglichen Schönheit, die nicht nur ganze Adelshäuser, sondern auch große Städte und mächtige Königreiche zerstört haben. Du kennst ja die Geschichte. Wäre Helena nicht so schön gewesen, wäre Troja unversehrt geblieben. Wäre Lucretia nicht so schön gewesen, wäre das römische Königsreich nicht so schnell zusammengebrochen. Wäre Verginia nicht so schön gewesen, wäre die Herrschaft der Decemvirs nicht so schnell zu Ende gegangen. Und Appius Claudius, der große römische Gesetzgeber, der von Lust überwältig wurde, hätte seinen Ruhm nicht verloren und wäre nicht in Ketten gestorben.

Kurzgesagt, wenn es weniger dieser besonderen Schönheiten gegeben hätte, wären weniger aus dem Schutzwall ihrer Tugend gefallen, getäuscht oder geschändet worden, ihr Geist wäre nicht gesunken und ihre Seele nicht verlorengegangen. Deshalb suche nach den guten Wirkungen der körperlichen Schönheit, und falls du wirklich welche finden kannst, dann vergleiche sie mit den gegenteiligen Beispielen.

Freude: Ich habe wirklich einen sehr schönen Sohn.

Vernunft: Solche Schönheit weckte auch die Begierde einer gewissen Messalina. Nun wähle, was du willst: Sag nein, und stirb durch ihre Macht. Sag ja zu ihr, und gehe durch das Schwert von Claudius zugrunde. So bringt Keuschheit den Tod, und Unzucht nur einen kurzen Moment des Vergnügens. Das ist der Lohn gefeierter und überragender Schönheit. In dieser und vieler anderer Hinsicht ist eine maßvolle Begabung vorzuziehen. Und müßtest du dich für eines der Extreme entscheiden, dann wirst du feststellen, daß Schönheit zwar begehrt wird, aber Häßlichkeit viel sicherer ist.

Freude: Ich habe auch eine sehr schöne Tochter.

Vernunft: Dann schütze sie vor Hinterlist und Gewalt. Oder glaubst du, daß es nur einen Jason, Theseus oder Paris gab? Es gibt Tausende von dieser Art. Eine Tochter bedeutet an sich schon Sorge und Fürsorge. Kommt noch eine außergewöhnliche Schönheit hinzu, hast du allen Grund zur Angst, die nur durch das häßliche Alter oder den Tod verschwinden kann. Selbst wenn sie verheiratet wird, vergeht diese Angst nicht, sondern wandert in das Haus eines anderen.

Freude: Ich bin stolz und freue mich über die große Schönheit meiner Kinder.

Vernunft: Stolz und Freude über körperliche Schönheit ist närrisch, aber bei jungen Menschen üblich. Für alte Menschen ist es vor allem Eitelkeit, so daß sie ihre Narrheit und die damit verbundenen Gefahren nicht erkennen, was sicherlich dumm und dem Wahnsinn nahe ist.

Freude: Mein Sohn ist wirklich bemerkenswert schön.

Vernunft: Ich vertraue darauf, daß du Homers Ilias gelesen hast, wo im 24. Buch Priamos von seinem Sohn Hektor spricht: „Er schien kein Sohn eines Sterblichen zu sein, sondern eines Gottes.“ So sprach Priamos, aber Achill zeigte ihm, daß Hektor tatsächlich der Sohn eines Sterblichen und nicht eines Gottes war (indem er ihn in der Schlacht um Troja tötete). So solltest auch du dich daran erinnern, daß die bemerkenswerte Schönheit deines Sohnes schnell vergänglich sein kann und ein sehr fragwürdiger Vorteil ist. Deine illusorische Narrheit entsteht durch übertriebene väterliche Liebe, die der Feind eines wahrhaften Urteils ist.

Freude: Und meine liebenswürdig schöne Tochter?

Vernunft: Wenn nicht Besseres daraus wird, wird zumindest dein Haus sehr liebenswürdig erscheinen.

Petrarcameister - Von wunderschönen Kindern

Sebastian Brant scheint den Petrarca-Meister mit Beispielen aus Sage und Geschichte überhäuft zu haben. Dadurch ist wieder einmal ein Blatt zu einer „Ars memorandi (die Kunst sich zu erinnern)“ antiker Literatur entstanden. Die These der „Freude“ gibt der Petrarca-Meister in der Hauptgruppe mit einem stolzen König und seinen beiden Söhnen. Links ist Joseph dargestellt, wie er durch seine Schönheit, die die Begierden der Frau des Potifar erregt hatte, ins Unglück gerät. Der Jüngling, der sich im Hintergrund das Gesicht zerkratzt, ist Spurina, der seine Schönheit zerstört, um Verfolgung zu entrinnen. Rechts hinten taucht ein Ungeheuer aus dem Meer auf, ein schreckenerregender Stier. Vor ihm scheuen die Pferde, mit denen der schöne und keusche Hippolytos fuhr, daß sie ihn abwarfen und zu Tode schleiften. Eifersucht war auch hier die Ursache des Unglücks. Phaedra, die Gattin des Theseus, verliebte sich in ihren schönen Stiefsohn Hippolytos. Sie verklagte ihn bei Theseus, als sie keine Gegenliebe fand. Theseus bat Poseidon, Hippolytos für seine vermeintliche Schuld zu bestrafen, und dieser schickte das Meerungeheuer auf den Weg des Hippolytos. Ebenso erging es dem schönen Jüngling Bellerophon, den die Königin Stheneboia hoffnungslos liebte. Auch sie verleumdete den Keuschen bei ihrem Gemahl Proitos, und dieser schickte den Jüngling in einen Kampf gegen das Scheusal der Chimära, das Löwe, Schlange und wilde Ziege in sich vereinte. Der Künstler hat das Untier getreu der Angabe von Sebastian Brant rechts im Bilde gezeichnet. Es hat einen Löwenkopf, einen Schlangenleib und von der Ziege die Vorderfüße, dazu speit es wie ein Drache Feuer. Die Flügel freilich, die es auch noch zeigt, sind unüberlegt, denn hätte die Chimära fliegen können, so hätte sie Bellerophon nicht von seinem Flügelpferde überwinden können. Auf den Pegasos hat der Künstler verzichtet, es wäre wohl auch kein Platz mehr zu seiner Darstellung gewesen.

Es läßt sich nicht sagen, ob sich die Betrachter des 16. Jahrhunderts weniger mühsam durch eine solche Darstellung hindurchgearbeitet haben. Sicher aber ist das Betrachten und Verstehenwollen solcher Bilder ein wichtiges Bildungselement des frühen 16. Jahrhunderts gewesen, dem auch Dürer in oft noch viel rätselhafterer Weise mit seiner Kunst gedient hat (z.B. Der Traum des Doktors, Die Wirkung der Eifersucht, Ercules).

Soweit lobt der Kunsthistoriker Walther Scheidig dieses Bild und spricht ein großes Problem an. Denn in unserer rationalen und geistentleerten Welt verschwindet immer mehr der Sinn für solche alte Symbolik, und die meditative Deutung wird kaum noch geübt. Entsprechend verschwindet auch das Verständnis für die alten Mythen, Sagen und Märchen, selbst die biblischen Gleichnisse sind für viele Menschen nicht mehr selbstverständlich, die Bilder und Geschichten werden vor allem oberflächlich aus weltlicher Sicht betrachtet. So wollen wir nun unser Bestes tun und uns der geistigen Bedeutung des Bildes zuwenden: Hier könnten wir im Vordergrund die Vernunft als König sehen, die der Eitelkeit des Ichbewußtseins zwei prinzipielle Wege weist. Dazu stehen hinter dem König zwei Söhne, die offenbar sehr stolz auf ihre jugendliche Schönheit sind. Auf der linken Seite des Bildes sieht man den Weg der Zurückhaltung und Entsagung, wie der biblische Joseph der Versuchung widersteht und mit Gottvertrauen lieber das Gefängnis erträgt, bis oben links zur Auflösung der Eitelkeit, wenn die Maske der Person zerstört wird und das ichhafte Selbstbild durch Demut und Selbstverleugnung verschwindet. Diesen Weg gingen früher die Nonnen und Mönche, als sie ihre Körper mit schlichten Kleidern oder Lumpen verhüllten und ein demütiges Leben abseits der Gesellschaft und den weltlichen Verführungen suchten.

Auf der rechten Seite des Bildes kann man den Kampf gegen unser tierhaftes und triebhaftes Ego in Gestalt der Chimära sehen, die an die üblichen Darstellungen des Teufels erinnert. Über die Polarität von Ichbewußtsein und Teufel haben wir im letzten Kapitel bereits gesprochen. So besteht in diesem Kampf die große Gefahr, daß das Ego gegen seine eigene Projektion kämpft, sozusagen ein Spiegelkampf gegen ein selbsterzeugtes Schreckgespenst, wodurch beide Seiten im Kampf immer stärker werden. Was dann geschehen kann, wenn das Schreckgespenst im Fluß des Lebens immer größer wird, sieht man vermutlich rechts im Hintergrund. Die Pferde der Leidenschaft gehen durch, der Reiter verliert seine Kontrolle, wird abgeworfen und zu Tode geschleift.

Den Kampf gegen die Chimära könnte man auch als symbolischen Kampf zwischen Geist und Körper bzw. Geist und Natur betrachten, was auch besser zum Text von Petrarca paßt, der von der körperlichen Schönheit handelt. Dann wären die drei Tiere in der Chimära die drei Grundkräfte der Natur. Im Löwe könnte man die Begierde sehen, in der Schlange den Haß und in der Ziege die Unwissenheit mit den meckernden Gedanken, ähnlich den drei Geistesgiften als Achse vom Rad des Lebens im Buddhismus. Und Walther Scheidig hat hier zu Recht bemängelt, daß die Flügel auf Seiten des Geistes sein sollten, der sich damit vom Ichbewußtsein zum Selbstbewußtsein erheben kann, vom getrennten Ego zur ganzheitlichen Vernunft, um die Grundkräfte der Natur zu besiegen. Damit ist dieser Kampf im Prinzip der gleiche wie zwischen Ego und Teufel, soweit der Teufel als das bedrohliche Wesen der Natur in Form der oben genannten drei Geistesgifte erscheint. Gekämpft wird natürlich um das Leben, und hier vor allem um das ewige Leben. Deshalb ist es das Wichtigste, daß in diesem Kampf das Leben nicht verlorengeht. Diese Gefahr könnte auch der leere Wagen im Hintergrund andeuten, so daß man nicht nur den persönlichen Besitz, sondern auch das Leben in einer völligen Vernichtung verliert, dem sogenannten Extrem des Nihilismus. Das ist sicherlich nicht das große Ziel. Deshalb ist es wichtig, das die Flügel der lebendigen Seele, die auch die Engel als Symbol tragen, im Kampf auf der Seite des Geistes sind und nicht auf Seiten der Natur. Nur so kann sich der Geist über die Natur, und nicht die Natur über den Geist erheben. Und vermutlich kann man die verkörperte Natur auch nicht von außen mit einer Keule besiegen, wie im obigen Bild dargestellt, sondern nur von innen her auflösen. So heißt es: Bellerophon flog auf dem Rücken des geflügelten Pegasos über die Chimära, durchbohrte sie vergebens mit seinen Pfeilen und warf schließlich einen Bleiklumpen mit der Spitze seines Speeres in ihr Maul. Der Feueratem der Chimära schmolz das Blei, das ihre Kehle hinabfloß und ihre Eingeweide verbrannte.


Bellerophon besiegt die Chimära (Mosaik aus Rhodos, Quelle Wikipedia)

Auch dieser Weg des inneren Kampfes wird in vielen alten Überlieferungen beschrieben, wie die berühmten Kämpfe der Ritter gegen die feuerspeienden Drachen, um die Jungfrau zu erlösen und die große mystische Hochzeit zwischen Geist und Natur zu feiern. Es lohnt sich, diese alten Geschichten achtsam zu lesen, denn gewöhnlich werden auch die Gefahren des Kampfes erklärt, wie zum Beispiel im Märchen „Die Kristallkugel bzw. Vom Schloß der goldenen Sonne“, dessen Deutung wir auf unseren Märchen-Seiten versucht haben.

Abschließend muß man natürlich sagen, daß die beiden dargestellten Wege nicht prinzipiell unterschiedlich sind. Auch auf dem Weg der Demut und Selbstverleugnung muß man diesen Kampf gegen das tierhafte Ego-Wesen im Inneren führen, und anderseits kann man diesen Kampf gegen das Ego natürlich nicht ohne Demut und Selbstverleugnung gewinnen. Deshalb gehören diese beiden Wege stets zusammen, wie auch im Bild der König als ganzheitliche Vernunft diese beiden Wege optisch miteinander vereint.

Ähnlich spricht auch Meister Eckhart:
Die Seele ist für ein so großes und hohes Gut bestimmt, daß sie drum bei keiner Weise sich beruhigen kann, und sie ist allzeit elend, bis sie über alle Weisen hinaus zu dem ewigen Gute kommt, das Gott ist, für das sie geschaffen ist. Hierzu aber ist nicht zu kommen mit Stürmigkeit, wobei sich der Mensch in großer Hartnäckigkeit darauf versteift, dies oder jenes zu tun oder zu lassen, sondern nur mit Sanftmut in treuer Demut und Selbstverleugnung gegenüber diesem wie bei allem, was da anfällt. Nicht also, daß der Mensch sich in den Kopf setze: Dies willst du durchaus tun, was es auch koste! Das ist falsch, denn darin behauptet er sein Ich. Befällt ihn etwas, was ihn müht und betrübt und ihn unruhig macht, so ist das wiederum falsch, denn (auch) darin behauptet er sein Ich. Wenn ihm etwas sehr zuwider wäre, sollte er sich von Gott darin beraten lassen und sich demütig unter ihn beugen und in sanftem Vertrauen alles von ihm hinnehmen, das ihm befiele: das wäre recht. Darauf läuft alles hinaus, was man raten oder lehren kann: daß ein Mensch sich selbst (durch die Vernunft) raten läßt und auf nichts als nur auf Gott (das ganzheitliche Wesen) schaue, wenngleich man dies in vielen und verschiedenen Worten ausführen kann. (Predigt 48)

1.73. Von einem starken und mutigen Sohn

Freude: Ich habe einen starken und mutigen Sohn.

Vernunft: Je mutiger er ist, desto mehr solltest du dir Sorgen machen. Denn die Glücksgöttin birgt die meisten Gefahren für die starken und mutigen Männer, die alle Gefahren verachten. Und das nicht ohne Grund, denn andere Männer fürchten und meiden ihren Zorn, nur die Mutigen treten ihren Schlägen entgegen. Wenn du in die Geschichte schaust, wirst du feststellen, daß fast alle der mutigsten Männer ein gewaltsames Ende gefunden haben.

Freude: Mein Sohn hat wirklich viel Mut.

Vernunft: Mut kann eine größte Tugend sein, birgt aber auch die größten Gefahren. Sei also auf Tränen und Tod gefaßt! Der Tod ist allen Menschen nah, aber vor allem den Mutigsten.

Freude: Mein Sohn ist ein besonders mutiger Mann.

Vernunft: So mag er vielleicht seinem Vaterland Freiheit, seinem Feind den Tod und sich selbst Ruhm bringen, doch dir bringt er Sorgen und ewige Angst.

Freude: Mein Sohn ist nicht nur mutig, sondern auch heldenhaft.

Vernunft: Was sonst beklagte Kreon, als sein Sohn getötet wurde, wenn nicht seinen heldenhaften Eifer, ein ruhmreicher Krieger zu sein? Worüber weinte Euandros, als er seinen Sohn Pallas verlor, wenn nicht über den gewünschten Kriegerruhm und die verführerische Ehre seines ersten Kampfes? Warum sonst ermahnte Priamos seinen Sohn Hektor, sich vom Zweikampf mit Achill fernzuhalten? Was sonst erbat sich seine Mutter? Was sonst beklagte Hektors Frau, die nach dem Tod ihres Mannes ein ungewisses Schicksal hatte, wenn nicht seinen unerschrockenen und flammenden Heldenmut, der nicht damit zufrieden war, in den Reihen zu kämpfen, sondern vor allen anderen voranstürmen mußte. Darüber war sie schon zu Beginn des Krieges besorgt und sprach zu ihm, als er in die Schlacht zog: „Oh mein Herz, deine große Stärke wird dein Tod sein. Warum hast du kein Mitleid mit deinem kleinen Sohn und mir, die bald eine Witwe sein wird?“ Und was meinte wohl die Mutter von Achill, als sie um ihren Sohn fürchtete und sprach: „Bald wird mein Achill auf Land und Wasser gesucht werden.“ Vergeblich versuchte sie ihn vor den Wirren des tobenden Krieges zu bewahren und im ruhigen Palast des alten friedlichen Königs zurückzuhalten, wo die Jungfrauen in versteckten Winkeln warteten. Wahrlich, all diese Leiden und Ängste werden nur durch die kriegerische Neigung der Heldenhaftigkeit hervorgerufen.

Freude: Mein Sohn ist nicht nur heldenhaft, sondern auch großmütig.

Vernunft: Großmut ohne Weisheit ist gewöhnlich nur Dummheit. Nur sehr wenige Menschen sind wirklich großmütig. Das zeigt sich vor allem, wie sie mit den Dingen der Welt und besonders mit dem Tod umgehen. Hier sind die meisten Menschen schwach, und das bestätigt die alte Wahrheit: Es gibt nichts Schwächeres als stolze Menschen.

Freude: Mein Sohn ist überaus großmütig.

Vernunft: Dann freue dich auf ein Haus voll mutiger Projekte ohne Ruhe und Frieden. Du wirst noch oft wünschen, einen weniger großmütigen Sohn zu haben. Kurz gesagt: Mut ist edel, und Großmut ist großartig, aber im Übermaß sind sie gefährlich und stürmisch. Nur durch vernünftige Mäßigung werden sie verläßlich und friedlich.

Petrarcameister - Von einem starken und mutigen Sohn

Für die Illustration wurden fast ausschließlich Szenen aus dem Trojanischen Krieg gewählt. Man konnte wohl mit diesen Beispielen am ehesten auf breites Verständnis rechnen, weil die Heldensage auch in dem „Gesta Romanorum“ enthalten war und seit mehr als hundert Jahren zum Anekdotenschatz der volkstümlichen Prediger gehörte. Am Beispiel des Achill werden Triumph und Ende des starken Sohnes gezeigt. Er wird oben rechts von seiner Mutter Thetis in Frauenkleidern geborgen, dann (oben Mitte) übers Meer zur Insel Styros gefahren und unter den Töchtern des Lykomedes erzogen (oben links). In seiner Jugend hat er Bären und Löwen erschlagen, von seinem Mentor Phoenix unterwiesen. Vor Troja tötete er im Kampf den Helden Hektor, an dessen Leiche (vorn links) Priamos und die Gattin Andromache mit dem Kinde Astyanax auf dem Arme klagen. Rechts auf dem Scheiterhaufen wird die Leiche des Hektor verbrannt, und wieder steht der Vater des starken Sohnes, Priamos, klagend dabei. Der große vierspännige Wagen endlich, der quer durch den Bildraum fährt und einen Fuhrmann im Gewande des 16. Jahrhunderts bei sich hat, bringt die Leiche des starken Pallas zu seinem Vater Evander, der dem Wagen klagend entgegentritt. - Weniger wäre mehr gewesen. Wie die vorige Darstellung ist auch dies ein Beispiel für das bei Sebastian Brant beliebte Häufen der Exempel, das auch für sein Hauptwerk, das „Narrenschiff“, typisch ist.

Soweit spricht Walter Scheidig zu diesem Bild. Zur Geschichte von Achill schreibt Wikipedia: »In der jüngsten Fassung der Geburtssage taucht Thetis ihn in den Unterweltsfluß Styx, der ihn unverwundbar machte. Seine Ferse aber, an welcher ihn Thetis dabei festhielt, wurde nicht benetzt und blieb daher verwundbar. Er wurde vom Kentauren Cheiron aufgezogen, der ihn in der Kriegskunst, in Musik und Medizin unterwies. Vor die Schicksalswahl gestellt, zog er ein kurzes, aber ruhmreiches Leben einem langen, aber glanzlosen Leben vor. Seine Mutter versteckte ihn am Königshof des Lykomedes, um ihn vor der Teilnahme am Trojanischen Krieg zu bewahren. Doch Odysseus entdeckte Achill, wonach dieser mit seinem besten Freund Patroklos am Kriegszug der Griechen teilnahm. Im zehnten Kriegsjahr eskalierte ein Streit mit Agamemnon, so daß er der Schlacht fernblieb: Diese Begebenheit wird als „Zorn des Achill“ in der Ilias besungen. Der Tod des Patroklos trieb ihn dazu, wieder zu den Waffen zu greifen, um ihn an Hektor, dem größten Helden der Trojaner, zu rächen. Kurz nachdem Achill Hektor getötet hatte, fand er den Tod, als er an seiner verwundbaren Ferse von einem Pfeil des Paris, den der Gott Apollon dorthin lenkte, getroffen wurde.«

Damit handelt auch diese Geschichte im Grunde vom großen Mysterium, wie eine unsterbliche Seele untergehen und in einem zweifelhaften Krieg um die körperliche Schönheit eines Idealbildes der Natur sterben kann. Dazu können wir aus geistiger Sicht sieben Stationen des Bewußtseins im Bild des Petrarca-Meisters sehen, die entgegengesetzt des Uhrzeigersinns sozusagen den Prozeß der Verkörperung bzw. „Entstehung“ des reinen Bewußtseins bis zur toten Materie darstellen. Dieser Prozeß beginnt oben rechts im Paradies, wo sich das ganzheitliche Gottesbewußtsein bzw. Selbstbewußtseins zum naturhaften Ichbewußtsein verwandelt, in dem die reine Seele bzw. das reine Bewußtsein die „Frauenkleider“ der Natur anlegt, oder wie Meister Eckhart sagt:
Der Mann in der Seele, das ist die Vernunft. Wenn die Seele mit der Vernunft stracks hinauf gekehrt ist zu Gott, dann ist die Seele »Mann« und ist eins und ist nicht zwei; wenn aber die Seele sich hinabwendet, dann ist sie Frau. Mit einem Gedanken und mit einem Abwärtsblicken legt sie Frauenkleider an. (Predigt 21)

In der Mitte reist die Seele dann auf dem Fisch des Lebens zusammen mit Mutter Natur auf dem Meer des Lebens zum Sinnesbewußtsein, woraus dann auch das Körperbewußtsein entsteht. Dazu erscheint im Bild eine körperliche Burg mit fünf Sichtluken in den Mauern für die fünf Sinne und einem Wappen an der Wand für den persönlichen Namen. Im inneren Palast sieht man König und Königin bzw. Geist und Natur. Der nächste Schritt in die Welt ist der Tod von Hektor, dem sogenannten „Bewahrer“, also der Untergang der Wahrheit für ein Leben in Illusion. Dieser geistige Tod wird von der Vernunft als König ebenso betrauert, wie von der Mutter Natur selbst, die hier die Seele auf ihren Armen hält. Im nächsten Schritt sinkt das Körperbewußtsein durch den Verlust der Wahrheit auf das egoistische und triebhafte Niveau von Tieren und kämpft wie ein Tier gegen Tiere. Die nächste Station ist das Feuer der Leidenschaft, in dem die letzten Reste von Hektor, dem „Bewahrer“ von Wahrheit und Tugend verbrannt werden. Auch das geschieht alles unter den bezeugenden Augen der universalen Intelligenz, dem ewigen Zeugen, der Vernunft oder des Selbst- bzw. Gottesbewußtseins. Schließlich erscheint auch der letzte Schritt in Form eines Sarges, der von einem vierspännigen Wagen gezogen wird. Die beiden vorderen Pferde sind links außerhalb des Bildes und man sieht nur die drei Waagebalken, wo sie angespannt sind. Die vier Pferde erinnern uns an die vier mittelalterlichen Elemente von Wind, Feuer, Wasser und Erde, der Fuhrmann an das Ichbewußtsein mit der Peitsche des Willens, der König mit dem Zepter an die Vernunft, die herrschen sollte, und der Sarg an die toten Erinnerungen und sonstigen Reste, die von einem körperlichen Leben übrigbleiben. Oder wie Goethe in Faust II sagt:

Wer keinen Namen sich erwarb noch Edles will,
Gehört den Elementen an; so fahret hin!

Das ist das körperliche Ende der Verkörperung des Bewußtseins, was wir gewöhnlich Tod oder auch tote Materie nennen. Was zuvor lebendiges Körperbewußtsein war, ist dann nur noch ein toter Wagen, der von den vier Elementen gezogen wird. Hierin ist der Held begraben, der eigentlich die ganze Welt erobern wollte. Man könnte sogar von einem Materiebewußtsein sprechen, daß nun so träge geworden ist, daß wir es für tot halten, wie auch der berühmte Quantenphysiker Hans-Peter-Dürr sagte: „Materie ist geronnener Geist“. Ein Zwischenschritt, den wir auch im Räderwerk des dargestellten Wagens erblicken können, wäre das wachsende Maschinenbewußtsein, wenn wir immer mehr Fähigkeiten an Maschinen abgeben, uns davon abhängig machen und toten Maschinen unterordnen. Dazu gehören nicht nur Werkzeuge, Motoren, Autos oder Flugzeuge, sondern vor allem auch die elektronischen Maschinen und Medien der Computer und Smartphones.

Zusammenfassend könnte man hier folgende sieben Bewußtseinsstufen bezüglich der Entstehung und Verkörperung aufzählen:

1) reines Bewußtsein - das Ungestaltete
2) Selbstbewußtsein - ganzheitliche Vernunft
3) Ichbewußtsein - gegensätzliche Gedanken
4) Sinnesbewußtsein - Wahrnehmung
5) Körperbewußtsein - Handeln
6) Maschinenbewußtsein - Mechanisierung
7) Materiebewußtsein - Sterben und Tod

Und eigentlich müßte die menschliche Entwicklung in die umgekehrte Richtung zurück zur Vernunft des Selbstbewußtseins gehen, vom Toten zum Lebendigen, von der körperlichen Anhaftung und Gefangenschaft zur geistigen Freiheit, wie es auch in Kapitel 1.69 im Uhrzeigersinn dargestellt wurde. Man sieht hier aber auch deutlich, wie viele Hüllen sich das reine Bewußtsein zugelegt hat, und wie viele Masken auf dem Weg zur Vernunft abgelegt und aufgelöst oder zumindest durchschaut werden müssen. Entsprechend groß ist die Herausforderung, der sich jeder Mensch früher oder später stellen muß.

1.74. Von einer keuschen Tochter

Freude: Ich freue mich über die Keuschheit meiner Tochter.

Vernunft: Eine große, aber sorgenvolle Freude. Je größer die Keuschheit, desto größer das Verlangen nach Lust. Nichts wird leidenschaftlicher bestürmt, als was von den Wällen der Keuschheit und weiblicher Scham bewacht wird. Sobald der Eintritt gewonnen wurde, geht der Buhler strategisch vor, denn unerlaubte Dinge sind immer heiß begehrt. Und was besonders begehrt ist, ist auch besonders schwer zu bewachen.

Freude: Die Keuschheit meiner Tochter ist höchst vorzüglich.

Vernunft: Es geschieht oft, daß das Vorzügliche sich ins Übel wandelt. Denke an die besonders schöne Lukretia. Nichts trieb die wilde Jugend mit mehr stechendem Verlangen dazu, ehebrecherische Gewalt auszuüben, als die Keuschheit dieser tugendhaften Dame. So will die Bosheit das Vorzügliche mißbrauchen und zum Übel wandeln.

Freude: Die Tugend meiner Tochter ist wohlbekannt.

Vernunft: So wünsche, daß sie beständig bleibe. Du kannst vom Dichter lesen: „Das Wesen der Frauen ist immer launisch und wechselhaft...“ Hätte es Virgil nicht gesagt, wäre es dann weniger wahr? Wie oft sehen wir, wie sich tugendhafte Mädchen in lustbegierige alte Weiber verwandeln, als ob sie mit ihrer gegenwärtigen Verdorbenheit ihre tugendhafte Jugend wiedergutmachen wollen und die Zeit nachholen, die sie während ihrer Keuschheit verloren haben?! Das ist wohl der verdorbenste Spott für dieses Geschlecht und Alter.

Freude: Ich habe wirklich eine sehr tugendhafte Tochter.

Vernunft: Wenn sie sich in dieser Tugend selbst erkennen würde, dann wüßte sie auch, wessen Gabe die Tugend ist, und würde mit ganzem Herzen dankbar sein und alles hingeben, um diese Tugend und Reinheit zu bewahren. Ich gebe zu, dann hättest du allen Grund, Gott zu danken und dich deiner Tochter zu erfreuen, ja, noch mehr zu freuen, als hättest du sie an einen König verheiratet. Und doch kannst du mir glauben, daß du trotzdem noch manchmal Angst haben wirst, denn wahre Beständigkeit ist in allen weltlichen Dingen selten und vor allem auf der weiblichen Seite (der Natur).

Petrarcameister - Von einer keuschen Tochter

Der Petrarca-Meister stellt als Hauptszene eine väterliche Unterweisung der Tochter dar. Die geistliche Bildung, wie sie aus dem langen Rosenkranz der Tochter spricht, erschien als die beste Waffe im Kampf gegen Sittenlosigkeit. Links und rechts von dieser Gruppe wird die Geschichte der Lukretia erzählt. Tarquinius Sextus bedroht Lukretia im Bette mit dem Schwert und zwingt sie zum Ehebruch. In der Darstellung rechts wird geschildert, wie Lukretia am Tage danach ihrem Vater und Brutus, dem Freund ihres Mannes, ihre Schändung klagt und ihnen ihren Entschluß verkündet, sich das Leben zu nehmen. Mit dem Zelt soll das Feldlager angedeutet werden, wo sie sich befand. Lukretia ist nicht beim Selbstmord dargestellt, wie sonst häufig in jener Zeit, sondern in höchster Verzweiflung, die vom Vater und dem Freunde geteilt wird. Die Gestalten der frommen Tochter und der verzweifelten Lukretia hat der Petrarca-Meister bis ins Haar, bis in die Falten der Kleider einander gegensätzlich gestaltet und hat damit moralisierend die väterliche Ermahnung noch unterstrichen.

Soweit beschreibt Walter Scheidig dieses Bild. Aus geistiger Sicht könnte man bei dem Paar von Vater und Tochter, die von einem Vorhang umgeben sind, auch an Natur und Geist denken, die von Illusion umhüllt wurden. Dann wäre hier vor allem das Ichbewußtsein gemeint, das auf dem Vaterthron sitzt und die Natur, die ihm Sinne und Körper verleiht, zur Treue ermahnt. Daß wir uns auf diese Treue verlassen wollen, ist für viele Menschen selbstverständlich, soweit es sich um den eigenen Körper und die eigene Natur handelt, wie auch der Vater im Text von Petrarca seine eigene Tochter lobt. Umgekehrt könnte man hier aber auch sehen, wie die Natur das Ego belehrt, denn sie trägt den Rosenkranz der Gottesverehrung und ein Lehrbuch, womit vielleicht sogar das Buch des Lebens gemeint ist, in dem alle Taten aufgezeichnet werden. In ähnlicher Symbolik wird auch das Weib in der Bibel als Gehilfin für den Mann erschaffen:

Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. Ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei (wörtlich: ich will ihm eine Hilfe schaffen als sein Gegenüber) (1. Moses 2.18).

Warum ist es nicht gut, daß der Mensch allein sei? Welche Hilfe bzw. Lehre benötigt er von Mutter Natur? Nun, zu dieser Lehre gehört sicherlich auch die große Frage: Warum ist die Natur nicht immer treu und gewährt dem bewußten Geist jeden Wunsch? Aus symbolischer Sicht heißt die Antwort: Die Natur ist nur ihrem wahren Ehemann treu. Allen anderen Männern verweigert sie sich mehr oder weniger und nimmt sogar den Tod auf sich. Diese Symbolik kommt auch in der erwähnten Geschichte der Lukretia zum Ausdruck, die links hinten im Bild zu sehen ist und auch Rubens auf seine Art wunderbar dargestellt hat:


„Tarquinius und Lukretia“ von Peter Paul Rubens um 1610

Aus symbolischer Sicht verbergen sich hinter den „Männern“ der Natur verschiedene Bewußtseinsformen bzw. -stufen, wie wir sie auch im letzten Kapitel aufgezählt haben. Entsprechend kann man auch in diesem Bild von Rubens sehen, wie das Ichbewußtsein von der häßlichen Begierde mit der giftig zischelnden Ego-Schlange angetrieben wird und nach der weiblichen Natur und dem Genuß ihrer Sinnlichkeit und Fruchtbarkeit greift. Interessant ist auch der Engel, der von oben aus dem göttlichen Reich mit dem Feuer der Liebe diese Leidenschaft entzündet und an die Liebesgottheit erinnert, die es in fast allen alten Kulturen gibt. Für diese Liebe erleidet die Natur in Form der Seele immer wieder Geburt und Tod, bis sie irgendwann ihren wahren Ehemann gefunden hat und in reiner Liebe mit ihm vereint ist, sozusagen das Selbstbewußtsein mit der ganzheitlichen Vernunft. Dieser Symbolik bedient sich auch das Hohelied der Bibel oder das Gleichnis vom lebendigen Wasser, über das Meister Eckhart spricht:
Dieses Wasser ist Gnade und Licht und entspringt in der Seele, entspringt drinnen und dringt empor und springt (hinüber) in die Ewigkeit. Da sprach die Frau: »Herr, gib mir von diesem Wasser!« (Joh. 4, 15). Da sprach unser Herr: »Bring mir deinen Mann!«. Da sprach sie: »Herr, ich habe keinen.« Da sprach unser Herr: »Du hast recht; du hast keinen. Du hast (ihrer) aber fünf gehabt; der jedoch, den du jetzt hast, der ist nicht dein«. Sankt Augustinus spricht: Warum sagt unser Herr: »Du hast recht gesprochen?« Er will sagen: Die fünf Männer, das sind die fünf Sinne; die haben dich in deiner Jugend ganz nach ihrem Willen und ihrem Gelüst besessen. Nun hast du einen in deinem Alter, der aber ist nicht dein: das ist deine Vernunft, der folgst du nicht. Wenn dieser Mann, die Vernunft, in der Seele tot ist, so steht es äußerst übel. (Predigt 51)

Entsprechend sieht man auch im rechten Teil des Bildes des Petrarca-Meisters, wie die Natur klagt und sich lieber in den Tod stürzt, als die Vergewaltigung durch das fremdartige Ego zu ertragen. Vater und Freund bzw. Schwiegersohn sieht man im Hintergrund im Dunklen der Unwissenheit stehen, zwar gemeinsam mit der Natur unter einem Schirm, aber innerlich getrennt und in verschiedene Richtungen schauend und strebend. Das ist das typische Wesen des Ichbewußtseins mit den gegensätzlichen Gedanken, das angesichts der fliehenden Natur vor Verzweiflung „die Hände über den Kopf zusammenschlägt“. Die gleiche Geste sieht man auch bei Mutter Natur, die sich von dieser Art Bewußtsein der „Männer“ abwendet und lieber den Tod sucht.

Abschließend könnte man noch bemerken, daß auf der linken Seite des Bildes die Dualität der zwei Pole von Geist und Natur dargestellt wird, vorn in Form von Schutz und Belehrung von einem Vorhang umhüllt und hinten in Form von Haß und Liebe in einem körperlichen Haus eingeschlossen. In beiden Fällen schauen sich Natur und Geist an und das heißt vermutlich, daß sie sich gegenseitig suchen. Rechts sieht man die Trinität als Dreipol unter dem Schirm eines Zeltes, wobei jeder Pol in eine andere Richtung schaut. Die Trinität der Natur- und Geisteskräfte ist ein sehr tiefgründiges Thema, über das man früher in vielen Religionen nachgedacht hatte. Das Grundproblem liegt darin, daß zwei Pole nur ewig hin und her schwingen würden. Für eine weltliche Entwicklung oder Entstehung braucht es noch einen dritten Pol als Sinn bzw. Richtung der Wirkung. Denken wir an den Heiligen Geist in Verbindung mit Vater und Sohn im Christentum, an die Güte in Verbindung mit Leidenschaft und Trägheit im Hinduismus oder an die Unwissenheit in Verbindung mit Liebe und Haß im Buddhismus. Eine ähnliche Aufgabe hat vermutlich auch der Wille in den drei mittelalterlichen Seelenkräften von Voluntas, Intellectus und Memoria im Sinne von Wille, Verstand und Gedächtnis. Diese prinzipielle Trinität ist im Bild vorzüglich dargestellt, wie diese drei Pole gegeneinander streben und die ganze Welt im Innersten bewegen.

So hat auch die Geschichte von Lukretia in Rom viel bewegt. Nachdem die Königherrschaft jede Vernunft verloren hatte und zur Tyrannei eines Superegos verkommen war, wurde die Demokratie erfunden, in der nicht mehr ein einzelnes Ego herrschen konnte, sondern eine Gruppe von Egos mit unterschiedlichen Zielen, so daß im Mittel wieder eine gewisse Mäßigung und Stabilität erreicht wurde. Doch auch hier war es nur eine Frage der Zeit, bis sich diese Gruppe in ihren egoistischen Zielen wieder einig war und die Demokratie zur Diktatur einer kleinen Gruppe von Superegos wurde. Denn eine Demokratie funktioniert nur so lange, wie es eine ausgewogene Opposition gibt. Aber naja, das kennen wir ja alles...

1.75. Von einem guten Schwiegersohn

Freude: Ich habe einen liebenswürdigen Schwiegersohn.

Vernunft: Er sollte dir auch lieber sein, denn dein leiblicher Sohn fällt dir zu, während der Schwiegersohn gewählt wird. Danke deiner Tochter, die dir Enkelkinder schuldet, daß sie dir diesen Sohn geschenkt hat.

Freude: Ein glückliches Schicksal hat mir diesen guten Schwiegersohn geschenkt.

Vernunft: Unter Schwiegersöhnen gab es viele Beispiele bemerkenswerter Treue, aber auch für schrecklichsten Verrat. Selten war ein Schwiegersohn seinem Schwiegervater so treu wie Marcus Agrippa dem Augustus Caesar oder Marcus Aurelius dem Antoninus Pius, der ihn 23 Jahre bis zum Ende seines Lebens liebte, so daß er nicht nur dessen Liebe und dessen Tochter verdiente, sondern auch die Nachfolge des Reiches, dank seines treuen Dienstes. Dagegen war Nero für Claudius kein guter Schwiegersohn, obwohl er auch Tochter und Reich erhielt, doch nicht wegen seiner Verdienste, sondern aufgrund der List seiner Mutter.

Freude: Deshalb freue ich mich über meinen guten und treuen Schwiegersohn.

Vernunft: Doch sei vorsichtig, damit die Hoffnung auf Treue und die Erwartung von Ehrung deine Freude nicht in Enttäuschung wandeln. Wer wünscht sich nicht das Leben für jemanden, der gewinnbringend erscheint? Doch sobald du seinen Plänen als Hindernis im Wege stehst und dein Tod ihm nützlicher erscheint, ändern sich gewöhnlich seine Gedanken und Zuneigungen, und der bisher unterdrückte Haß bricht hervor. Das beste Beispiel, wieweit der Haß zwischen Schwiegervater und Schwiegersohn gehen kann, sind Cäsar und Pompeius. Dies war noch schlimmer als die alten Geschichten von Danus und Numerian mit dem abscheulichen Verrat durch Aper, der seinen Schwiegersohn tötete, oder auch von Stilicho, der aus Begierde nach dem Königreich seinen verstorbenen Schwiegervater und sogar seinen lebendigen Schwiegersohn vergaß.

Petrarcameister - Von einem guten Schwiegersohn

Der Petrarca-Meister scheint die Beispiele, die Petrarca gegen die Schwiegersöhne anführte, nicht berücksichtigt zu haben. Er hat mit seiner Darstellung zwei Verlöbnisse geschildert, die ein gegensätzliches Verhalten des Schwiegersohnes schildern, aber nichts über dessen Qualitäten aussagen. In der rechts stehenden Gruppe gibt ein königlicher Turbanträger die Hand seiner Tochter mit der eines jungen Mannes im Hermelinmantel zusammen. Diese Wahl des Schwiegersohns ist also glücklich. In der Mittelgruppe steht rechts mit bekümmerter Miene der Vater, auch wieder mit phantastischer Kopfbedeckung. Er faßt mit der Linken die Rechte der Tochter, diesmal aber streckt der zwischen beiden stehende, zum Schwiegersohn ausersehende Mann beide Hände abwehrend von sich, ist also offenbar nicht gewillt, die Hand der Tochter zu ergreifen. Trotz der Bedeutung, die dem Spiel der Hände in diesen Darstellungen zukommt, sind sie wieder recht ungeschickt geschnitten. Miene und Haltung der Tochter in der rechten Gruppe ließe auch die Deutung zu, daß es hier die Tochter ist, die sich der Vereinigung widersetzt. Links im Hintergrund in einer von Renaissancesäulen getragenen offenen Halle wird einem König „Honig um den Bart geschmiert“, ein anderer König steht absichtlich teilnahmslos dabei. Eine Deutung dieser Szene konnte zunächst nicht gefunden werden.

Soweit beschreibt der Kunsthistoriker dieses Bild. Die Botschaft, die Petrarca in seinem Text anspricht, mag heute aus weltlicher Sicht wirklich etwas grobsinnig und weltfeindlich erscheinen. Aus geistiger Sicht entwickelt er hier eine sehr subtile Symbolik, die einerseits durch doppeldeutige Worte schwer zu übersetzen und anderseits mit unserer heutigen Weltanschauung noch schwerer zu verstehen ist. Zuerst betrachtete er im vorletzten Kapitel den leiblichen Sohn, der für körperliche Dinge in der Welt kämpft, dann die leibliche Tochter, die sich durch ihre Tugend nur mit dem wahren Ehemann vereint, und jetzt geht es um genau diesen wahren Schwiegersohn, sozusagen nicht der leibliche, sondern der geistige Sohn des Vaters. Damit wird hier ein sehr großes Thema behandelt, das nicht nur im Christentum höchste Bedeutung hat, nämlich wie der geistige Vater durch den Heiligen Geist den geistgeborenen Sohn in uns selbst gebiert. Dazu sagt auch Meister Eckhart:
Nun schreibt der eine Evangelist: »Dies ist mein lieber Sohn, in dem ich mir wohlgefalle« (Mark. I, II). Der zweite Evangelist aber schreibt nun: »Dies ist mein lieber Sohn, in dem mir alle Dinge gefallen« (Luk. 3, 22). Und nun schreibt der dritte Evangelist: »Dies ist mein lieber Sohn, in dem Ich mir selbst gefalle« (Matth. 3 17). Alles, was Gott gefällt, das gefällt ihm in seinem eingeborenen Sohn; alles, was Gott liebt, das liebt er in seinem eingeborenen Sohn. Nun soll der Mensch so leben, daß er eins sei mit dem eingeborenen Sohne und daß er der eingeborene Sohn sei. Zwischen dem eingeborenen Sohne und der Seele ist kein Unterschied... (Predigt 11)

Offenbar hat der Petrarca-Meister damals im 16. Jahrhundert die geistige Botschaft von Petrarca noch sehr tiefgründig verstanden, so daß uns seine Bilder auch heute noch helfen können, die geistige Ebene des Petrarca-Textes zu entdecken. So stellt sich uns zuerst die Frage, was diese beiden so gegensätzlich gezeichneten Gruppen vor dem zugezogenen Vorhang der Unwissenheit bedeuten könnten. Im Prinzip sind es zwei Dreiergruppen als Trinität von Vater, Tochter und Schwiegersohn, die schon im vorherigen Bild dargestellt wurde. Doch hinter dem Schwiegersohn der linken Gruppe, der die Hochzeit ablehnt, stehen zwei weitere Männer. Unter hinter der Tochter der rechte Gruppe, die offenbar auch die Hochzeit ablehnt, könnte man zwei Frauen vermuten. Die beiden Väter mit den königlichen Turbanen erinnern uns erneut an die ganzheitliche Vernunft, die im Text von Petrarca spricht und selbstverständlich das große Ziel hat, Geist und Natur als männlichen und weiblichen Pol in der mystischen Hochzeit wieder miteinander zu vereinen. Vielleich will uns der Maler hier mitteilen, daß diese Vereinigung zwischen Geist und Natur nicht möglich ist, wenn der männliche oder weibliche Teil zu sehr überwiegt. Entsprechend traurig schaut die Vernunft diesem Spiel zu. Dazu spricht auch Meister Eckhart:
Als Gott den Menschen schuf, da schuf er die Frau aus des Mannes Seite, auf daß sie ihm gleich wäre. Er schuf sie weder aus dem Haupte noch aus den Füßen, auf daß sie weder unter noch über ihm wäre, sondern daß sie gleich wäre. (Predigt 7)

Auf der linken Seite des Bildes scheint der Vorhang geöffnet zu sein und erlaubt den freien Blick in die Welt. Der körperliche Raum wird von drei Säulen gestützt, die an die drei Seelenkräfte erinnern. Und im Zentrum könnte man einen wohlbeleibten König sehen, der vermutlich das herrschende Ichbewußtsein symbolisiert, dem das Sinnesbewußtsein gerade „Honig um den Bart schmiert“. Daneben steht gelassen der wahre König mit dem Zepter, die universale Intelligenz mit dem Gottes- bzw. Selbstbewußtsein der ganzheitlichen Vernunft. Diese Scene könnte ein Ausblick darauf sein, wenn sich Geist und Natur in ihrer mystischen Hochzeit wirklich vereint und vollkommene Gleichheit erlangt haben. Denn dann verschwinden alle Gegensätze zwischen Männlich und Weiblich bzw. Geist und Natur und reines Bewußtsein bleibt zurück, sozusagen der ursprüngliche Mann, aus dem die Frau geschaffen wurde. Daß dieses Bewußtsein der Grund der ganzen Schöpfung ist, war wohl in allen alten Religionen bekannt, und spätestens seit den Entdeckungen der Quantenphysik sollte es auch die Wissenschaft akzeptieren, daß sich durch „Information“ alle Formen von „Innen“ heraus „formieren“ bzw. gestalten. Nur früher sprach man im Deutschen nicht von „Information“, sondern von „Wissen“, und die gestaltende Wirkung des Wissens nannte man „Bewußtsein“, sozusagen Bewegung, Wissen und Sein.

1.76. Von der zweiten Hochzeit

Freude: Ich werde eine zweite Hochzeit feiern.

Vernunft: Wenn du das weibliche Wesen wahrhaft erkannt hättest, wie es auch die großen Weisen beschreiben, dann hättest du gar nicht erst deine erste Hochzeit gefeiert.

Freude: Ich bin fest entschlossen, ein zweites Mal zu heiraten.

Vernunft: Wenn dich die erste Hochzeit nicht gezügelt und weise gemacht hat, dann magst du eine zweite feiern, und wenn es dieser nicht gelingt, auch eine dritte.

Freude: Ich will aber ein zweites Mal heiraten.

Vernunft: Wer aus der ersten Ehe Kinder hat und dafür eine Stiefmutter bekommt, setzt sein Haus mit eigenen Händen in Brand. Wenn dich jugendliche Liebe oder die zutiefst verwerfliche Geilheit des Alters drängt, wäre wohl eine außereheliche Beziehung bequemer, sofern du nur an weltlichen Genuß und nicht an Tugend denkst. Mag es auch Sünde sein und gesetzlich verboten, aber es vermeidet, deinen friedlichen Haushalt mit der Feindseligkeit einer Stiefmutter in ein Schlachtfeld zu verwandeln. Vespasian, ein sehr weiser Herrscher, tat dies zugunsten seiner Söhne Titus und Domitian, und später auch Stefano Colonna, der noch heute unter den Fürsten großes Ansehen genießt.

Freude: Ich habe trotzdem vor, ein zweites Mal zu heiraten.

Vernunft: Nach den Gesetzen der Menschen kannst du das tun. Nach dem göttlichen Gesetz wird eine zweite Hochzeit mehr geduldet als gelobt. Jeder weiß, was der Apostel Paulus davon hält:
Den Ledigen und Witwen sage ich: Es ist gut für sie, wenn sie bleiben wie ich. Wenn sie sich aber nicht enthalten können, sollen sie heiraten; denn es ist besser, zu heiraten, als in Begierde zu brennen. Den Verheirateten aber gebiete ich - nein, nicht ich, sondern der Herr -, daß die Frau sich nicht von ihrem Manne scheiden lassen soll - hat sie sich aber scheiden lassen, soll sie ohne Ehe bleiben oder sich mit ihrem Mann versöhnen - und daß der Mann seine Frau nicht fortschicken soll. (1. Korinther 7.8)

Man muß hier auch daran denken, daß selbst unter Heiden mit weniger strengen Gewohnheiten eine zweite Hochzeit eher geduldet als erlaubt war. Auch deine Vorfahren haben die mehrfache Heirat zwar für rechtmäßig, aber auch für unmäßig gehalten. Hieronymus teilte diese Meinung und schrieb viel gegen eine zweite Hochzeit, was ich wegen der versprochenen Kürze hier nicht wiederholen möchte. Alle seine Worte schienen sich gegen das weibliche Geschlecht zu richten, das sich vor allem der Keuschheit und Zügelung widmen sollte, während das Männliche mehr nach Weisheit und Beständigkeit streben müsse.

Freude: Ich muß aber ein zweites Mal heiraten.

Vernunft: Wen ich die seltsamen Gewohnheiten der Menschen nicht kennen würde, wäre ich überrascht, daß du nicht nur übermäßige, sondern auch schädliche Dinge für notwendig hältst. Du bist sogar noch härter gegen dich selbst, weil du die Notwendigkeit einer zweiten Frau siehst, die dich einschränkt und bindet.

Freude: Ich stürze mich gern in eine zweite Ehe.

Vernunft: Wohlan, beeile dich, solange das Feuer deiner Leidenschaft brennt! Wenn es abkühlt, wird es dir leid tun. Hast du noch nicht bemerkt, wie gut es ist, allein in einem Bett zu schlafen? Doch du gedenkst nur dem unreinen Genuß der Leidenschaft, der schnell vergänglich ist, aber langwieriges Leiden bringt.

Petrarcameister - Von der zweiten Hochzeit

Selbstverständlich ist der Philosoph der „Vernunft“ mit dem Entschluß der „Freude“ nicht einverstanden. Der Petrarca-Meister moralisiert nicht in seinem Bilde, sondern stellt lediglich dar. Er schildert die Vermählung vor dem Brautportal der Kirche, ähnlich wie in seinem Bilde zum Kapitel 1.65. Nur fehlen diesmal die Musikanten, dagegen sind die Nonnen wieder zur Stelle. Auf dem Friedhof neben der Kirche wird die erste Frau begraben. Diese Darstellung ist wohl zur Klärung des Sachverhaltes der zweiten Ehe gedacht, nicht aber sollte ein Vorwurf wegen unziemlicher Hast ausgesprochen werden. Heirat zur Zeit des Begräbnisses wäre ohnedies unmöglich gewesen.

Höchst befremdlich bleibt an dieser Darstellung, daß der Leichnam ohne Sarg, nur in Tücher gebunden, von dem Totengräber in die offene Grube gelegt wird. Auch in der Darstellung zum Tode der Ehefrau, später im Kapitel 2.18, liegt die Frau ohne Sarg auf der Bahre. Trotzdem steht fest, daß es zur Zeit des Petrarca-Meisters durchaus Brauch war, die Toten im Sarg beizusetzen. Da zudem im Text des Petrarca keine Vergleiche aus Sage oder Geschichte gegeben sind, die zur Darstellung einer Art von „heidnischer“ Beisetzung hätten führen können, ist vorerst die Frage nach dem Sinn dieser Darstellungsform nicht zu beantworten.

Soweit beschreibt Walther Scheidig dieses Bild. Die Unauflöslichkeit einer Ehe war auch schon damals in der katholischen Kirche ein wichtiges Gebot, das natürlich aus weltlicher Sicht sehr schwer zu verstehen ist. Der oben erwähnte Kirchenvater Hieronymus schreibt dazu:
Der Verzicht auf die zweite Ehe ist nicht allein heroische Tat, die sich in guter römischer Tradition bewegt, es ist nicht nur Vermeidung eines unangenehmen Lebens mit zu schwierigen praktischen Aufgaben oder Vermeidung von Nachteilen für mögliche Kinder. Nein: Der Verzicht auf die zweite Ehe ist letztlich die notwendige Handlung angesichts der Vergänglichkeit des Menschen, um das ewige Leben zu erlangen. (Quelle: Hieronymus als Briefschreiber, Barbara Conring)

Hier geht es natürlich auch um das große Problem, das Männliche und Weibliche bzw. Geist und Natur nicht weiter voneinander zu trennen, sondern im Laufe des Lebens miteinander im ganzheitlichen Sinne zu vereinen, zuerst körperlich und dann vor allem geistig. Im letzten Bild haben wir bereits gesehen, wie durch diese Vereinigung die Gegensätze von Geist und Körper verschwinden und nur noch das reine Bewußtsein übrigbleibt. So könnte man in diesem Bild auch die große mystische bzw. geistige Hochzeit sehen. Im Unterschied zum Bild aus Kapitel 1.65 fehlen hier die lauten Musikanten, die Sinne schweigen auf beiden Seiten und scheinen mit ihrer Gestik diese Hochzeit zu segnen. Es gibt nur noch eine Kerze hinter dem Bischof, die nun an den Heiligen Geist mit der ganzheitlichen Liebe erinnert. Der Bischof selbst ist in einfache Kleider gehüllt, denn dieser Weg ist ein Weg der Einfachheit, Einfalt, Einsicht und Einheit. Dazu trägt er auch mehr die Mütze eines Philosophen, denn wie „Philosophie“ ursprünglich „Liebe zur Weisheit“ bedeutet, so ist diese geistige Hochzeit ein wesentlicher Erkenntnisprozeß der ganzheitlichen Weisheit. Im Hintergrund sieht man ein großes Hochzeitsgefolge, das sich weit ins Innere der Kirche erstreckt. Auch das könnte ein Symbol für die ganzheitliche Verbindung dieser Hochzeit sein, die sich nicht nur über alle Menschen, sondern über alle Lebewesen und sogar über die ganze Welt erstreckt. Deshalb geschieht auch diese geistige Hochzeit nur aus weltlicher Sicht außerhalb der Kirche. Aus geistiger Sicht wird die ganze Welt zum Inneren der Kirche, zu einem heiligen Ort der göttlichen Schöpfung.

So kehrt sich aus geistiger Sicht wieder vieles um, weshalb Walther Scheidig aus weltlicher Sicht auch nicht glauben konnte, daß Heirat und Begräbnis zur gleichen Zeit möglich sind. Doch schon die Bibel sagt: „Was bei Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich. (Lukas 18,27)“. So würden wir vermuten, daß die rechte Szene des Bildes wirklich gleichzeitig zu dieser zweiten bzw. geistigen Hochzeit gemeint ist. Denn dort sieht man, wie sich die männlichen und weiblichen Wesen der Sinne zusammen finden und vermischen, die sich auf der linken Seite der Hochzeit noch gegenüber stehen. Damit verschwindet unsere gewöhnliche Vorstellung von Subjekt und Objekt oder Seher und Sichtbares. Zwischen ihnen stehen noch drei weitere Gestalten, die vielleicht an die drei Seelenkraft erinnern, die nun auch eine Gemeinschaft bilden und nicht mehr auseinanderstreben. Und vor ihnen geschieht nun die Kernaussage dieses Bildes, daß nämlich der „Totengräber den Leichnam der Ehefrau ohne Sarg, nur in Tücher gebunden, in die offene Grube legt“.

Über diese Bedeutung kann man sicherlich viel und tief nachdenken. Wir würden vermuten, daß der Totengräber niemand anderes ist, als der Ehemann selbst, der Geist, der die äußere Form der Natur begräbt und der Mutter Erde im ganzheitlichen Sinne zurückgibt, oder wie es gewöhnlich zu Begräbnissen heißt: „Erde zu Erde, Asche zur Asche, Staub zum Staube.“ Das ist der wahre „Totengräber“, weil er durch das Aufgeben der Anhaftung den Tod selbst begräbt. Denn in dieser geistigen Hochzeit geht es nicht darum, nach einer besonders angenehmen körperlichen Form oder einem angenehmen geistigen Zustand zu streben, sondern über alle Namen und Formen hinauszukommen, zum ewigen Leben. Denn solange das Bewußtsein an vergänglichen Namen oder Formen geistig oder körperlich anhaftet, wird es natürlich der Vergänglichkeit und dem Tod begegnen müssen.

Für diesen Weg sieht man auch rechts im Bild sieben Stufen durch zwei dicke Mauern, die uns an die sieben Stationen aus dem Bild von Kapitel 1.73 erinnern, und verschiedene Werkzeuge, die auf diesem Erkenntnis-Weg nützlich sind. Ähnlich sieht man auch die Kirche von sieben Pfeilern gestützt und im Hintergrund ein Portal mit zwei gegensätzlichen Bögen. Im Ganzen eine wunderbar gezeichnete Symbolik, die dem Betrachter sicherlich noch viele Geheimnisse offenbaren kann...

Ähnlich spricht auch Meister Eckhart:
Der Mensch, der so in Gottes Liebe steht, der soll sich selbst und allen geschaffenen Dingen tot sein, so daß er seiner selbst so wenig achtet wie eines, der über tausend Meilen entfernt ist. Ein solcher Mensch bleibt in der Gleichheit und bleibt in der Einheit und bleibt völlig gleich; in ihn fällt keine Ungleichheit. Dieser Mensch muß sich selbst und diese ganze Welt gelassen haben. Gäb‘ s einen Menschen, dem diese ganze Welt gehörte, und er ließe sie um Gottes willen so bloß, wie er sie empfing, dem würde unser Herr diese ganze Welt zurückgeben und das ewige Leben dazu. Und gäb‘s einen andern Menschen, der nichts als einen guten Willen besäße, und der dächte: Herr, wäre diese Welt mein und hätte ich dann noch eine Welt und noch eine - das wären ihrer drei - und er begehrte: Herr, ich will diese lassen und mich selbst ebenso bloß, wie ich‘s von dir empfangen habe, - dem Menschen gäbe Gott ebenso viel wie (dann), wenn er es alles mit seiner Hand weggegeben hätte. Ein anderer Mensch (aber), der gar nichts Körperliches oder Geistiges hätte zum Lassen oder Hergeben, der würde am allermeisten lassen. Wer sich gänzlich (nur) einen Augenblick ließe, dem würde alles gegeben. Wäre dagegen ein Mensch zwanzig Jahre lang gelassen und nähme sich selbst auch nur einen Augenblick zurück, so ward er noch nie gelassen. Der Mensch, der gelassen hat und gelassen ist und der niemals mehr nur einen Augenblick auf das sieht, was er gelassen hat, und beständig bleibt, unbewegt in sich selbst und unwandelbar, - der Mensch allein ist gelassen. Daß wir so beständig bleiben und unwandelbar wie der ewige Vater, dazu helfe uns Gott und die ewige Weisheit. Amen. (Predigt 13)

1.77. Vom Verheiraten der Kinder

Freude: Ich werde durch das Verheiraten meiner Kinder meinen Stamm erhalten.

Vernunft: Diese Sorge ist zumindest etwas ehrlicher als die vorherige. Denn es ist oft nützlicher, die Weintrauben zu pflegen, als das sprießende Weinlaub. Denn die Trauben füllen das Faß mit süßem Wein, das sprießende Laub macht nur bittere Mühe und Sorge.

Freude: Ich habe meine Tochter glücklich verheiratet.

Vernunft: Hast du das glücklicherweise mit Vernunft getan, dann hast du deine Tochter erhalten und einen Sohn gewonnen, und wie ich bereits sagte, sogar einen besseren Sohn als deinen leiblichen. Andernfalls hast du sie verloren und einen Feind sowie einen Tyrannen für deine Tochter gefunden.

Freude: Ich habe meine Tochter einem Ehemann gegeben.

Vernunft: War es eine gute Tochter, hast du ein wertvolles Gut verloren und einem anderen Haus geschenkt. War sie schlecht, dann hast du eine schwere Last verloren und sie einem anderen Mann aufgebürdet.

Freude: Ich freue mich, für meine Tochter einen Ehemann gefunden zu haben.

Vernunft: Freue dich nicht zu sehr, denn für viele war die Ehe der Beginn eines unruhigen und unglücklichen Lebens. Selbst wenn alles gut geht, bleibt doch die Ehe eine schwierige Herausforderung, und du hast deine geliebte Tochter auf einen Weg der Mühe und Not geschickt. Bringt sie Kinder zur Welt, werden damit neue Sorgen geboren. Ohne Kinder, wird sie traurig leben. So wird Fruchtbarkeit zur Last, und Unfruchtbarkeit gehaßt. Vielleicht wäre sie lieber bei dir geblieben und freut sich gar nicht so sehr wie du, einen Ehemann gefunden zu haben.

Freude: Ich habe aber einen Ehemann für meine Tochter gefunden.

Vernunft: Das Ende eines ruhigen Lebens und der Beginn eines unruhigen Lebens voll schwerwiegender Verantwortung, das den Wirrnissen der Welt und ihren Folgen ausgesetzt ist.

Freude: Meine Tochter hat einen Ehemann gewonnen.

Vernunft: Und ihre Freiheit, Jungfräulichkeit und Freizeit verloren, was wohl kein fairer Handel war.

Freude: Ich habe auch eine Frau für meinen Sohn gefunden.

Vernunft: Es ist wohl schlimmer, eine Schwiegertochter in dein Haus zu holen, als deine eigene Tochter gehen zu lassen, wie auch innere Probleme immer gefährlicher sind als äußere. Du hast damit die Tore deiner Burg für eine Mitstreiterin oder sogar Feindin geöffnet und bist nicht länger Herr im Hause. Daher ist es ratsam zu erkennen, wer da eintritt.

Freude: Ich habe meinem Sohn eine hochgeborene, reiche und schöne Frau besorgt.

Vernunft: Warum denkst du nicht an die Folgen, daß sie auch stolz, geizig und eifersüchtig sein und dein Leben mißachten wird? Es gibt einen uralten Konflikt zwischen Schwiegervater und Schwiegertochter, in dem der Schwiegervater nicht den größeren Vorteil, sondern den größeren Grund zur Furcht hat, obwohl beide Köpfe die gleichen Ziele verfolgen. Denn kein Lebewesen ist so sehr auf die Herrschaft im Hause bedacht, wie eine Frau. Wenn sie merkt, daß ihr dies verweigert wird, solange du lebst, wird es nicht schwierig zu erraten sein, was sie im Kopf trägt und wofür sie betet.

Freude: Ich habe eine gute Frau für meinen Sohn gefunden.

Vernunft: Woher weißt du, daß sie ihm und dir kein ewiges Ärgernis wird und eine verhüllte Gefahr für euch beide ist? Viele Frauen haben schon ihre Ehemänner und Schwiegerväter mit verächtlicher Arroganz niedergemacht, manche sogar mit Gift oder dem Messer. Wie viele Söhne hatte Aegyptus (bzw. Aigisthos), bevor er Schwiegertöchter bekam?! Es gab auch eine Frau in der Geschichte, die so eigenmächtig und ungeduldig herrschen und nicht die zweite Geige spielen wollte, daß sie den Tod ihres eigenen Vaters (Servius Tullius) verursachte und noch mit dem Wagen über die Leiche fuhr. Und das alles nur deshalb, damit sie (Tullia) und ihr Mann (Tarquinius) etwas früher auf den Thron steigen konnten. Wenn dies der Lohn für einen Vater war, was können die Schwiegerväter erwarten?

Freude: Ich bin zumindest froh, daß ich die Hochzeit meiner Tochter gefeiert habe.

Vernunft: Wie oft wurde diese Feier durch unglückliche Ereignisse getrübt, und auf die fröhlichen Lieder, Schlemmereien und Tänze folgten Traurigkeit, Schmerzen und Wirrnisse? Maßlose Freude ist töricht, besonders über Wege, die eigentlich Anlaß zur Trauer geben.

Freude: Ich bin trotzdem erleichtert, Tochter und Sohn verheiratet zu haben.

Vernunft: Du hast nur Lasten ausgetauscht, deine alten Sorgen auf die Schultern eines anderen geladen, und eine neue illusorische Last auf deine Schultern.

Petrarcameister - Vom Verheiraten der Kinder

Mit dem Wunsch der „Freude“ nach der Erhaltung des Stammes durch die Verheiratung der Kinder wiederholt sich hier der Sachverhalt von Kapitel 1.75 über die guten Schwiegersöhne, und der Petrarca-Meister mußte wiederum Eheschließungen zeichnen. Die beiden Verlöbnisse rechts und links sind nicht gegensätzlich behandelt, beide verlaufen glücklich. Rechts vermählt sich eine bekränzte Jungfrau mit einem reich gekleideten Mann, der sein Barett in der Hand hält. Das Spiel der Hände bei der Vermählung ist nicht deutlich. In der Umgebung sind Männer und Frauen, auch eine Nonne, und es werden viele erhobene Hände sichtbar. Links gibt ein Greis die Hände einer Königin und eines Jünglings zusammen. Auch hier sind Männer und Frauen in der Umgebung, die die Hände erhoben haben. Ein Edelknabe trägt die Schleppe der Königin. Hinter dem Edelknaben steht „der Weise“, der mit einem Gelehrten über die Heiratsfrage disputiert.

Die Halle öffnet sich nach rückwärts gegen die freie Landschaft. Dort ist ein reicher Hochzeitswagen sichtbar, der genau den bekannten Fahrzeugen des frühen 16. Jahrhunderts entspricht. In ihm sitzt allein eine junge Frau. Ein König wird von dem Wagen überfahren, ein Ritter mit gezogenem Schwert steht bei ihm... Petrarcas Text spricht diesbezüglich über die Sage von Tullia, des römischen Königs Servius Tullius Tochter, die ihren Mann veranlaßte, ihren Vater vom Thron zu stürzen und töten zu lassen, und sich in der Hast, ihren Mann als neuen König begrüßen zu können, nicht scheute, über den Leichnam ihres Vaters zu fahren.

Soweit beschreibt Walther Scheidig dieses Bild. Das eigene Leben durch die Stammeslinie der Kinder fortzusetzen, ist eine übliche Vorstellung aus weltlicher Sicht, die hier natürlich von der „Freude“ vertreten wird. Dies ist im Grunde nicht falsch, doch sollte man sich nicht nur in allen Nachkommen erkennen, sondern auch in allen Vorfahren, damit das abtrennende und blasenbildende Ichbewußtsein zu einem ganzheitlichen Selbstbewußtsein wird und sich die weitsichtige Vernunft entwickelt, von der Petrarca im Text spricht. Dazu sieht man im Bild einen hochgezogenen Vorhang, der die Sicht durch ein großes Fenster aus der massiv gezeichneten Halle in Vergangenheit und Zukunft eröffnet. Mit dieser Weitsicht sieht die Vernunft, daß die Verbindung zwischen Sohn und Schwiegertochter bzw. männlichem Geist und weiblicher Natur als Herrscherin, wie sie auf der linken Seite des Bildes dargestellt wird, viele Sorgen, Illusionen und Leiden bringt. Entsprechend sieht man auf der rechten Seite, wie auch die Verbindung zwischen Tochter und Schwiegersohn bzw. der reinen Natur mit einem gierigen Ichbewußtsein ähnliche Probleme bringt. Im Hintergrund der beiden Paare, die die Vernunft als Vater vereinigen sollte, stehen jeweils fünf Gestalten, die an die fünf Sinne mit dem Sinnesbewußtsein erinnern und vermutlich diese Verbindung mit erhobenen Händen begrüßen.

Im Hintergrund des Bildes sieht die Vernunft durch das große Fenster in die Vergangenheit und Zukunft, wie die herrschsüchtige Natur mit dem körperlichen Wagen zusammen mit dem gierigen Ichbewußtsein die ganzheitliche Vernunft töten und überrollen wird. Aus geistiger Perspektive erinnert dieses Töten und Überrollen an das Verhüllen der reinen Vernunft bzw. des Selbstbewußtseins durch die illusionären Schichten des Ichbewußtseins, Sinnesbewußtseins und Körperbewußtseins bis zum Materiebewußtsein.

So war es schon immer eine große Frage, die von den Gelehrten und Weisen diskutiert wurde, wie weit man nach dem Erwachen der ganzheitlichen Vernunft noch in der Welt wirken sollte, und wie weit man seine Kinder oder auch andere Menschen auf den Weg der Weltentsagung führen sollte. Schickt man sie in ein Kloster direkt auf den geistigen Weg, oder führt man sie auf den weltlichen Weg, wo sie im Wechselspiel von Glück und Leid ihre eigenen Erfahrungen machen müssen? Das ist vielleicht auch die Frage, die der Weise und der Gelehrte im Zentrum dieses Bildes angesichts des Knaben diskutieren, der das Hochzeitskleid von Mutter Natur trägt. Denn in diesem unschuldigen Kind können wir das reine Bewußtsein als Träger der äußeren Formen der Natur sehen.

Dieses große Thema wird vermutlich auch in der biblischen Geschichte von Abraham behandelt, als er seinen Sohn Isaak opfern sollte. Denn nicht umsonst sprach Gott, als er den Menschen in Form von Mann und Weib erschaffen hatte: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllt die Erde und macht sie euch untertan...“ (1.Moses 1-28) Auch in den vedischen Geschichten spielt die Frage der weltlichen Fruchtbarkeit und geschlechtlichen Fortpflanzung eine bedeutende Rolle, um die Schöpfung zu entfalten und zu erhalten, wie zum Beispiel in der Beschreibung der Nachkommen von Daksha im Harivamsha-Purana Kapitel 1.3.

1.78. Von den Enkeln

Freude: Mein Sohn hat mir ein liebes Enkelkind geschenkt.

Vernunft: Die Liebe zu den eigenen Kindern mag besonders groß sein, ebenso die Last der Sorge um sie. Aber dies sollte auch die Grenze sein. Wer darüber hinausgeht, wird kein Maß der Sorge mehr finden für all die Kinder, die von deinen Kindern und von ihren Kindern geboren werden. Ihre Sorgen werden dir über den Kopf zu großer Qual wachsen. Du weißt ja, wie groß ihre Zahl werden kann. Hätte der Vater des israelischen Volkes wie du gefühlt, wie groß wäre die Last der Sorgen auf den Schultern des müden alten Mannes geworden? Denn neben all den Frauen, Kindern, Priestern und Unbewaffneten waren innerhalb weniger Jahrhunderte mehr als 600.000 Krieger aus seinem Blut entsprungen. So geh nun, und rühme dich der Armee deiner Nachkommen! Unter ihnen gibt es vielleicht ein paar Glückliche inmitten einer unzähligen Schar von Leidenden.

Wenn du schon die Nachkommen liebst, dann darfst du nicht nur deine Kinder und Enkelkinder lieben, sondern praktisch alle Menschen. Ich sage, du sollst sie lieben für Ihn, den Großen Vater, in dem sie alle Brüder sind. Dort liebe sie, ohne dich in maßloser Sorge oder Freude zu verlieren, damit du es nicht bereuen und dich deiner Freude schämen mußt, wenn du von dem Mann zutiefst enttäuscht wirst, den du als Knaben übermäßig geliebt hast, was oft im Leben geschieht.

Freude: Ich bin glücklich über mein liebliches Enkelkind.

Vernunft: Was ist, wenn sich dieser Tag, den du jetzt als glücklich betrachtest, als unglücklich herausstellt? Vielleicht wegen der Bosheit des Kindes oder der Macht des Schicksals? Was ist, wenn das Kind bald stirbt und dir mehr Trauer als Freude bringt? Es gibt Vieles in der Natur was plötzlich und unerwartet den Erwachsenen genauso passieren kann, wie es schon so vielen Kleinkindern geschehen ist. Wenn alle, die geboren werden, auch überleben sollten, könnte die Erde die Überlast der Menschen bald nicht mehr ertragen. Und mit „überleben“ meine ich nicht das ewige Leben, sondern das weltliche bis ins hohe Alter oder vielleicht auch nur bis zur fruchtbaren Reife. Daher ist es einfach nur dumm, sich über etwas zu freuen, das so ungewiß ist. Dies gilt für Kinder und Enkelkinder, aber mehr noch für Enkel und vor allem Urenkel, weil diese noch weiter von deiner Zeugung entfernt sind.

Freude: Ich habe auch Enkelkinder von meiner Tochter sowie von Neffen und Nichten.

Vernunft: Diese gehören dir noch weniger. So überlaß die Freuden und Sorgen ihren Eltern.

Freude: Ich liebe auch den Neffen meines Bruders.

Vernunft: Lucan, ein Neffe von Annaeus Seneca, war ein durchaus talentierter Dichter mit spanischer Beredsamkeit. Dagegen war Jugurtha, der Neffe von Micipsa, dem König von Numidien, zwar nicht das oberste Beispiel für libyschen Verrat, aber der Zerstörer seines Landes und Mörder seiner Brüder.

Freude: Ich liebe auch den Neffen meiner Schwester.

Vernunft: Speusippus war ein Neffe Platons auf Seiten seiner Schwester und in gewisser Weise ein Erbe Platons Philosophie. Doch Alcibiades, der für Perikles ein Neffe war, verursachte in seinem Land Unruhen und stiftete die Kriege in Griechenland an. Brutus, Neffe des Königs Tarquinius Superbus, den er vom königlichen Thron vertrieb, war ein großer Mann, ein Segen für sein Land, aber gegen seinen Onkel.

Freude: Und das Enkelkind meiner Tochter?

Vernunft: Pacuvius, ein gemäßigter ernster Mann, war ein Enkel von Ennius, wurde von dessen Tochter geboren und war sein Nachkomme in der Poesie. Dagegen war Commodus, der Enkel von Antoninus Pius, einer der schamlosesten und unseriösesten Männer.

Freude: Meine Tochter hat mir aber ein gutes Enkelkind geboren.

Vernunft: Romulus und Remus, die töchterlichen Enkel von Numitor, haben ihren Großvater in sein Königreich zurückgebracht. Ancus Marcius, der töchterliche Enkel von Numa, bewahrte das römische Königreich seines Großvaters in großem Ruhm. Cyrus, der töchterliche Enkel von Astyages, stürzte den Vater seiner Mutter vom medischen Thron. All diese Geschichten illustrieren die Geburt von Enkelkindern, die sowohl Grund zur Hoffnung als auch Grund zur Angst geben.

Petrarcameister - Von den Enkeln

Der Text von Petrarca fährt in dem gänzlich familienfeindlichen Ton fort, den er schon mit seinen Bedenken gegen Heirat, Kinder, Frauen und Schwiegersöhne angeschlagen hatte. Der Petrarca-Meister geht völlig eigene Wege in seiner Illustrierung, zu denen vielleicht Brant mit einem Hinweis auf eine Textstelle Anregung gegeben hatte: „Man soll nicht allein die Kinder und Enkel, sondern auch gänzlich alle Menschen liebhaben. Ich sage liebhaben in dem, in welchem ihr alle Brüder seid.“ Das ist für den Künstler Anlaß genug, den ersten brüderlichen Zustand der Menschen zu schildern zur Zeit „als Adam hackte und Eva spann“. Die erste Familie ist am Waldrand beisammen: Adam, Eva und eine junge Frau mit einem Säugling an der Brust, sowie ein junger Mann, der Adam sein Enkelkind bringt. Die dargestellten kleinen Kinder sind nackt oder mit umgebundenen Fellen bekleidet. Links lehrt ein älteres Kind ein jüngeres laufen. Rechts stehen ein halbwüchsiges Mädchen und ein Junge, der Junge mit einem zahmen Vogel auf der Hand. Es ist ein überraschender Gedanke, den der Künstler so schön mit dem romantischen Waldesdickicht und den märchenhaften Gestalten der ersten Menschen ausgesprochen hat. Er zeugt, von welchen Eltern und Großeltern her alle Menschen sich verwandt fühlen sollten.

Zugleich aber lag in dieser Darstellung auch ein revolutionärer Anruf. Die Bauern auf dem Lande, die Weber in den Städten, besonders in Augsburg um 1517, als dort das Buch entstand, waren die Träger der revolutionären Strömungen. Ihre Arbeit wurde hier gemeinsam mit Liebe und Ehestand als der wahren Grundlage des reinen, echten Menschentums an die Bürger herangetragen, für die das Buch bestimmt war. Ob dabei Erinnerungen an John Balls revolutionäre Predigten von 1381 mitspielten, der mit dem Adamsspruch die Bauern zur Empörung in England aufrief, oder ob „Der Ackermann aus Böhmen“ von Johannes Pflug von Rabenstein in Erinnerung des Petrarca-Meisters war, läßt sich nicht sicher sagen. Der revolutionäre Anruf des Bildes wird jedenfalls um so eher verstanden worden sein, als „Adam“ in fast allen ketzerischen Bewegungen des 14. und 15. Jahrhunderts besonders verehrt worden ist und die Wiederherstellung „adamitischer“ Zustände das Bestreben mancher dieser Sekten war.

Soweit beschreibt Walther Scheidig dieses Bild, und seine Ansichten sind verständlich, weil in der sozialistischen DDR der dialektische Materialismus vertreten wurde und jede geistorientierte Religion als Opium für das Volk galt. Der altmodisch geistige Aberglaube sollte ausgelöscht werden und die ganze Welt auf den festen Füßen der Naturwissenschaft stehen. Sicherlich hatte man anfangs die große Hoffnung, damit wieder ein Paradies auf Erden zu errichten, ohne Egoismus und gegenseitige Ausbeutung nach den Idealen der Französischen Revolution von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“, ein Land, in dem alle Menschen Brüder sind. Nun, heute wissen wir, daß dies noch nicht der Weg zum Paradies war, und wir fragen uns erstaunt, warum so ein großartiger Denker wie Karl Marx nicht erkennen konnte, daß der materialistische Weg in die völlig verkehrte Richtung führt, den Egoismus verstärkt und die egoistische Diktatur fördert. Und solange der Egoismus herrscht kann es weder Freiheit noch Gleichheit noch Brüderlichkeit unter den Menschen geben. Entsprechend zweifeln wir, ob der Petrarca-Meister diese revolutionäre Idee hier darstellen wollte.

Zumindest zeigt das Bild nicht die Harmonie der Brüderlichkeit, sondern die Gegensätze von Männlich und Weiblich, die als Adam und Eva mit ihren Kindern und Enkelkindern vor dem Hintergrund von Hell und Dunkel in verschiedene Richtungen blicken. Links ist die Sicht frei auf Himmel und Erde, rechts von einem dunklen und dichten Wald eng begrenzt. Betrachten wir wieder die Gegensätze von Männlich und Weiblich bezüglich Geist und Natur, ließe sich das Bild wie folgt interpretieren:
Adam muß sich als Geistwesen mit der irdischen Natur abplagen, und Eva als Naturwesen mit dem Gespinst des Geistes. Er arbeitet und wirkt in der Welt, und sie spinnt den Schicksals- und Lebensfaden. Ihr gemeinsamer Sohn (ganz links) ist das Ichbewußtsein mit dem gegensätzlichen Denken, das die drei Seelenkräfte zeugt, nämlich Voluntas, Intellectus und Memoria im Sinne von Wille, Verstand und Gedächtnis. Der Wille bewegt vielleicht den Verstand, und das väterliche Ichbewußtsein versucht, das Gedächtnis als seine Lebensgeschichte festzuhalten, wie auch die Freude im Text von Petrarca seine Kinder festhalten möchte. Ihre gemeinsame Tochter auf der rechten Seite des Bildes ist die verkörperte Seele, die die fünf Sinne ernährt, die nun wie Kinder im Wald der Welt spielen und die Welt erkunden wollen. Der Wald erscheint dicht und für die Sinne undurchdringlich, so daß sie, wie das Sprichwort sagt „den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“, also das Ganzheitliche vor lauter Einzelheiten nicht erkennen. Die wahre „Brüderlichkeit“ bzw. „Versöhnung“ entsteht natürlich erst, wenn alle Gegensätze von Männlich und Weiblich bzw. Geist und Natur in der großen mystischen Hochzeit vereint werden und nur noch reines Bewußtsein bleibt, sozusagen das Gottesbewußtsein oder die Gottheit selbst. Darüber haben wir bereits im Kapitel 1.75 gesprochen.

Zur Symbolik des Ackermanns bzw. Ackerer erklärt auch Meister Eckhart:
Man soll fürderhin wissen, daß Sankt Hieronymus und auch die Meister gemeinhin sagen, ein jeglicher Mensch habe von Anbeginn seines menschlichen Daseins an einen guten Geist, einen Engel (Vernunft), und einen bösen Geist, einen Teufel (Egoismus). Der gute Engel rät und treibt beständig an zu dem, was gut ist, was göttlich ist, was Tugend und himmlisch und ewig ist. Der böse Geist rät und treibt den Menschen allzeit hin zu dem, was zeitlich und vergänglich ist und was Untugend, böse und teuflisch ist. Derselbe böse Geist hält beständig Zwiesprache mit dem äußeren Menschen, und durch ihn stellt er heimlich allzeit dem inneren Menschen nach, ganz so wie die Schlange mit Frau Eva plauderte und durch sie mit dem Manne Adam. Der innere Mensch ist Adam... Vom Adel des inneren Menschen, des Geistes, und vom Unwert des äußeren Menschen, des Fleisches, sagen auch die heidnischen Meister Tullius und Seneca: Keine vernunftbegabte Seele ist ohne Gott; der Same Gottes ist in uns. Hätte er einen guten, weisen und fleißigen Ackerer, so würde er um so besser gedeihen und wüchse auf zu Gott, dessen Same er ist, und die Frucht würde gleich der Natur Gottes. Birnbaums Same erwächst zum Birnbaum, Nußbaums Same zum Nußbaum, Same Gottes zu Gott. Ist‘s aber so, daß der gute Same einen törichten und bösen Ackerer hat, so wächst Unkraut und bedeckt und verdrängt den guten Samen, so daß er nicht ans Licht kommt noch auswachsen kann. Doch spricht Origenes, ein großer Meister: Da Gott selbst diesen Samen eingesät und eingedrückt und eingeboren hat, so kann er wohl bedeckt und verborgen und doch niemals vertilgt noch in sich ausgelöscht werden; er glüht und glänzt, leuchtet und brennt und neigt sich ohne Unterlaß zu Gott hin. (Traktat vom edlen Menschen)

Man berichtet auch (in einem Buch von 1840) über Kaiser Maximilianus, dem so ein „Revolutionär“ an die Wand schrieb:

Als Adam hackte und Eva spann,
Wer war denn da der Edelmann?

Und der fromme Kaiser schrieb darunter:

Ich bin ein Mann, wie ein anderer Mann,
Nur daß mir Gott die Ehre gann (gönnte).

Nun, nicht umsonst wurden Adam und Eva aus dem Paradies getrieben. Solange der Egoismus im Menschen herrscht, benötigt er eine entsprechende Gegenkraft zur Zügelung. Und so erklärt auch dieses Buch von 1840: Es sind nämlich die Obrigkeiten zu nichts Geringerem eingesetzt, denn daß sie im Namen Gottes auf Erden der Gerechtigkeit walten. Darum ist ihnen ein Schwert in die Hand gegeben, und sie sind mit viel größerer Macht bekleidet, weil bei dem, der ein Beschützer der Unschuld und ein Rächer des Bösen sein soll, nicht genug ist, daß er bloß in der einen Hand das Gesetzbuch halte, sondern er muß schlechterdings auch das Schwert in der andern tragen.

1.79. Von adoptierten Kindern

Freude: Ich habe einen Sohn adoptiert.

Vernunft: Die Adoption bzw. das Annehmen ist ein Dienst an der Natur. Je edler die Natur, desto besser ihre Annahme. Was die Natur ohne eigenen Einfluß bewirkt, entsteht sozusagen durch Zufall. Was man von ihr annimmt, geschieht durch das eigene Urteil des Annehmenden.

Freude: Ich habe einen guten Sohn angenommen.

Vernunft: Das hoffe ich, denn wenn du bei der Annahme nachlässig warst, kann deine Wahl nicht so entschuldigt werden, wie bei der leiblichen Zeugung. Du kannst die Schuld weder deiner Frau noch dem Schicksal geben.

Freude: Deshalb habe ich einen guten Sohn adoptiert.

Vernunft: Dies ist eine erlaubte Alternative zur Gerechtigkeit der Natur, die viele als nützlich, viele aber auch als leidvoll empfunden haben. Kaiser Nerva adoptierte einen guten Sohn namens Trajan. Ich weiß aber auch, daß einige Historiker der Meinung sind, daß diese Wahl nicht sehr glücklich war. Sogar Kaiser Augustus, der seinen Enkelsohn Agrippa adoptierte, täuschte sich offenbar in ihm, denn bald darauf wurde er verleugnet. Doch ich denke, als er seinen Stiefsohn Tiberius adoptierte, hatte er eine gute Wahl für seinen Nachfolger getroffen. Anderseits gab es auch Micipsa, von dem ich schon gesprochen habe, der durch seinen Adoptivsohn äußerst unglücklich wurde und für seine leiblichen Söhne eine tödliche Schlange ins Haus geholt hatte, aber selbst noch auf dem Sterbebett seine leiblichen Söhne über die Güte des Adoptivsohns belehrte, um seinen Fehler nicht einzugestehen. Oft werden jedoch bessere Söhne adoptiert als selbst gezeugt. Das ist auch nicht überraschend, weil die Adoption mit Prüfung und Vernunft erfolgt, während die Zeugung unter Leidenschaft geschieht. Trotzdem geschieht auch das Gegenteil, und die Adoptierten sind nicht nur schlecht, sondern die Schlimmsten von allem. Denn jeder Mensch hat ein dunkles und schwer erkennbares Wesen.

Freude: Und ein guter Stiefsohn?

Vernunft: Ein guter Stiefsohn ist selten, und noch seltener ein guter Stiefvater.

Freude: Ich habe aber einen guten Stiefsohn.

Vernunft: Worin liegt der Nutzen, wenn er gut ist? Bist du vielleicht der Verwalter des Nachlasses seiner Mutter? Oder erkennst du in der Tugend dieses Kindes eines anderen Mannes die Untugend deiner leiblichen Kinder?

Freude: Ich habe einen vorzüglichen und hingebungsvollen Stiefsohn, der meinen eigenen Kindern gleicht.

Vernunft: Dies ist in der Tat möglich. Kaiser Augustus hatte einen solchen in Drusus, aber nicht Kaiser Claudius in Nero.

Petrarcameister - Von adoptierten Kindern

Nur aus der römischen Geschichte ist der Ausspruch der „Freude“: „Ich habe einen Sohn adoptiert“ verständlich. Der Zeit des Petrarcas und Petrarca-Meisters war die Sitte der Kindesannahme um der Gewinnung ausgewählter Erben willen fremd. So konnten auch Brant und der Illustrator aus eigenem Erleben keine sinnfällige bildliche Darstellung geben. In dem zweiteiligen Bild ist in der rechten Hälfte der rechtliche Akt der Kindesannahme vor dem Richter und den beiden Beisitzern dargestellt. Der Richter, mit dem Stab als Zeichen seines Amtes in der Hand, übergibt dem Vater die doppeltgesiegelte Urkunde über die Kindesannahme. Der Vater hat den Adoptivsohn an der Hand und zeigt ihn dem Richter und den Beisitzern.

Petrarca hat die Meinung ausgesprochen, daß angenommene Kinder oft besser als eigene seien, weil sie mit Vernunft gewählt und nicht blind gezeugt sind. Demgegenüber hat Sebastian Brant (bzw. der Petrarca-Meister) aus dem von Petrarca im Text gegebenen historischen Beispielen eines gewählt, das dieser Behauptung widerspricht. Der Römer Micipsa von Numidien hat Jugurtha als Sohn angenommen, vererbt ihm sein Reich und enterbt seine leiblichen Kinder. Der Petrarca-Meister stellt dar, wie der König auf dem Sterbebett Jugurtha die Krone aufsetzt, indessen seine eigenen Kinder sich mit Gebärden der Verachtung von dem angenommenen Bruder abwenden. Mit der Strichführung hat der Künstler betont, daß er das Geschehen, wie es rechts vor Gericht dargestellt ist, für ein harmonisches hält, während links naturwidrige Willkür auch in der Disharmonie der Linien und im erregtem Faltenspiel ihren Ausdruck findet. Die unklare Sitzhaltung von Jugurtha ist eine Schwäche des Blattes.

So beschreibt der Kunsthistoriker das Bild. Aus geistiger Sicht können wir hier wieder einen Blick in das Innere unseres körperlichen Raumes wagen. Auf der linken Seite erscheint uns eine kranke und kraftlose Vernunft auf dem Sterbebett, die das stolze Ichbewußtsein mit einer übermäßigen Krone zum König krönt, das sich nun mit dem Schwert der Gewalt und „Abtrennung“ gegen alle Konkurrenten und seine eigenen Brüder behaupten will. Auf der rechten Seite sitzt die Vernunft als Richter mit dem Amtsstab auf dem Richterstuhl, das Ichbewußtsein akzeptiert diese Entscheidungen und vertraut nicht auf seine eigenwillige Wahrnehmung, sondern auf das „besiegelte Gottesurteil“ im Sinne von „Dein Wille geschehe!“. Damit ist eine wahre „Brüderlichkeit“ möglich, sozusagen eine geistige Einheit. Und wie es auf der linken Seite durch die „naturwidrige Willkür“ des Egoismus zur „Scheidung“ zwischen den drei Brüdern kommt, so entsteht durch die ganzheitliche „Entscheidung“ der Vernunft auf der rechten Seite eine Harmonie zwischen den drei Brüdern, von denen vermutlich zwei neben dem Richter sitzen und ein dritter im brüderlichen Bund aufgenommen wird. Entsprechend sieht man vorn rechts die Geste der Segnung und den Rosenkranz der Gottesverehrung.

Aus geistiger Sicht ist diese geistige „Brüderlichkeit“ nichts anderes, als durch ganzheitliche Vernunft die „Gottheit“ in sich selbst und allen Menschen, ja sogar in allen Wesen zu erkennen. Die Gottheit ist das reine Bewußtsein am Grunde der Natur und des Geistes, und dieses „Bewußtseinsfeld“, oder moderner gesagt „Informationsfeld“, verbindet und vereint alle Geschöpfe zu einem Ganzen. In diesem Sinne meint wohl auch Petrarca das Adoptieren bzw. Annehmen von allen Formen der Natur mit heilsamer „Vernunft“ und nicht mit leidenschaftlicher „Freude“. Dann wandelt sich die egoistische Freude in eine ganzheitliche Freude Gottes, oder wie Meister Eckhart sprach:
»Geh ein in die Freude deines Herrn. Ich will dich setzen über all mein Gut«, als wollte er sagen: Geh heraus aus allem geschaffenen Guten und aus allem zerteilten Guten und aus allem zerstückten Guten: über all dieses hinaus will ich dich setzen in das ungeschaffene und in das ungeteilte und in das unzerstückte Gute, das ich selbst bin. Deshalb sagte er: »Geh ein in die Freude deines Herrn!«, recht als habe er sagen wollen: Geh heraus aus aller Freude, die geteilt ist und die, was sie ist, nicht aus sich selbst ist, in die ungeteilte Freude, die, was sie ist, aus sich selbst und in sich selbst ist, und die ist nichts anderes als die »Freude des Herrn«. Noch ein Wörtlein mehr über: Was ist »die Freude des Herrn«? Eine wunderliche Frage! Wie könnte man das erklären oder aussagen, was niemand verstehen noch erkennen kann? Gleichviel - (ich will) dennoch ein weniges darüber (sagen). »Die Freude des Herrn«, nun, das ist der Herr selbst und nichts anderes; und »der Herr« ist eine lebendige, wesenhafte, seiende Vernunft, die sich selbst begreift und selbst in sich selbst ist und lebt und dasselbe ist. (Predigt 27)


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