Heilung von beiderlei Glück - Francesco Petrarca

1.80. Von einem vortrefflichen Lehrer

Freude: Ich bin stolz darauf, einen vortrefflichen Lehrer zu haben.

Vernunft: So hörst du niemals auf, stolz auf das zu sein, was einem anderen gehört. Was nützt dir die Vorzüglichkeit deines Lehrers? Glaube mir - und ich sage es oft - alles, was dir wahre Ehre bringen soll, muß in dir sein.

Freude: Ich bin aber stolz auf meinen Lehrer, der vortrefflich ist.

Vernunft: Laß ihn vorerst seine Gaben so einsetzen, wie er es für richtig hält, und sich sogar darin rühmen, wenn es einen Grund dafür gibt - obwohl er dies am wenigsten tun wird, wenn er wirklich vortrefflich ist. Und über dich werden wir dann später sprechen.

Freude: Ich habe wirklich einen bemerkenswerten Lehrer.

Vernunft: Ich frage mich, was für ein Schüler du bist, weil ich nichts sagen kann, bevor ich das weiß. Was glaubst du, wie viele unwissende Dummköpfe in der Schule von Sokrates und Platon waren?! Und wie viele stiegen auch ohne Lehrer zu den Höhen des Lernens auf und lehrten andere, die keine Lehrer hatten?! Wir lesen nirgends, daß Virgil einen Lehrer hatte, und auch Horaz spricht von keinem, außer daß er sich an einen Prügler erinnert, der, glaube ich, für die Prügel steht, die er als Junge erhielt. Auch Cicero feiert seinen Lehrer nicht mit großem Lob, und er könnte es auch nicht. Aber andererseits wurde Ciceros Sohn, der von seinem Vater und von Cratippus unterrichtet wurde, dem Fürsten der Philosophen seiner Zeit, wenn wir Cicero glauben, für seine Trunkenheit wohlbekannt. Er wäre doch auch ohne Unterricht wohlerzogen und rein geworden, nur indem er seinem Vater gefolgt wäre. Und was Plato selbst betrifft, obwohl er sich, wie bereits erwähnt, darüber rühmte, daß Sokrates sein Lehrer war, so war es sicherlich ruhmreicher, daß er Sokrates übertroffen hatte, als unter ihm studiert zu haben.

Freude: Ich habe einen verständigen Lehrer.

Vernunft: Der große Verstand eines Lehrers kann dem Schüler nützlich sein, aber es kann ihm keinen Ruhm verleihen, und kann wunderlicher Weise sogar den eigenen Ruhm vermindern, weil du in seinem Schatten stehst und dich immer entschuldigen mußt. Alles, was du weißt, wird deinem Lehrer zugeschrieben, und was du nicht weißt, ist deine eigene Schuld. Daher kann das Wissen deines Lehrers keinen Ruhm verleihen, aber es sollte dir helfen, nach Ruhm zu streben. Du solltest einen Lehrer haben, dem du folgen und nacheifern kannst, nicht einen, mit dem du glaubst, dich zu identifizieren und rühmen zu können, sondern einen, dessen Schüler du bist. Kurz gesagt, er repräsentiert nicht das, was du hast, sondern das, was du anstrebst, was du erhoffst und durch viel Fleiß und Anstrengung erreichen mußt.

Freude: Ich habe aber einen berühmten Mann als meinen täglichen Lehrer.

Vernunft: Ciceros Sohn, den wir gerade erwähnt haben, hatte zwei der größten Lehrer: Der eine unterrichtete aus der Ferne mit seinen Büchern, und der andere im engen täglichen Kontakt mit seinen Worten. Du hast ja gehört, wieviel dies alles bewirkt hat. Wir wissen auch, daß die Kinder vieler Fürsten gleichzeitig mehrere Lehrer hatten. Aber was nützt guter Unterricht, wenn es niemanden gibt, der lernt? Wenn der empfangende Geist verwirrt ist, leuchtet die aussendende Quelle vergebens. Wenn es möglich wäre, daß die Nähe zu Gelehrten und deren Ansehen und Reden einen Gelehrten machen würde, dann würden wir eine beängstigend große und träge Menge solcher Menschen sehen, abgesehen davon, daß es in der Regel nur wenige gibt, die wirklich wünschen, gleichzeitig tugendhaft und gelehrt zu werden.

Petrarcameister - Von einem vortrefflichen Lehrer

Dieser Holzschnitt findet sich auch in der Cicero-Ausgabe des gleichen Verlegers vom Jahr 1531. Es will uns scheinen, daß er eher für dieses Buch als für Petrarcas Werk vom Petrarca-Meister geschaffen worden sei. Im Cicero ist ein Kapitel mit dem Bild illustriert, das den Vers zum Thema hat:

„Den Alten ziemt Vernunft und Zucht,
Davon die Jungen nehmen Frucht.“

Hier sind vier Lehrer dargestellt: Der erste links unterweist im Rechnen, der zweite hört mit der Rute in der Hand Aufgaben ab, der dritte hat ein Astrolabium in der Hand, das auf der Grundlage des ptolemäischen Weltsystems astronomische und astrologische Feststellungen erlaubte. Rechts am Ende wird ein Lehrstoff aus einem dicken Buch vorgetragen. Die Schüler sind ernsthaft bei der Arbeit, sie melden sich, sie notieren auf Wachstäfelchen, sie sagen auf und hören aufmerksam zu. Dabei sind sie überaus reizvoll differenziert…

Soweit beschreibt der Kunsthistoriker Walther Scheidig das Bild. Aus geistiger Sicht sehen wir wiederum nicht zufällig sieben Schüler, von denen zwei links eng nebeneinanderstehen, die wir im Inneren eines Menschen zum Beispiel als die fünf Sinne mit Wille und Ego finden können, der ja auch zum Lernen in dieser Welt ist. Und als Kind sollten Wille und Ego noch am Rand stehen. Demgegenüber erinnern die vier Lehrer mit den Büchern, der Rute und dem Astrolabium an die äußere Natur der vier Elemente, die unser Lehrer ist und als Universum auch ein Buch des Wissens bzw. ein Meer an Informationen verkörpert. Und doch ist das Wissen auf der Verstandesebene sehr begrenzt, wie hier auch der Raum für die Lehrer sehr eng und begrenzt gezeichnet wurde. Doch wie Petrarca schreibt, geht es ja nicht darum, das Wissen der Lehrer zu lernen, sondern das Lernen zu lernen, so daß sich die innerliche Quelle der Weisheit eröffnet. Denn äußerliches Wissen ist totes Wissen, und eignet sich bestenfalls zum Kaufen und Verkaufen.

Meister Eckhart schreibt zum Thema Schule des Lebens:
Wenn dem so ist, wenn die Kreaturen ein Weg zu Gott sind, dann kann nicht Abkehr und Flucht vor der Welt zum wahren Erkennen des Ewigen führen, sondern nur der Durchbruch durch den wesenlosen Schein der Kreatur zu ihrem wesenhaften Kern… Dieser Welt beste Schule und gründlichster Lehrmeister ist das Leben. Nichts führt zur letzten Selbsterkenntnis und zugleich zur wesentlichen Welterkenntnis als das Leben. (Predigt 28)

1.81. Von einem vorzüglichen Schüler

Freude: Ich habe zufällig einen bemerkenswerten Schüler, der mir fast so lieb ist wie ein Sohn.

Vernunft: Es ist eine lästige Pflicht, seinen Intellekt an die unterschiedlichen Neigungen eines Jungen anzupassen, Augen und Verstand auf einen Jugendlichen gerichtet zu halten, und Gedanken und Sprache auf dessen Fähigkeiten zu beziehen. Und hast du mehrere Schüler, dann hast du auch mehrere Probleme, die dich in deiner Mühe von allen Seiten bedrängen werden, wie der satirische Dichter sagt: „Schau nur die Hände und funkelnden Augen so vieler Jungen.“

Freude: Der hervorragendste unter den Jungen ist mein Schüler.

Vernunft: Um eines herausragenden Schülers willen setzt du dich vielen unklaren Meinungen aus: Was deinem Schüler zu fehlen scheint, wird dir zugeschrieben. Dies, sagen sie, ist sein Lernen, das seine Beredsamkeit und dies seine Manieren, wie man am Lehrer in allem erblicken kann. Es gibt wohl kein besseres Bild des Mannes als durch die Leistung seiner Schüler.

Freude: Ich habe wirklich einen vorzüglichen Schüler gefunden.

Vernunft: Dann mach dich an die Arbeit, denn du hast große Hoffnung auf Ruhm. Alle Fortschritte werden seinen Gaben zu verdanken sein, alles Scheitern deiner Nachlässigkeit, wie der Philosoph Plutarch an seinen Schüler Prinz Trajan schrieb: „Der öffentliche Klatsch pflegt die Übeltaten der Schüler ihren Lehrern zuzuschreiben.“ Das lesen wir von vielen Lehrern, die dies erlebt haben, darunter Quintilian und Seneca und sogar Sokrates, der Vater der Philosophen.

Freude: Aber ich habe großartige Schüler.

Vernunft: Es wäre besser, wenn du bescheiden wärst, denn wahre Pracht kann nicht ohne den Glanz der Tugend erreicht werden.

Freude: Ich betreue wirklich einen großartigen Schüler.

Vernunft: Du bist auf eine dreiförmige Chimäre (dreiköpfiges Mischwesen) gestoßen, die verlangt, daß du die Söhne belehrst, die Eltern erfreust und deinem Land bringst, was es von deiner Lehre erwartet: Nämlich daß derjenige, der völlig unwissend zu dir gebracht wurde, gesund und gelehrt zurückgegeben wird.

Freude: Mir wurde ein überlegener Junge anvertraut.

Vernunft: Seine Jugend macht mich mißtrauisch, und seine Überlegenheit auch. Denn das eine bedeutet Leichtsinn, und das andere Stolz.

Freude: Der mir anvertraute Junge hat große Achtung vor mir.

Vernunft: Was wirst du sagen, wenn er dich als Heranwachsender verachtet und dich als Mann kaum wiedererkennt? Wir wissen nur zu gut, wie treu und beständig Kinder sind!

Freude: Der mir anvertraute Junge liebt mich aber.

Vernunft: Du hast ein Bild auf eine unfertige Wand gemalt, das im Laufe der Jahre verblassen wird. Beständige Zuneigung erfordert ein reiferes Alter.

Freude: Ich habe auch das Glück, einen verständigen Jungen zu unterrichten.

Vernunft: Ein ungewisses Glück und ein zweifelhafter Segen. Mancher Verstand kann durch keine Anstrengung verbessert werden. In diesem Fall verschwendet der Vater sein Geld, der Lehrer seine Belehrung und der Junge seine Zeit. Lehre diejenigen, die belehrt werden können, kümmere dich nicht um diejenigen, die nicht lernen können, und vermeide es, sie und dich selbst zu ermüden. Kunst überwindet selten die Natur.

Freude: Ich habe aber zufällig einen jungen Schüler, der belehrbar ist.

Vernunft: So behandle den dir Anvertrauten mit Sorgfalt, obwohl du auf rutschigem Boden stehst und auf einem schwankenden Fundament baust! Wenn er erwachsen ist, erinnert er sich vielleicht daran. Andernfalls ist die Undankbarkeit sein, die Treue dein. Integrität allein ist eine ausreichend große Belohnung. Es gibt nichts Schöneres, als zu wissen, daß man eine gute Tat vollbracht hat. Der Mangel an Belohnung sollte dich niemals davon abhalten, anständig zu handeln, denn auch in diesem Leben bleibt das Richtige nicht unbelohnt, wie weise Männer beobachtet haben: Es ist am fruchtbarsten, es so zu tun und sich im Stillen daran zu erinnern, es getan zu haben.

Freude: Ich habe einen vielversprechenden Schüler gefunden.

Vernunft: Und große Sorge für dich. Wenn er sich als gut herausstellt, hat dein Herz einen Sohn für dich geschaffen und durch deine Belehrung gezeugt. Aber wenn er sich als böse herausstellt, hast du einen Feind, der dich jedes Mal hassen wird, wenn er sich daran erinnert, wie sehr er dich gefürchtet hat.

Freude: Mein Schüler strahlt mit Brillanz, die hoffentlich auf mich zurückfallen wird.

Vernunft: Mäßige Brillanz erfreut die Augen, aber maßloser Glanz schadet ihnen. Außerdem kann dich niemand zum Strahlen bringen, es sei denn, du strahlst von selbst. Auch wenn du im Rampenlicht stehst, ist das wahre Licht in dir.

Freude: Ich habe wirklich einen großartigen Schüler.

Vernunft: Ich denke, nicht größer als Senecas Schüler. Einige Lehrer wurden von ihren Schülern beschützt, andere unterdrückt. Und für den einen war die Größe ihrer Schüler ein sicherer Hafen, für den anderen ein tödliches Riff.

Petrarcameister - Von einem vorzüglichen Schüler

Walther Scheidig schreibt: Sebastian Brant hat dem Petrarca-Meister das Beispiel des ehrlosen Schülers, des Königs Nero, genannt, der seinen Lehrer Seneca umbringen ließ. Seneca sitzt im Badezuber, und vor den Augen des Königs Nero öffnet ihm der Henkersknecht die Pulsader, aus der das Blut in hohem Bogen spritzt. Dazu hat der Künstler eine Szene mit ungeratenen Schülern aus seiner Zeit gestellt. Sie haben den Lehrer zu Boden geworfen und schlagen mit Federköchern, Büchertaschen, Rute und Wachstafel auf ihn los…

Aus geistiger Sicht finden wir hier die fünf Sinne wieder, die auf den Lehrer einschlagen, wie wir auch heutzutage respektlos mit der Natur umgehen, die doch unser Lehrer sein sollte. Das geschieht natürlich, wenn in uns das Ego zum wahnsinnigen König wurde, wie Nero, und der Wille sein Knecht. Dann wird die Weisheit der Natur getötet, wie hier Seneca, und wir leben in einer toten Natur, die keine Macht mehr über uns haben soll. Warum richten wird unseren Blick nicht in die Weite, Höhe und Tiefe, die sich hier im Hintergrund jenseits unserer Mauern und Säulen eröffnet, um von einer lebendigen Natur voller Weisheit zu lernen? Ansonsten sieht man dann im Bild, wie die große Wasserwanne zu kippen und alles zu überschwemmen droht… (siehe auch „Der Tod von Seneca“)

Meister Eckhart sagt über Vernunft und Leben:
Der Mann war tot, darum war auch der Sohn tot. Der einzige Sohn der Seele, das ist der Wille und sind alle die Kräfte der Seele; sie sind alle eins im Innersten der Vernunft. Vernunft, das ist der Mann in der Seele. Wenn nun der Mann tot ist, dann ist auch der Sohn tot. Zu diesem toten Sohn sprach unser Herr: »Ich sage zu dir, Jüngling, stehe auf!« Das ewige Wort und das lebendige Wort, in dem alle Dinge leben und das alle Dinge erhält, das sprach das Leben in den Toten. (Predigt 18)

1.82. Von einem vornehmen Vater

Freude: Ich habe einen guten Vater.

Vernunft: Schätze diese Güte, denn sie gehört dir nur für kurze Zeit.

Freude: Ich habe den besten Vater.

Vernunft: Entweder wird er dir einen Grund zur Trauer geben, oder du ihm.

Freude: Mein Vater ist sehr freundlich.

Vernunft: Wenn die Natur ihren normalen Lauf nimmt, steht dir großes Leid bevor. Wenn sich der Lauf der Natur umkehrt, wird das Leid ihm gehören.

Freude: Ich habe meinen Vater noch.

Vernunft: Dann behandle ihn mit zärtlicher Sorgfalt. Dir gehört eine flüchtige Freude, denn dein Vater ist bereits ein alter Mann.

Freude: Ja, mein Vater ist alt.

Vernunft: Dann warte nicht, sondern beeile dich, sozusagen die letzte Frucht von einem uralten Baum zu ernten. Sei so viel wie möglich bei ihm, und sei begierig darauf, ihn zu sehen, als ob er gleich gehen würde. Sei noch gespannter darauf, ihm zuzuhören und dir seine letzten Ermahnungen einzuprägen. Und wenn du wegmußt, dann versorge ihn wie für eine lange Reise. Bald wirst du seinen Rat vermissen und ihn nicht mehr im Haus finden, wenn du ihn suchst.

Freude: Ja, ich habe einen sehr alten Vater.

Vernunft: Dann beeile dich und zeige ihm die größte Zuneigung, solange du kannst. Denn du wirst ewig bereuen, was du jetzt versäumst.

Freude: Ich habe einen liebevollen Vater.

Vernunft: Dann hast du jemanden, der hofft, vor dir zu sterben, und der sich davor fürchtet, nach deinem Tod zu leben.

Freude: Mein Vater ist der Beste.

Vernunft: Ja, du hast einen Vater, an den du wenig denkst, bis du ihn brauchst, und um den du weinen wirst, wenn er weg ist.

Petrarcameister - Von einem vornehmen Vater

Walther Scheidig schreibt: Ohne Widerspruch von der Vernunft bleibt das Lob der Freude: „Ich habe einen guten Vater.“ Auch die Beispiele aus der Geschichte, die gegen eine Vaterliebe zeugen könnten, fallen diesmal fort.

Ein Patrizierhaushalt illustriert das Lob des guten Vaters. Die Tafel ist reich gedeckt, Brot und Obst sind gegessen worden, jetzt stehen ein silbergetriebener Pokal und ein schöner Glasbecher bereit. Am Tisch sitzt der Vater mit seinem Sohn, der von der Reise gekommen ist und neben dem noch der Reisesack liegt. Der Vater reicht dem Sohn einen großen Pokal und schiebt ihm zugleich einen Geldbeutel zu. Ungerührt, lässig und doch respektvoll steht der Schaffner neben dem Herrn. Zwei Knechte sind weniger gut erzogen, sie tuscheln miteinander und machen Bemerkungen über Bier oder Wein, wie eine Handbewegung erkennen läßt. - Eine in ihrer Dramatisierung eines geringfügigen Vorganges besonders schöne Leistung des Petrarca-Meisters. Auch die Art, wie er den Blick des Betrachters von der Rückenfigur in die Tiefe zum Schaffner, von diesem quer zu Vater und Sohn führt, ist bemerkenswert. In negativer Hinsicht verdient Beachtung, daß nicht das Gleichnis vom verlorenen Sohn für die Illustrierung gewählt wurde.

Aus geistiger Sicht ist der gute Vater natürlich unsere geistige Wurzel, der „Zeuge“ von allem. Und der Sohn ist das Bewußtsein, entweder als ein eigenwilliges Ichbewußtsein oder ein vernünftiges ganzheitliches Bewußtsein. Man sieht gut, wie der Vater den Tisch gedeckt hat, um den Sohn zu ernähren, mit Früchten, Wein und auch dem Wasser des Lebens. Dazu gibt er ihm den Becher und auch einen Beutel mit „Vermögen“ für seine Reise in die Welt. Die drei Diener erinnern uns an die drei Seelenkräfte von Wille, Verstand und Gedächtnis (Voluntas, Intellectus und Memoria). Der korpulente Schaffner paßt zum Gedächtnis, und der Träger des Schlüsselbundes zum Verstand, der vom Willen inspiriert wird und auf eine Wasserwanne mit zwei verschiedenen Krügen zeigt, ähnlich wie im Bild 1.19. Vielleicht geht es auch hier um zweierlei Getränke, wie sich auch das Bewußtsein in zwei Richtungen entwickeln kann, zu einem lebendigen oder zu einem toten Vater. Eine ähnliche Dualität erscheint auch in den beiden Fenstern und auf dem Tisch. Damit wird das Bild in zwei Seiten geteilt, und man sieht, daß doch das meiste auf Seiten des Vaters ist, was dem Sohn gegeben wird, der damit seinen Reisesack füllen kann und sich sozusagen im Vater widerspiegelt. Wie der Vater, so der Sohn…

1.83. Von der lieben Mutter

Freude: Ich habe die liebevollste Mutter.

Vernunft: Aber für sie bist du eine ewige Angst und ständige Sorge.

Freude: Ich habe wirklich die liebevollste Mutter.

Vernunft: Die Liebe eines Vaters ist am beständigsten, die einer Mutter am heftigsten, und die Liebe beider ist von einer Art und einem Ausmaß, daß die Liebe eines Kindes ihr selten gleichkommt. Dennoch ist der Kampf der Liebe und Hingabe zwischen Eltern und Kindern schön und edel, und diejenigen werden siegreich sein, für die am reichlichsten die Quelle der himmlischen Liebe fließt. Bisher haben die Eltern meistens gesiegt, und die Hingabe der Kinder oder ihr Respekt für die Älteren sind wirklich nicht so groß, daß wir gezwungen wären, anders zu denken und zu hoffen. Doch wenn es tatsächlich geschehen würde, könnte kein Anblick auf Erden dem Himmel angenehmer sein.

Freude: Ich habe die beste aller Mütter.

Vernunft: Dann sollst du ihr auch der beste Sohn sein. Bedenke, daß du ihr zuerst nur eine Last und ein Ärgernis warst, dann bitterer Schmerz und später ständige Mühe und ängstliche Sorge. Erinnere dich an den Schoß, der dich geboren hat, und an die Brüste, die dich genährt haben! Wie oft haben deine Schreie ihren Schlaf, ihr Abendessen oder ihre Entspannung unterbrochen?! Welche Ängste und Sorgen und gelegentlich sogar gefährlichen Freuden bereiteten ihr diese Umstände?! Denn nicht nur der Schmerz über den Tod ihrer Kinder, sondern auch die Freude über ihr Leben hat arme Mütter oft sterben lassen. Dies war auch der Fall an dem Tag, an dem die verstreuten Überreste der römischen Streitkräfte von der Niederlage am Trasimenischen See zurückkehrten, und zwei Mütter, die ihre gefallen geglaubten Söhne sahen, die plötzliche Freude nicht ertragen konnten und ihren geschwächten Geist aushauchten. Diese und andere Beispiele dienen nur dazu, die Tatsache zu betonen, daß es unter Menschen keine größere Undankbarkeit gibt, als gegenüber der eigenen Mutter.

Freude: Meine Mutter ist alt, aber lebt noch.

Vernunft: Wann immer du sie ansiehst, schau auch auf die Erde, und denke darüber nach, woher du gekommen bist und wohin du gehst, nämlich die Enge, aus der du herausgekommen bist, und die Enge, die dich bald aufnehmen und halten wird, wenn du aus dem Schoß deiner eigenen Mutter in den Schoß der Erde eilst, der Mutter aller Lebewesen. Und während du zwischen diesen beiden wanderst, zügle deinen Stolz und die Gier inmitten der vielen Dinge, die den Geist träge und besessen machen.

Petrarcameister - Von der lieben Mutter

In der Straße eines Städtchens treffen Mütter und Söhne nach langer Trennung wieder zusammen. Bei der rechtsstehenden Gruppe fällt die Mutter gerührt und von Freude überwältigt dem Sohn in die Arme, der mit dem Doktorhut als Gelehrter aus der Ferne zurückgekehrt ist. In der Bildmitte dagegen fallen zwei Mütter mit Gebärden des Entsetzens und der Abwehr in Ohnmacht, als ihnen ihre Söhne rauhbärtig und in üppiger Landsknechts-Tracht mit Spieß und Schwert entgegentreten. Im Hintergrund nährt eine Mutter ihr kleines Kind.

In dieser Darstellung hat der Petrarca-Meister sehr fein eine Anregung des Textes Petrarcas so verarbeitet, daß er ein Urteil über seine Zeit ausspricht. Petrarca hat von römischen Müttern erzählt, die ihre Söhne in der Schlacht am Trasimenischen See gefallen glaubten und vor Freude starben, als sie ihre Söhne unerwartet lebend wiedersahen. Oberflächlich betrachtet, wäre diese Historie dann auch in der Mitte und links illustriert. Doch mit den Abwehrgebärden der Frauen zusammengehalten und im Zusammenhang mit der rechts gezeichneten Szene betrachtet, kann die Darstellung nur gedeutet werden als Verachtung und Abscheu der Mütter vor dem Landsknechts-Stand ihrer Söhne, im Gegensatz zur Freude über den gelehrten Stand des Sohnes. In dieser Weise werden Bürger, Bürgersfrauen und -söhne zur Zeit des Erscheinens des Buches das Blatt gesehen haben.

Soweit spricht der Kunsthistoriker Walther Scheidig über dieses Bild. Aus geistiger Sicht ist die Mutter die gebärende und verkörpernde Natur, die damit auch Ursprung unseres Lebens ist und uns körperlich ernährt. So liebt sie natürlich den, der aus diesem Leben lernt und den heilsamen Weg zur Vernunft und Weisheit geht. Dagegen leidet sie unter den leidenschaftlichen Kriegern, die nur um egoistische Ziele kämpfen und sich stolz über die Natur erheben wollen, ohne diesen Kampf jemals gewinnen zu können. Denn dieser Krieg bringt nur Leid und Tod, und damit meinen wir nicht nur den militärischen Krieg, sondern auch den Krieg, den wir täglich mit Technik und Chemie gegen die Natur führen. Das ist sicherlich nicht der heilsame Weg zur Vernunft und Weisheit. Doch diesen Weg sollte der Mensch eigentlich gehen, um sich ganzheitlich zu entwickeln. Dann geht er von der Mutter zum Vater und kehrt schließlich mit dem Wissen und der Weisheit des Vaters zur Mutter zurück, um beide mit dem heilsamen bzw. ganzheitlichen Geist zu vereinen und die Gegensätze der Welt zu lösen, vor allem zwischen Geist und Natur. So kann er das große Leben finden und den großen Tod überwinden.

1.84. Von lieben Brüdern und frommen schönen Schwestern

Freude: Ich habe liebevolle Brüder.

Vernunft: Das ist in der Tat selten. Wenn Eltern fast immer liebevoll sind, so beneiden sich doch oft die Brüder und verachten sich gegenseitig. So ist die Liebe unter Brüdern selten, was auch die Worte der Wahrheit aus dem Mund von Ovid sind („fratrum quoque gratia rara est: auch unter Brüdern gibt es selten Freundschaft“). Dementsprechend finden wir Untreue bei Brüdern und Söhnen und bei fast allen anderen, viel mehr als bei den Eltern.

Freude: Meine Brüder sind die besten.

Vernunft: Ich bin wirklich überrascht. Es genügte doch, wenn sie gut wären, denn meistens sind sie schlecht und mitunter die allerärgsten und schwersten Feinde, weil es so schwer ist, sich gegen den Verrat im eigenen Haus zu wehren. Wie groß die Liebe zwischen Brüdern ist, kann gezeigt werden, ohne alte Beispiele auszugraben oder jemanden mit einem aktuellen zu verletzen, indem man einfach an die Brüder von Mykene (Thyestes und Atreus), Theben (Eteokles und Polyneikes) und Rom (Romulus und Remus) erinnert, die jeder kennt. Obwohl ich nicht verstehe, warum ihre Schande nur mit einer bestimmten Stadt in Verbindung gebracht werden sollte, besser mit der Welt an sich. Schau dir auch die ersten beiden Brüder auf dieser Erde an (Kain und Abel): Einer wurde durch die Hand des anderen getötet. Und du hast auch von der schrecklichen Tat des Phraates gehört, dem König der Parther, den ich früher (unter 1.52) erwähnt habe, der, wie wir lesen, außer dem Mord an seinem Vater und seinem Sohn, auch seine dreißig leiblichen Brüder ermordet hat, um sein unrechtmäßig erworbenes Königreich mit solch einem Blutvergießen zu sichern und jede Angst vor einem haßerfüllten Mitregenten zu beseitigen.

Freude: Aber meine Brüder sind gut.

Vernunft: Ich vermute wohl, daß ihr das Erbe noch nicht geteilt habt, denn spätestens hier wird der Streit ausbrechen. So wie Gold normalerweise durch Feuer geprüft wird, wird der Geist durch Gold geprüft, und was wie friedliche Harmonie erschien, kann durch ein wenig Gold in Streit verwandelt werden.

Freude: Meine Brüder lieben mich.

Vernunft: Vielleicht liegt diese Liebe auch daran, daß du noch unverheiratet bist und keine Kinder hast. Denn das wahre Wesen offenbart sich, wenn man heiratet, und noch mehr, wenn man Kinder hat, und damit die Hoffnung auf die Erbnachfolge schwindet, was Unduldsame nur schwer ertragen können.

Freude: Ich habe Brüder, die mich sehr lieben.

Vernunft: So sollte es sein, es sei denn, Neid steht im Weg, oder Angst, Ehrgeiz oder die bloße Besitzgier, die danach strebt, sich zu sättigen, blind gegenüber allen Gesetzen Gottes und der Menschen. So groß die Liebe zwischen Eltern und Kindern auch sein mag, die Beziehungen der Kinder sind unterschiedlich, denn ihr Charakter ist unterschiedlich. Und obwohl die Eltern dies schnell sehen, erkennen sie es oft zu spät. Väter lieben ihre Kinder zwar vom ersten Moment an, akzeptieren sie aber erst spät, meistens erst im Alter. Denn Brüder teilen sich vor und nach ihrer Geburt dasselbe Haus und dieselbe Wiege und bekommen gleiche Gewohnheiten. Nach der Geburt sehen sie sich, werden mit den gleichen Speisen ernährt, sind an die gleichen Eltern, die gleichen Spielkameraden und die gleichen Zeitvertreibe gewöhnt. So wachsen sie zusammen auf und werden zusammen Jugendliche. Sie sind umgeben von Gleichheit und durch viele Bande der Zuneigung miteinander verbunden, vorausgesetzt, daß diese Bande nicht durch zufällige Umstände getrennt oder durch die Härte eines hartnäckigen Geistes zerschmettert werden. Und das geschieht so oft, daß ich wirklich nicht weiß, ob es zwischen Brüdern mehr tödlichen Haß und grenzenlosen Unmut als großmütige Liebe gibt. Denn Gleichheit ist immer eine verwirrende Sache, weil der (egoistische) Verstand des Menschen gegenüber Gleichheit so unduldsam ist.

Freude: Ich habe aber freundliche und liebevolle Brüder.

Vernunft: Dann behandle sie wiederum mit Freundlichkeit und Liebe. Denn freundliche Liebe ist etwas sehr Empfindliches. Schätze sie, denn sie ist schwer zu bekommen und leicht zu verlieren.

Freude: Ich habe auch gute Schwestern.

Vernunft: Eine schwere Last, aber eine angenehme, und fast die wichtigste Aufgabe für junge Männer, sich zu beweisen, wenn sie zu sich selbst kommen und einen ersten Schritt in Richtung eines Rufs machen, freundlich und fromm zu sein.

Freude: Ja, ich habe gute Schwestern.

Vernunft: Dann sorge dafür, daß sie einen guten Bruder haben und daß sie sich nicht verwaist fühlen, falls euer Vater stirbt, und solange du lebst.

Freude: Meine Schwestern sind sehr schön.

Vernunft: Damit bist du der Wächter einer vergänglichen Gabe. Hüte dich vor Täuschung mit wachsamen Augen, und sei vor der Menge ihrer Verehrer auf der Hut! Es ist schon schwierig genug, nur ein wohlgestaltetes Mädchen zu bewachen. Was erwartest du, wenn es viele gibt? Die Keuschheit muß mit größerer Sorgfalt beschützt werden als Gold, weil sie wertvoller ist und niemals wiedergewonnen werden kann. Es gibt praktisch keinen besseren Weg, die jungfräuliche Keuschheit zu bewahren, als durch eine rechtzeitige Heirat.

Freude: Ja, ich habe wunderschöne Schwestern zu Hause.

Vernunft: Dann sorge dafür, daß sie nicht zu lange dort bleiben. Es ist besser für jede von ihnen, ihr eigenes Zuhause zu schmücken.

Petrarcameister - Von lieben Brüdern und frommen schönen Schwestern

„Ich habe liebevolle Brüder“, erklärt die Freude, und so stellt auch der Petrarca-Meister eine schöngekleidete Patriziertochter in den Vordergrund seines Bildes, die mit ihren beiden Brüdern in guter Eintracht ist. In schon bekannter Form wird diese Gruppe im Hintergrund rechts und links von Szenen begleitet, die als Gegenbeispiele zur These der Freude gedacht sind. Rechts erschlägt Kain als der erste Mörder der Menschheit seinen Bruder. Links werden vor den Augen eines Königs Scharen von gefesselten Jünglingen hingerichtet, dazu ein bärtiger Mann und eine Frau. Es ist der Partherkönig Phraates, von dem Petrarca in seinem Text erzählt, daß er seine dreißig Brüder, dazu Vater, Mutter und eigenen Sohn habe ermorden lassen.

Soweit der Kunsthistoriker. Es gibt wohl endlose Beispiele, welcher Wahnsinn geschieht, wenn sich das Ego zum Herrn und König macht und seine wacklige Illusionsblase gegen andere verteidigen will. Entsprechend gehen wir mit unseren Brüdern und Schwestern dieser Welt im weitesten Sinne um. Es wäre wohl vernünftiger, diese Gegensätze auszugleichen, von denen sich das Ego ernährt, und damit auch das männliche und weibliche Prinzip wieder miteinander zu vereinen, am besten natürlich durch die Kraft wahrhafter Liebe. Wie man im Vordergrund des Bildes praktisch auch einen Bruder sehen kann, der den Segen dazu gibt, daß sich seine Schwester mit einem Ehemann verheiratet, dem sie ihre rechte Hand gibt, wie Petrarca im Text empfiehlt.

Meister Eckhart sagt: Wahrlich, darin steckt überall dein Ich und sonst ganz und gar nichts. Es ist der Eigenwille, wenn zwar du‘s auch nicht weißt oder es dich auch nicht so dünkt: niemals steht ein Unfriede in dir auf, der nicht aus dem Eigenwillen kommt, ob man‘s nun merke oder nicht… Darum fang zuerst bei dir selbst an und laß dich! (Reden der Unterweisung III)

1.85. Von einem guten Herrn

Freude: Ich habe einen guten Herrn.

Vernunft: Dann denke darüber nach, ob du ihn hast, oder er dich hat. Aber das ist der allgemein gebräuchliche Ausdruck, und du hast ihn, wie du die Krätze oder einen Husten hast. Es gibt viele Dinge, die gegen den Willen des Besitzers besessen werden: Eine lästige Angelegenheit, die man nicht wieder loswird.

Freude: Ich habe wirklich einen guten Herrn.

Vernunft: Aber du hast deine Freiheit verloren. Niemand kann gleichzeitig einen solchen Herrn und eine solche Freiheit haben. Jetzt sind weder deine Schwestern, von denen du eben gesprochen hast, noch deine Töchter und Schwiegertöchter, ja nicht einmal deine Frau, dein Erbe und dein Leben noch sicher. Du hast plötzlich überhaupt nichts mehr, weil du ihn zum Herrn hast.

Freude: Das Schicksal hat mir und meinem Land einen guten Herrn gegeben.

Vernunft: Diese letzten beiden sind unvereinbar, völlig gegensätzlich: Wenn er gut ist, ist er kein Herr, und wenn er ein Herr ist, ist er nicht gut, besonders nicht, wenn er Herr genannt werden will.

Freude: Mein Herr ist aber gut.

Vernunft: Gut sind deine Eltern, auch deine Geschwister und Kinder mögen gut sein. Und deine Freunde sind immer gut, oder sie sind nicht deine Freunde. Aber einen Herrn gut zu nennen, ist eine Lüge zur Selbstberuhigung oder eine höfliche Schmeichelei.

Freude: Wir haben den besten Herrn.

Vernunft: Vielleicht ist er nur ein Herrscher des Volkes und ein Verteidiger des Staates, dessen menschliche Taten gotgefällig sein sollen. Allerdings würde ich einen solchen Mann nicht den „besten“ nennen, sondern einen „guten“ und möglicherweise auch den „allerschlechtesten“, wenn man bedenkt, daß er seinen Untertanen das Allerbeste nimmt, was sie haben, nämlich ihre Freiheit, die das Höchste und Wichtigste in diesem Leben ist. So daß er ohne Tränen so viele tausend arme Menschen ansehen kann, die versuchen, die erbärmliche Gier eines einzigen Menschen zu befriedigen, der nie genug haben wird. Auch Scham bringt ihn nicht von diesem deprimierenden Schauspiel ab, wenn Gerechtigkeit und Barmherzigkeit es nicht geschafft haben. Dennoch kann er freundlich sein, sanft sprechen und für einige sogar großzügig sein, wenn es um die Beute geht, die so vielen abverlangt wird. Das sind die Künste der Tyrannen, die das Volk Herren nennt, die sich aber als ihre Henker entpuppen. Mit diesen Illusionen täuschen sie die ehrfürchtigen Augen, ködern mit Haken und Schlingen und fangen die ahnungslosen Bürger.

Freude: Ich habe einen allmächtigen Herrn.

Vernunft: Davon gibt es nur einen, und der ist im Himmel, der sich aufgrund seines heiligen Gesetzes Herr genannt hat und so genannt werden will. Augustus Cäsar, der einst Herr über die ganze Welt war, verfügte, daß niemand ihn Herr nennen sollte. Denn der Herr sei der Gott aller Götter, und Augustus war der Kaiser aller Menschen. So bewahrte Gott seine Majestät, und Augustus seine Bescheidenheit. Er tadelte die Römer in dieser Angelegenheit scharf, und es wurde von ihm geschrieben, daß er vor dem Titel eines „Herrn“ zurückschreckte, als wäre es ein Vorwurf oder eine Beleidigung. Wir wissen, daß dies auch bei seinem Nachfolger der Fall gewesen war, obwohl er Augustus in den meisten Punkten unterlegen war. Um eifrig zu regieren, verzichtete Tiberius zwar auf den Herrschertitel und wollte einen Mittelweg zwischen Ehrgeiz und Demut gehen, aber trotzdem Herr sein, nur nicht so genannt werden. Wohl wissend, daß das, was er wünschte, unangemessen war, entging er dennoch dem Schaden öffentlicher Kritik. Denn hart, stolz und streng ist der Titel „Herr“ besonders dort, wo Freiheitsliebe und Dienen verabscheut werden. Der römische Prinz Alexander trat in die Fußstapfen von Augustus und Tiberius und wünschte, das Volk solle ihm schreiben wie einem Bürgerlichen, nicht einer Person von höchstem Rang. Aber der andere Alexander, nämlich der von Mazedonien, wollte nicht nur Herr, sondern Gott genannt werden. Heutzutage wird er von jenen gemeinen Räubern nachgeahmt, die kaum ein oder zwei Städte durch ihre finsteren Machenschaften halten, aber nicht nur „Herrn“ genannt werden wollen, sondern sich schämen, „Menschen“ genannt zu werden und das als Beleidigung empfinden.

Freude: Ich habe einen Herrn, der wirklich der Beste ist.

Vernunft: Es gibt nur einen wahren Herrn: Wenn du den hast, ist dein Dienst viel ehrenhafter und glücklicher, als irgendeinem Königreich zu dienen.

Freude: Wir haben einen gerechten Herrn und den besten König.

Vernunft: Die Griechen haben nicht zwischen einem König und einem Tyrannen unterschieden. Dementsprechend sagte ihr Dichter in Bezug auf einen König: „Für mich soll es ein Friedensschluß sein, die Hand des Tyrannen berührt zu haben!“ Und unter euch ist heute nur der Zweck und die Art der Regierung anders. Doch der wäre tatsächlich ein wahrer König, der mit der Gerechtigkeit regiert und von ihr regiert wird. Wer aber auf dem hohen Thron sitzt, nicht als Beschützer des Staates, sondern seine persönlichen Begierden verfolgt, nur an Plünderung oder Rache denkt, seiner Gier oder seinem Zorn frönt und von den ungezügelten Impulsen seines Geistes besessen ist, der ist in Wirklichkeit ein Sklave böser Herren (nämlich seiner Begierden). Er ist überhaupt kein König, wie majestätisch er auch erscheine, mit seinem goldenen Zepter und stolz in purpurne Gewänder gehüllt, sondern ein lebendiges Beispiel eines Raubtiers, das vom gemeinen Volk unterstützt und in hohe Ämter gesetzt wird, damit er mit seiner Peitsche um so freier wüten kann, einige loben, andere bestrafen, aber alle plagen und belästigen, und das unwissend und von seinen Leidenschaften beherrscht. Und doch vollzieht er durch die Gnade dessen, der Böses in Gutes verwandelt, mit ungerechten und schuldigen Händen das gerechte Urteil des Herrn, so wie ein grausamer Folterknecht das Urteil eines rechtschaffenen Richters vollstreckt.

Freude: Mein Land hat aber einen gerechten und guten König.

Vernunft: Ein wirklich seltener Segen und Anlaß zu großem Glück für dein Land, es sei denn, das gegenwärtige Glück wird durch Zukunftsängste wegen der bekannten Kürze glücklicher Zustände getrübt. Diese Sehnsucht nach den alten Tagen, um bald neues Elend anzuhäufen, wird von den wachsamen Köpfen derer bezeugt, die die Wege des Menschen und das schlüpfrige Rad des Schicksals erkennen, das gute Dinge nicht lange dauern läßt. Denn lange Gewohnheit betäubt den Sinn für das Bösartige, aber das Ungewöhnliche (schärft diesen Sinn und) verringert es. Daher definieren einige „das Beste“ als dauerhafte Abwesenheit von Wohlstand. Und das würden sie nicht sagen, wenn der Wohlstand dauerhaft wäre.

Freude: Wir haben einen gerechten und barmherzigen König.

Vernunft: Dann hoffe, während seiner Regierungszeit zu sterben, damit du keinen Regierungswechsel beklagen mußt! Denn selten folgt einem guten Herrscher ein anderer guter. Häufiger folgt ein Schlechterer, und darauf meistens der Allerschlimmste.

Petrarcameister - Von einem guten Herrn

Zu diesem Bild schreibt Walther Scheidig nur kurz: Der Künstler zeichnet die Könige und Herren, denen sich mit ungeschicktem Hüte-Rücken die Bauern nahen, zu denen mit ehrerbietiger Haltung die Bürger kommen, die aber alle für die Herren gar nicht vorhanden zu sein scheinen.

Aus geistiger Sicht sieht man vier Herren und sieben Diener, die uns wieder an die sieben natürlichen Prinzipien im Inneren des Menschen und die vier herrschenden Elemente der äußeren Natur erinnern. Und jeder hat natürlich seine eigenen Interessen. Aber darüber hinaus spricht Petrarca von einem noch größeren und wahren Herrn, dem man vor allem dienen sollte. Und damit schließt sich dann der Weg über Lehrer, Vater, Mutter, Kinder, Brüder und Schwestern zum höchsten Herrn, den man früher auch Gott nannte.

Meister Eckhart beschreibt für diesen großen Weg sechs Stufen:
Die erste Stufe des inneren und des neuen Menschen, spricht Sankt Augustinus, ist es, wenn der Mensch nach dem Vorbild guter und heiliger Leute lebt, dabei aber noch an den Stühlen geht und sich nahe bei den Wänden hält, sich noch mit Milch labt.
Die zweite Stufe ist es, wenn er jetzt nicht nur auf die äußeren Vorbilder, (darunter) auch auf gute Menschen, schaut, sondern läuft und eilt zur Lehre und zum Rat Gottes und göttlicher Weisheit, kehrt den Rücken der Menschheit und das Antlitz Gott zu, kriecht der Mutter aus dem Schoß und lacht den himmlischen Vater an.
Die dritte Stufe ist es, wenn der Mensch sich mehr und mehr der Mutter entzieht und er ihrem Schoß ferner und ferner kommt, der Sorge entflieht, die Furcht abwirft, so daß, wenn er gleich ohne Ärgernis aller Leute (zu erregen) übel und unrecht tun könnte, es ihn doch nicht danach gelüsten würde; denn er ist in Liebe so mit Gott verbunden in eifriger Beflissenheit, bis der ihn setzt und führt in Freude und in Süßigkeit und Seligkeit, wo ihm alles das zuwider ist, was ihm (Gott) ungleich und fremd ist.
Die vierte Stufe ist es, wenn er mehr und mehr zunimmt und verwurzelt wird in der Liebe und in Gott, so daß er bereit ist, auf sich zu nehmen alle Anfechtung, Versuchung, Widerwärtigkeit und Leid-Erduldung willig und gern, begierig und freudig.
Die fünfte Stufe ist es, wenn er allenthalben in sich selbst befriedet lebt, still ruhend im Reichtum und Überfluß der höchsten unaussprechlichen Weisheit.
Die sechste Stufe ist es, wenn der Mensch entbildet ist und überbildet von Gottes Ewigkeit und gelangt ist zu gänzlich vollkommenem Vergessen vergänglichen und zeitlichen Lebens und gezogen und hinüberverwandelt ist in ein göttliches Bild, wenn er Gottes Kind geworden ist. Darüber hinaus noch höher gibt es keine Stufe, und dort ist ewige Ruhe und Seligkeit, denn das Endziel des inneren Menschen und des neuen Menschen ist: ewiges Leben. (Vom edlen Menschen)

1.86. Von klarer Luft

Freude: Die Luft ist klar und angenehm.

Vernunft: Wer kann noch behaupten, daß deine himmlische Seele an der Erde haftet? Du erhebst sie in die Luft und richtest deine Liebe auf ein Element, welches das unbeständigste von allen ist.

Freude: Die Luft ist klar und ruhig.

Vernunft: Warte nur ein wenig, dann wird es wieder bewölkt und stürmisch sein. Oder glaubst du, daß du dann unter einem anderen Himmel bist?

Freude: Die Luft ist wirklich klar und ruhig.

Vernunft: Mir wäre lieber, dein Geist wäre klar und ruhig. Solche Klarheit und beständige Stille des Windes, die weder von Wolken verdeckt noch von Wind gestört wird, wäre sehr nützlich.

Freude: Ja, die Luft ist klar.

Vernunft: Nicht alles Klare ist sogleich das Beste. Wir lesen, daß wolkige Provinzen gesünder sind als klare, und daß in dieser Hinsicht der westliche Teil der Welt dem östlichen vorzuziehen ist.

Freude: Diese klare Luft erfreut mich.

Vernunft: Sich an den Werken und Schöpfungen Gottes zu erfreuen, ist wohl nicht verboten, wenn jede Freude deines Geistes nur von Gott stammt, dem Quell aller Güte, und alle zeitlichen Dinge den ewigen Schöpfer preisen. Ansonsten beachte, was geschrieben steht, denn Hiob sagt: »Wenn ich die Sonne in ihrem größten Glanz und den Mond am hellsten sehen würde, und dann mein Herz eine geheime Freude empfände und ich mit meiner Hand ihnen Küsse zuwürfe, das wäre der Gipfel der Ungerechtigkeit, denn ich hätte den höchsten Gott verleugnet. (Hiob 31.26)«

Freude: Die Luft ist wirklich sehr klar: Möge es für immer so bleiben!

Vernunft: Weder für immer, noch für eine längere Weile. Der Wetterwechsel wurde von vielen als sehr vorteilhaft gepriesen, besonders von Cicero.

Freude: Die Luft ist wunderbar klar, und ich hoffe wirklich, daß es so bleibt.

Vernunft: Du ahnst nicht, wie bald dich diese Klarheit anwidern wird. Nichts ist so köstlich, daß es nicht unangenehm wird, wenn man es dauerhaft erlebt. Gegen die Langeweile des Lebens gibt es kein wirksameres Mittel als der Wandel von Zeit und Ort. Dies erhält und befriedigt den menschlichen Geist. Wie Augustinus sagt: „Wer sich nicht mit der Qualität der Dinge zufriedengeben kann, muß sich zumindest mit der Vielfalt zufriedengeben.“

Petrarcameister - Von klarer Luft

Die Freude am guten Wetter und angenehmer Luft gehört sehr wohl zu dem neuen menschlichen Lebensgefühl der Renaissance und zu humanistischer Gesinnung. Der Petrarca-Meister geht noch weiter in seinem Bild, er stellt nicht Freude an der Natur, sondern forschende Naturbeobachtung dar. Der Gelehrte links vor der Sonne hat einen ausgesprochen beobachtenden Handgestus. Der Gelehrte rechts vor Mond und Sternen benutzt, wie in der alten Astronomie und Astrologie allgemein üblich, die Spanne zwischen Daumen und Zeigefinger bei ausgestrecktem Arm zur Himmelsmessung. Und während diese beiden sich den Himmelserscheinungen gegenüber aktiv verhalten, sitzt zwischen ihnen, als Gegenbeispiel in den Hintergrund gerückt, der stoische Greis der Philosophie des Petrarca, der gleichmütig ein Unwetter über sich ergehen läßt.

Man hört hier wohl die sozialistischen Ideale von Walther Scheidig heraus. Es ist sicherlich nicht falsch, die Natur zu beobachten, aber man sollte nicht bei den äußerlichen Dingen im „Verstand“ stehenbleiben, sondern in das Innerliche vordringen und dort die unverhüllte Klarheit finden. So schaut der eine Gelehrte die Sonne an, und der andere den Mond, und beides sind vergängliche Anschauungen, weil der Mensch daran festhalten will. Der Weise sitzt gelassen, schaut das Ganze und kann im Ganzen zufrieden sein.

Denn das Erste, worin die Seligkeit besteht, ist dies, daß die Seele Gott unverhüllt schaut. Darin empfängt sie ihr ganzes (bzw. ganzheitliches) Sein und ihr Leben und schöpft alles, was sie ist, aus dem Grund Gottes und weiß nichts von Wissen noch von Liebe noch von irgendetwas überhaupt. Sie wird still ganz und ausschließlich im Sein Gottes. (Meister Eckhart, Vom edlen Menschen)

1.87. Vom glücklichen Segeln

Freude: Ich segle glücklich auf dem Meer.

Vernunft: Ich fürchte, Neptun wird dich in seinen Netzen fangen.

Freude: Das Meer zeigt sich angenehm ruhig.

Vernunft: Eine trügerische Ruhe, sozusagen der Köder für den Schiffbruch. Denn wenn das Meer immer rauh wäre, würde niemand darauf segeln.

Freude: Das Meer ist angenehm und süß für mich.

Vernunft: Eine verdächtige Süße. Die Höflichkeiten der Räuber sind Drohungen: Das Antlitz des Meeres wird sich plötzlich verändern, so daß du dich ganz anders fühlen wirst, vor Schreck erzittern und fragen: „Wo ist der glatte Spiegel, den ich soeben gelobt habe? Woher kommen diese schrecklichen Wasserberge, woher das Tosen des Sturms und die wogenden Wellen, die ihren drohenden Schaum in die Wolken spucken?“ Nur diejenigen, die es erlebt haben, wissen, was für ein wildes Tier das Meer ist und warum es der Dichter Monstrum und Ungeheuer genannt hat. Denn nichts ist monströser in der Welt der Natur, nichts weniger vertrauenswürdig, weniger verläßlich. Nichts ändert sich häufiger, gefährlicher und abrupter, und schließlich ist auch nichts stiller, wenn es ruhig ist, und wilder, wenn es erregt ist.

Freude: Jetzt ist es ruhig, friedlich und still.

Vernunft: Sogar die Erdoberfläche bricht ein und reißt auf, und du sprichst vom Meer, als ob es in seiner scheinbaren Stille verharren würde. Vertraue ihm nicht! Es ist der pure Wahnsinn, beständiges Glück darin zu suchen.

Freude: Zumindest bin ich jetzt friedlich gesegelt.

Vernunft: Nicht einmal ein wildes Tier tappt in eine Falle, wenn es nicht durch etwas Angenehmes angelockt wird.

Freude: Ich bin erfolgreich gesegelt.

Vernunft: Auch Gottlose segeln erfolgreich, und die Allerheiligsten haben Schiffbruch erlitten.

Freude: Ich bin wirklich erfolgreich gesegelt.

Vernunft: Glaube mir, wenn du so weitermachst, wirst du ins Unglück segeln.

Petrarcameister - Vom glücklichen Segeln

Walther Scheidig schreibt: Dem Italiener Petrarca bedeuten Schiffahrt und Fernhandel ein Wagnis, bei dem ein gutes Glück wohl vonnöten ist. Brant und dem Petrarca-Meister scheinen diese Gedankengänge ferner gelegen zu haben. So ist ein schönes dekoratives Blatt entstanden mit Schiffen von mancherlei Form, die den Künstler aber auch als Binnenländler verraten. Der Wind scheint bald von rechts, bald von links zu wehen; die Formen des Segelschiffes am linken Bildrand sind höchst unklar. Alle Fahrzeuge sind mit erregten Menschen besetzt, die mit Muszieren, Singen und Toasten ihrer Freude über das gute Glück ihrer Fahrt Ausdruck verleihen. Nur der „Weise" neben dem Zecher im vorderen Schiff bewahrt seine nachdenkliche Haltung.

Aus geistiger Sicht kann man hier ähnlich wie in Kapitel 1.17 und 1.23 unsere „Körperschiffe“ im Meer des Lebens sehen. Man sieht gut, wie unterschiedlich jeder vorankommt, mit Rudern, Segeln oder Staken. Auch hier spielt der Zeichner mit der Zahl Sieben: sieben Schiffe, sieben Wappen und auch sieben Schilde im Vordergrund, hinter denen sieben Figuren stehen und auch die Ruderer sitzen. Die Besatzung besteht damit aus unseren innerlichen Prinzipien der Sinne usw. mit all unseren Gedanken und Wünschen, die uns vorantreiben, und es ist gut, wenn ein Weiser an Bord ist, der als Vernunft achtsam und wachsam ist. Man sollte also nicht allzu euphorisch sein, wenn das Meer des Lebens ruhig ist und es glücklich vorangeht. Stürme und Wellen werden nicht ausbleiben.

1.88. Vom sicheren Hafen

Freude: Ich habe den Hafen erreicht und bin jetzt am Ufer.

Vernunft: Viele sind im Hafen umgekommen, und mehr noch an Land. Du hast nur eine Gefahr gegen die andere getauscht, aber bist ihnen nicht entkommen.

Freude: Ich habe sicheres Land erreicht.

Vernunft: Du sprichst, als ob die Gefahren an Land kleiner oder geringer wären als auf dem Meer, nur weil sie meistens nicht so offensichtlich sind. Hat er (vermutlich Odysseus) diese nicht als gleich angesehen, der so viele schwere Gefahren sowohl an Land als auch auf dem Meer erlitten hatte?! Und nicht ohne Grund lobte Statius, dieser „arme Erforscher der Gewässer“, als er starb, die Stürme und Winde und die willkommeneren Gefahren der vertrauten Meere.

Freude: Ich bin an Land.

Vernunft: Wo du mehr Risiken begegnest, da es mehr Menschen an Land als auf dem Meer gibt. Denn das meiste Unglück eines Menschen wird von anderen Menschen verursacht, und der Tod kommt von dort, woher Hilfe kommen sollte, ganz zu schweigen von den gefährlichen Tieren, die es an Land gibt.

Freude: Wenigstens habe ich festen Boden unter meinen Füßen.

Vernunft: Aber oft ist er nicht verläßlich. Ich verzichte auf die Beispiele der Antike, wie Achaia, das übrige Griechenland, Syrien und andere Länder, wo in vergangenen Zeiten ganze Städte mitsamt Fundamenten verschlungen wurden, Berge einstürzten und Inseln versanken und verschwanden. Auch die antiken Ausbrüche des Ätna und des Vesuvs in deinem Land. Aber kürzlich wurde Rom selbst, die Stadt der Städte, von einem Erdbeben erschüttert, nicht unähnlich demjenigen, das zur Zeit des römischen Bürgerkriegs als ein ungeheuerliches Omen galt. Damals wurden auch die Alpen schwer erschüttert, und die stürzenden Bergriesen ließen das Sonnenlicht an Orte, die Jahrhunderte lang im Verborgenen gelegen hatten (Erdbeben im Friaul 1348). Ein guter Teil Deutschlands und Spaniens wurde zerstört. Du selbst hast das elende erschreckende Schauspiel gesehen, wie befestigte Städte und Burgen, die gestern noch standgehalten haben, innerhalb weniger Tage in Schutt und Asche gelegt wurden. Selbst der Rhein schien zu weinen, als er mit klagenden Wirbeln am verunstalteten Ufer der Ruinen entlangströmte, wo einst die schönsten Gebäude standen (Basler Erdbeben 1356). Glaube daher nicht, daß du sicher bist, wo es keine Sicherheit gibt.

Freude: Ich habe doch festes Land unter meinen Füßen.

Vernunft: Es ist viel sicherer, daß es dein Grab wird, als daß es dein Wohnort bleibt.

Freude: Ich freue mich trotzdem, wieder an Land zu sein.

Vernunft: Gleiches erfreut sich an Gleichem: So bist du wohl Erde.

Freude: Ja, ich bin zur Erde zurückgekehrt.

Vernunft: Noch nicht ganz, aber du wirst bald dahin kommen.

Petrarcameister - Vom sicheren Hafen

Walther Scheidig schreibt: Mit dem Ausspruch: „Ich habe den Hafen erreicht und bin jetzt am Ufer“, erklärt sich die Betrachtung und auch das Bild als eine Fortsetzung des vorangegangenen. Der Schiffsherr geht an Land, er wird dort von Freunden oder Verwandten begrüßt, die ersten Waren werden ausgeladen. Die Einwände des Petrarca, daß viele auch im Hafen noch gestorben seien, andere nahe dem Ufer, gaben den Anlaß zu der Darstellung des Schiffbruches im Hintergrund, wo ein Schiff nahe dem Ufer vom Unwetter vernichtet wird. Von den Formen der Schiffe abgesehen, wird man sich die Schiffahrt auf Main und Rhein, die Dürer zur Zeit der Entstehung dieser Holzschnitte nach den Niederlanden brachte, so vorstellen dürfen, wie sie der Petrarca-Meister gezeichnet hat. Zu bemängeln ist, daß zwar die Ruder einen gewaltigen Wasserschwall verursachen, die Ruderknechte selbst aber nicht sichtbar sind. Die Schutzschilde an der Bordwand des Schiffes sind sinnlos.

Aus geistiger Sicht sieht man, wie das „Körperschiff“ Sicherheit sucht. Die fünf Sinne wollen die angesammelten Waren an Land tragen und in Sicherheit bringen. In der Kajüte sieht man vermutlich einen Steuermann und einen Weisen, die sich hier zurückhalten. Aber das Ego schreitet stolz ans Land mit einem Siegerkranz auf dem Kopf, weil es hier hier Sicherheit für seine vergängliche Illusionsblase sucht. Dort steht eine weitere Gruppe aus sieben Figuren eng beisammen, und sie scheinen von einem Stadtherrn angeführt zu sein, der zunächst eine abwehrende Haltung zeigt. Aber das Ego versucht offenbar, ihn mit Geschenken zu überzeugen. Dazu sieht man auf beiden Seiten noch zwei Wachleute mit langen Spießen, die das große Bedürfnis nach Sicherheit ausdrücken. Im Hintergrund sieht man die befestigte Stadt mit ihren Mauern und Burgen, wo man die Sicherheit sucht, vor allem angesichts der Gefahren, die auf dem Meer des Lebens unter Blitzen und Sturmwellen lauern. Warum die Ruder immer noch rudern und einen gewaltigen Wasserschwall verursachen, liegt wohl daran, daß auch an Land das „Rudern“ für das eigenwillige Ego nicht aufhört, bis irgendwann die ganzheitliche Vernunft die Herrschaft übernimmt.

1.89. Vom Entkommen aus dem Gefängnis

Freude: Ich bin froh, aus dem Gefängnis zu sein.

Vernunft: Ich stimme dir zu, daß eine Freiheit, die dir genommen und dann wiedergegeben wurde, viel wertvoller ist, als wenn sie ständig dein gewesen wäre. Aber nicht alles, was erfreut, ist nützlich, und oft ist Süßes schädlich und Bitteres gesund. Manchmal war nicht nur das Gefängnis nützlich, sondern der Tod selbst, während Leben und Freiheit schädlich waren.

Freude: Ich genieße es, aus dem Gefängnis zu sein.

Vernunft: Vor kurzem hast du es noch genossen, in den Hafen eingelaufen zu sein, und jetzt genießt du es, raus zu kommen. Für viele hat sich das Gefängnis als Hafen und für viele als Zuflucht wie eine feste Burg erwiesen und hat die Menschen bewahrt, die in ihrer Freiheit umgekommen wären. Wer eingesperrt und mit Ketten gefesselt ist, ist leicht zu beschützen. Denn blinde Sterbliche wissen nicht, was gut für sie ist, und begehren daher nach schädlichen Dingen, und wenn sie diese bekommen, sind sie froh, das zu haben, was sie bald bereuen werden. Wir brauchen auch nicht lange nach einem Beispiel zu suchen, da wir erst kürzlich einen Mann gesehen haben (Cola di Rienzo), dessen Unternehmen viel kühner und großartiger war als von fester Dauer, denn er wagte es, sich in schwierigen Zeiten zum Patron Roms zu erklären und den Titel eines Tribuns zu ergreifen. Dann änderte sich sein Schicksal. Er wurde aus der Stadt vertrieben, und danach vom römischen Kaiser (Karl IV.) und dann vom Papst (Clemens VI.) ins Gefängnis geworfen. In beiden Fällen wurde er anständig behandelt, aber schließlich wurde er in einem unglücklichen Moment freigelassen und nicht nur getötet, sondern von den Schwertern seiner Feinde noch in Stücke gehackt. Ich glaube, er sehnte sich danach, wieder im Gefängnis zu sein, als er im Sterben lag.

Freude: Ich bin aber froh, daß ich dem Gefängnis entkommen bin.

Vernunft: Jetzt befindest du dich im stürmischen Kampf des öffentlichen Lebens und der Straßen der Städte, im rauhen Geschäft. Und wenn du diesen Sturm als Freiheit betrachtest, dann beglückwünschst du dich dazu, daß du einst von einem einzigen Schlüssel eingeschlossen warst, aber jetzt von tausend Schlingen gebunden bist. Und während alle froh sind, aus dem Sturm heraus und in den Hafen zu kommen, bist du ein außergewöhnlicher Seemann, der fröhlich den Hafen verläßt und sich dem Sturm entgegenbewegt.

Freude: Ich genieße es wirklich, dem Gefängnis entkommen zu sein.

Vernunft: Der beste Rat bezüglich dieses glücklichen Ereignisses sowie aller anderen ist, sich nicht zu sehr zu freuen und sich nicht zu viele Sorgen zu machen, sondern jederzeit Selbstbeherrschung zu bewahren, während du durch das Leben in die Dunkelheit steuerst, welche die Zukunft verschleiert. Es ist nicht so elend, ins Gefängnis zu gehen, wie die Leute sagen, und auch nicht so glücklich, daraus zu entkommen. Ach, wie oft tat das Gefängnis als Feind der Freiheit einem Menschen gut, und wie oft brachte die begehrte Freiheit Zerstörung und Tod!

Freude: Ich bin aber aus dem Gefängnis entkommen.

Vernunft: Vielfältige Umstände können einen Menschen aus diesem großen Gefängnis (der Welt) befreien, aber nur der eine Tod befreit aus dem engen Gefängnis (des sterblichen Körpers).

Freude: Ich habe ein qualvolles Gefängnis verlassen.

Vernunft: In dieses Gefängnis kannst du wieder zurückkehren. Aber sobald du das andere (des Körpers) verlassen hast, mußt du niemals wieder zurückkehren, solange diese Welt besteht.

Petrarcameister - Vom Entkommen aus dem Gefängnis

Walther Scheidig schreibt: Der stoischen Betrachtungsweise Petrarcas können Sebastian Brant und der Petrarca-Meister nicht folgen. Petrarcas Vernunft erwidert auf den Ausruf: „Ich bin froh, aus dem Gefängnis zu sein." - „Der Kerker ist vielen ein Hafen, vielen eine Befreiung und eine Festung gewesen, und hat auch diejenigen erhalten, die in der Freiheit verdorben wären.“ So mag die Rede lauten, die der Bärtige in der linken Figurengruppe an den jungen Mann richtet, der die Kerkerpforte hinter sich hat und seine Ketten nun lose in der Hand trägt. Er wehrt die Weisheit des Alten deutlich genug ab. Rechts bringen Bürger den Gefangenen hinter den Gittern Speise und Trank. Die barbarische Rechtspflege, die in anderen Darstellungen des Petrarca-Meisters noch deutlicher gezeigt wird, ist angedeutet, indem die Gefangenen dem Verhungern ausgesetzt wären, wenn sie nicht von Mitleidigen ernährt würden.

Aus geistiger Sicht geht es hier, wie in diesem ganzen Buch, nicht um die reine Freude, sondern um die egoistische, eigennützige Freude. Und das Ego versteht natürlich unter Freiheit seine eigene Zügellosigkeit, denn es kann niemals wahrhaft frei sein, weil es sich von Bindung ernährt und in wahrer Freiheit auflösen würde. Deshalb ist es heilsam, das Ego zu zügeln, und in diesem Sinne kann man auch diese ganze irdische Welt voller Begrenzungen als ein großes Gefängnis für das Ichbewußtsein betrachten, wo es in diesem engen Körper eingeschlossen die Selbstbeherrschung üben sollte, um sich selbst zu überwinden. So kann man auf der linken Seite des Bildes sehen, wie sich das Ego, das von seinen Ketten gelöst wurde, von der weisen Vernunft abwendet. Und auf der rechten Seite kann man die fünf Sinne erkennen, wie sie in dieser Welt in ihrer Ernährung gezügelt werden, die bekanntermaßen ohne Zügelung unersättlich sind. Schließlich könnte man noch fragen, wer es ist, der hier die Tür mit den Schlössern öffnet und das Ego mit gelösten Ketten aus dem Gefängnis entläßt? Dazu kann man über unseren klugen Verstand nachdenken, der, ohne auf die Vernunft zu hören, die wunderlichsten Dinge erfindet, um die egoistische Freiheit bzw. Zügellosigkeit in dieser Welt auszuleben. In dieser Hinsicht konnte der Petrarca-Meister sehr wohl der Betrachtungsweise Petrarcas folgen.

Meister Eckhart sagt: Der Geist ist hier in der Fremde… Damit man dem Geist hier in dieser seiner Fremde zu Hilfe komme und man das Fleisch in diesem Kampf etwas schwäche, auf daß es dem Geist nicht obsiege, darum legt man ihm den Zaum der Bußübungen an, und darum unterdrückt man ihn, damit der Geist sich seiner erwehren könne. Wenn man ihm dies antut, um ihn gefangen zu halten: Willst du ihn nun tausendmal besser fesseln und belasten, dann lege ihm den Zaum der Liebe an. Mit der Liebe überwindest du ihn am schnellsten, und mit der Liebe belastest du ihn am stärksten. (Predigt 59)


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