Heilung von beiderlei Glück - Francesco Petrarca

2.30. Von flüchtigen Dienern

Schmerz: Meine Diener haben mich verlassen.

Vernunft: Wenn ihre Anwesenheit lästig war, dann sollte ihre Flucht willkommen sein! Oder gibt es etwas Unangenehmes, dessen Gegenteil nicht angenehm wäre?

Schmerz: Meine Diener sind aber nun weg.

Vernunft: Ach, mögen sie zurückkommen, damit du mit deinen eigenen Augen sehen könntest, was dir dein Verstand sagt, nämlich ihre Fehler, ihre Gemeinheit, die hinterlistigen Lügen, die vielen Laster und die Diebstähle! Dann würdest du ihre Gesellschaft verabscheuen und sie an der Schwelle deines Hauses zurückweisen. So freue dich mit Recht, denn dein Haus wurde von Unheil gesäubert und von Lastern befreit!

Schmerz: Alle meine Diener sind zusammen fortgegangen.

Vernunft: Und mit ihnen gingen große Sorgen, lästige Probleme und ständige Angst. Bedenke, wie viele Bäuche du füttern mußtest, wie viele Leiber bekleiden, wie viele umherirrende Füße führen und wie viele gierige Finger beobachten, und du wirst zugeben müssen, daß du von einem belastenden Problem befreit wurdest.

Schmerz: Meine ganze Dienerschaft ist weggelaufen.

Vernunft: Und mit ihnen der Haß auf ihren Herrn, finstere Blicke und Klagen und all die Flüche und stillen Drohungen gegen dein Leben, die du nicht verdient hast! Wer ist so überheblich stolz, um nicht zu sehen, daß der Verlust so schlechter Dienste als klarer Gewinn betrachtet werden muß?

Schmerz: Meine Diener haben sich in alle Richtungen zerstreut.

Vernunft: Wer beschwert sich über die Flucht seines Feindes? Es war ein Zeichen von Julius Cäsars Stolz, daß er traurig die Flucht eines Feindes beobachtete, den er hatte töten wollen. Für bescheidenere Eroberer genügt es, den Rücken des Feindes zu sehen, und selbst dieser Cäsar befahl einst, das Leben eines fliehenden Feindes zu verschonen, und war allein mit seiner Flucht zufrieden. Du solltest es ebenso tun! Auch wenn deine Feinde eine strengere Strafe verdienten, laß es genügen, daß sie weggelaufen sind, betrachte ihre Flucht als deinen Sieg und sei froh, daß keine weitere Notwendigkeit für eine strengere Bestrafung besteht.

Schmerz: Meine Diener sind alle davongelaufen.

Vernunft: Sei dankbar, daß sie von sich aus taten, was du hättest erzwingen sollen. Der Fortgang dieser quälenden Gesellen erspart dir viel Mühe. Aber du beschwerst dich, daß sie weglaufen, vor denen du weglaufen müßtest, wenn sie geblieben wären. Deine Ausreißer sind Diener, die du hättest vertreiben sollen oder vor denen du fliehen müßtest. Jetzt bist du wieder ein freier Mann, sicher und Herr deines Hauses.

Schmerz: Sie sind aber weggelaufen.

Vernunft: Es ist das Recht des Herrn, die Ausreißer vor Gericht zu stellen. Aber ignoriere es, ihr Herr zu sein, und übe dieses Recht nicht aus! Wären sie gute (bzw. wahrhafte) Diener gewesen, wären sie nicht weggelaufen. Schlechtes loszulassen ist kein Verlust, sondern ein Gewinn. Es ist sicherer, giftigen Wesen auszuweichen, als sie zu einzufangen.

Schmerz: Meine Diener haben mich nun ganz allein gelassen.

Vernunft: Dann bist du wirklich allein und hilflos, wenn du ein Gefolge von Dienern benötigst. Hast du keine Freunde, hast du nicht dich selbst? Wie kommt es, daß deine Diener ohne dich sein wollen, du aber nicht ohne sie? Hüte dich, damit du nicht elender wirst als deine Diener! Wenn du jedoch nicht so sehr an die Diener denkst, sondern mehr an das Geld, das du für sie bezahlt hast, dann ist es nicht nur ein eitler Wunsch, sondern auch schändlicher Geiz, der kritisiert werden sollte. Aber darüber wurde schon genug gesagt, als wir über deine Verluste an Geld gesprochen haben.

Petrarcameister - Von flüchtigen Dienern

Die reizvolle Darstellung mit den Menschen in der Wald- und Buschlandschaft ist inhaltlich eine Fortsetzung des vorangegangenen Bildes. Da steht der Herr, der die Peitsche so tüchtig zu schwingen vermag, vor seiner Burg und sieht sein Gesinde davonlaufen, voran den Hausvogt, ihm nach einen Knecht, der noch ein ungesatteltes Pferd mitgehen heißt. Ein dritter Bursche mit dem Hut in der Hand rennt ihnen nach. Hinter dem Gebüsch im Vordergrund verbirgt sich noch ein Knecht, der wohl schon früher geflohen ist und nun Zweifel hat, ob die anderen ausgesandt sind, um ihn wieder einzufangen.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht könnte man das Ego mit dem Federhut sehen, das als König seiner Körperburg mit der Peitsche in der Hand zusehen muß, wie seine vier Diener, die im letzten Bild so gequält wurden, zurück in die lebendige Natur fliehen, auf dem gleichen Weg, wie sie auch in die Burg gekommen sind. Drei Gestalten bilden eine Gruppe um ein Pferd. Einer geht voran, einer reitet das Pferd und einer rennt hastig hinterher, während sich die beiden ersten nach rechts und links umschauen, vielleicht auf der Suche nach einem neuen Herrn. Darin könnten wir die fliehende Körperlichkeit mit den natürlichen Gegensätzen sehen, von denen das Gegenteil auch immer hinterhereilt. Eine vierte Gestalt sitzt im Busch und schaut staunend, gespannt und interessiert zu, was an den gedanklichen Verstand erinnert, der nun wie im Traum keine Zunge mehr hat. Wenn das Ichbewußtsein diese Diener verliert, kann es sein trennendes Bewußtsein nicht mehr erhalten, zu welchem sie auch symbolisch alle ein Messer als Werkzeug zum Zerschneiden und Trennen am Gürtel tragen, und dann wird es wirklich „All-Ein“, im wahrsten Sinne des Wortes. Das will es aber nicht, und deswegen hängt das Ichbewußtsein so sehr an diesen Dienern, wie der Schmerz berichtet, und ist nach ihnen „süchtig“ und von ihnen völlig „abhängig“. Man sagt jedoch, spätestens in der Stunde des Todes werden alle Diener fliehen, und dann wird sich zeigen, ob diese Welle des Bewußtseins verzweifelt in die Dunkelheit sinkt oder sich befreit ins Licht erheben kann.

2.31. Von lästiger Nachbarschaft

Schmerz: Ich habe lästige Nachbarn.

Vernunft: Dann sorge dafür, daß du ihnen nicht noch lästiger bist.

Schmerz: Ich muß wirklich schwierige Nachbarn ertragen.

Vernunft: Alles hängt stark von deiner Betrachtung ab. Betrachte sie als angenehm, und sie werden angenehm sein!

Schmerz: Ich habe aber schlechte Nachbarn.

Vernunft: Viele schreiben ihre eigenen Fehler den Nachbarn zu. Denn die Mängel anderer werden achtsam betrachtet, genau untersucht und streng beurteilt. Aber wenn es um das eigene Verhalten geht, verwandelt man sich gern in einen wohlwollenden Betrachter und blinden Richter.

Schmerz: Ich muß verbitterte Nachbarn bitter erleiden.

Vernunft: Vielleicht liegt der Fehler in deinem Geschmack und nicht in der Wahrheit. Selbst süße Dinge können einer verbitterten Zunge bitter erscheinen.

Schmerz: Ich muß mich über harsche und stolze Nachbarn beschweren.

Vernunft: Jeder gönnt sich selber viel und den anderen nichts, woraus viel Illusion in der Beurteilung, unaufhörliche Gegensätze und entsprechende Unzufriedenheit entstehen. Oft beginnt die Beschwerde dort, wo der eigene Fehler liegt. Woher wissen wir, ob sie nicht nur harsch, düster und feindlich auf denjenigen wirken, der ihnen gegenüber ebenso erscheint?

Schmerz: Muß ich diese unfreundlichen Nachbarn ertragen?

Vernunft: Dazu gibt es zwei Mittel: Geduld oder Flucht. Ich bevorzuge das erste, weil alle Unfreundlichkeit durch die Kunst der Geduld gemildert wird.

Schmerz: Aber diese Nachbarn sind unerträglich schlimm.

Vernunft: Wenn du nicht von Geduld profitieren kannst, wer zwingt dich dann, dort zu bleiben, wo du bist? Geh woanders hin! Die Nachbarn mögen dich nerven, aber sie werden dir nicht folgen. Wirf ihre Last ab, die du nicht ertragen kannst, und versuche, ihnen zu entkommen. Fliehe vor dem Feind, den du im Kampf nicht besiegen kannst! Was spielt es für eine Rolle, auf welchem Weg du dich in Sicherheit bringst? Kein Weg, der zum Seelenfrieden führt, sollte als zu schwierig beurteilt werden. Wenn du jedoch so etwas schon oft versucht, aber nie erreicht hast, solltest du dir bewußt werden, daß es mehr deine eigene Schuld sein könnte, als die der anderen. Denn die meisten der gewöhnlichen Streitigkeiten haben immer zwei Quellen, und keine davon ist ganz ohne Schuld. Der Mensch wird als ein „politisch-soziales Wesen“ bezeichnet, dessen Natur es ist, mit anderen zu leben, und in Wirklichkeit ist er darin nicht besonders gut. So hat der satirische Dichter Recht, wenn er sagt, daß wilde Tiere besser zusammenleben als Menschen, weil sich Bären, Wildschweine, Tiger und Löwen, sogar Vipern, Schlangen, Krokodile und tatsächlich alle Tiere immer noch friedlicher verhalten als die Menschen. Nur der Mensch kommt nie zur Ruhe. Ständig quält und verletzt einer den anderen und macht sich und seinen Nächsten mit endlosen Kämpfen und Streitereien das Leben schwer. Und so kommt es oft vor, daß dort, wo viele Nachbarn sind, sich auch die größten geistigen Abgründe eröffnen. Nachbarschaften sind also selten frei von Streit und Verbitterung. Ich denke, keiner von ihnen beneidet irgendwelche Könige von Arabien oder Indien, denn der Neid ist kurzsichtig und unfähig, in die Weite zu sehen.

Schmerz: Ich werde aber von feindlichen Nachbarn belagert.

Vernunft: Wer ganz von dieser Plage befreit werden will, muß sich in die Einsamkeit zurückziehen.

Petrarcameister - Von lästiger Nachbarschaft

Die Klage über die Nachbarn ist eine Klage von Stadtbewohnern, wo die Menschen eng beieinander wohnen müssen. Der Petrarca-Meister stellt grob sinnfällig dar, wie in der engen Gasse die Nachbarin dem friedlich dozierenden Bürgersmann aus dem Kübel wässerigen Unrat über den Kopf gießt. Ihre Bosheit vergilt ein verzweifelt aussehender Bursche, der ihr Haus in Brand setzt. Auch Petrarca kennt gegen diese Leiden keine andere Hilfe als Entsagung: „Willst du von diesem Gift allenthalben ledig bleiben, so versteck dich in einer Wüste und Einöde.“

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht können wir den „dozierenden“ Geist als erkennendes Bewußtsein in seiner Körperstadt auf dem steinigen Boden der Materie sehen, wie er von der äußerlichen Natur mit ihren Gegensätzen umgeben wird. Von oben kommt das Wasser und von unten das Feuer im Spiel von Männlich und Weiblich, Geist und Natur oder Körper und Seele. Dabei greifen die Gegensätze gezielt an den Wurzeln bzw. Ursachen an: das löschende Wasser am gedanklichen Verstand, der das Ego stützt, und das auflösende Feuer am Stützbalken des körperlichen Hauses.

2.32. Von Feindschaften

Schmerz: Ich habe Feindschaften.

Vernunft: Dann achte darauf, ein Freund der Gerechtigkeit zu sein, denn es gibt keine bessere Verteidigung als diese. Wahre Tugend ist frei von feindlichem Unglück.

Schmerz: Man ist mir aber feindlich gesinnt.

Vernunft: Damit wirst du vorsichtiger und weiser. Viele sind vor allem durch Feindschaften ans Licht gekommen, die sonst im Dunklen geblieben wären.

Schmerz: Ich habe von allen Seiten Feinde.

Vernunft: Sie werden verhindern, daß dich Wünsche und Freuden beherrschen, diese unsichtbaren Feinde des Geistes. Dein Schicksal hat dir damit keine Feinde zugeteilt, sondern Wächter, also ein kleineres Übel, das ein größeres abwehrt.

Schmerz: Ich werde überall von Feinden belagert.

Vernunft: Und du wirst sogar von deinen eigenen Leidenschaften belagert. Auf ihrer Seite ist dein Rächer, und nicht nur einer allein. Dort kämpfen Zorn, Angst, Haß und Unruhe, die nie aufhören, ein Verbrechen zu bestrafen. Und manchmal geht die Rache sogar dem Verbrechen voraus, das nur droht und vielleicht nie geschehen wird. So stehen deine Feinde bewaffnet, beunruhigt, schwitzend, erhitzt, keuchend und aufgeregt da, und vielleicht wird dich gar keiner von ihnen angreifen. Viele versuchen sogar, sich selbst mit starkem Haß auf sich selbst zu beschützen, um anderen keinen Schaden zuzufügen.

Schmerz: Ich muß aber mit meinen Feinden kämpfen.

Vernunft: Ja, du kämpfst zusammen mit ihnen. Und manchmal ist es sicherer, mit Feinden zu kämpfen als mit Lastern. Denn wer einen anderen haßt, fügt zuerst seinem Geist und dann nicht selten seinem Körper eine Wunde zu. Ein zu großes Begehren, zuzuschlagen und zu verletzen, hat schon viele ungeschützt und nackt in die Hände ihrer Feinde geliefert. So wendet sich die Ursache solcher (auf „andere“ gerichteten) Feindschaften immer gegen ihren Urheber und zuweilen auch die Wirkung, während der unverletzt bleibt, gegen den die Verletzung gerichtet war.

Schmerz: Ringsherum entstehen Kriege gegen mich.

Vernunft: Nie war das römische Volk berühmter und erhabener als zu der Zeit, als es in viele ernsthafte Kriege verwickelt war. Der Frieden war der Beginn seines Niedergangs, denn der Frieden war von verführerischer Begierde begleitet, einem tödlichen Feind.

Schmerz: Ich habe große Feindschaften.

Vernunft: Große Feindschaften waren oft der Anfang großer Freundschaften.

Schmerz: Ich habe wirklich Feinde.

Vernunft: Dann habe auch Vertrauen und Erbarmen! Darüber hinaus solltest du, was auch immer passiert, deine Feinde mit Menschlichkeit und Tugend besiegen. Die Regeln der Fairneß gelten sogar gegenüber den Feinden, mit denen du so umgehen solltest, als ob es keinen Zweifel gäbe, daß sie auch Freunde werden könnten. Diesen Rat solltest du mehr berücksichtigen als den von Bias, der vorschlägt, deine Freunde zu lieben, ohne zu vergessen, daß sie deine Feinde werden könnten. Diese Aussage, die mir und Cicero sicherlich nicht gefällt, obwohl sie von einigen gelobt wurde, vergiftet wahrscheinlich jede Freundschaft. Du solltest an Liebe denken, wenn du haßt, aber nicht an Haß, wenn du liebst. Deshalb sind diese Worte von Aristoteles denen von Bias bei weitem vorzuziehen: „Wir sollten nicht, wie gesagt, so lieben, daß wir eines Tages wieder hassen können, sondern viel besser so hassen, daß wir eines Tages wieder lieben können.“ Das schrieb Aristoteles und tadelte Bias und seinen vorschnellen, böswilligen Satz. (Bei dem es vermutlich um den Ausgleich von Begierde und Haß geht, um die Gegensätze zu überwinden und die reine Liebe zu erreichen.)

Schmerz: Ich habe aber Feindschaften.

Vernunft: Doch nimm sie ungern an, und wenn deine Brust auch eine Krieger-Rüstung trägt, so laß das Herz, das darin wohnt, das eines Freundes des Friedens sein. Ziehe nur in den Krieg, wenn du wirklich gezwungen bist, damit die Menschheit nicht dem Haß unterliegt und du dem Streben nach Rache statt nach Ehrlichkeit und Wohlstand. Weißt du, daß Hannibal den Römern gegenüber verhaßter war als Pyrrhus? Jeder von ihnen war ein Feind. Doch Pyrrhus war damals nicht mit Haß wie Hannibal in Italien eingefallen, sondern einfach um zu siegen. Man muß sich also in jeder Hinsicht bemühen, damit aus seinen Taten wahre Tugend hervorgeht, und es muß immer klar sein, daß man im Krieg nichts anderes als einen ehrlichen Frieden sucht.

Petrarcameister - Von Feindschaften

Petrarca meint mit seinem Text noch die ritterliche Fehde im mittelalterlichen Sinne. Feindschaft sei von Nutzen, man könne dann nicht faul und lässig leben, sondern müsse wachsam und wacker sein. Das römische Volk sei nie rechtschaffener und berühmter gewesen als zu Zeiten, in denen es viele Feinde gehabt habe. Demgegenüber stellt der Petrarca-Meister die „Feindschaft“ so dar, wie ihr damals jedermann auf seinen Wegen außerhalb der Mauern der Stadt begegnen konnte. Ein Raubritter hält dem unvorsichtig allein reitenden Kaufmann die gespannte Armbrust vor das Gesicht und holt sich als „geschworener Feind“ der Stadt, in deren Bereich man sich befindet, den vollen Beutel als Beute. Hinter dem Ritter lauern die Spießgesellen im Gebüsch, um notfalls Hilfe zu leisten. Der Wald ist in die Handlung einbezogen, er hat den Raubritter soeben noch verborgen gehalten und schützt jetzt noch die Gesellen. Der Künstler hat einen großen Reichtum von Vegetation ausgebreitet, bald ist der Blick von Bäumen und Büschen verstellt, bald öffnet sich die Sicht in die Ferne. So gehört der Wald mit dem Überfall und dem Raubvolk direkt zusammen. Der Charakter der Landschaft ist der Erzählung angepaßt, wie es in dieser Frühzeit der deutschen Landschaftskunst immerhin zu den Seltenheiten gehört.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht könnten wir rechts in der dunklen Natur versteckt die drei Gesellen wiederfinden, nämlich Begierde, Haß und Unwissenheit. Letztere hat sich stolz über die beiden anderen zum Eigenwillen erhoben und greift nun links im Bild auf dem Pferd der Körperlichkeit den Geist an, der als Händler bzw. Handelnder ebenfalls auf einem solchen Pferd bzw. Tierwesen reitet, um sich das „Vermögen“ des Händlers anzueignen. Das geschieht alles noch in der Natur, die wiederum diesen drei Gesellen feindlich erscheint, wie der einzelne Bewaffnete im Hintergrund andeuten könnte. Angesichts dieser Feindschaft versucht sich das stolze Ichbewußtsein zusammen mit seinen drei Gesellen und dem angeeigneten Vermögen in seiner Ego-Burg in Sicherheit zu bringen, die links im Hintergrund die Natur überragen soll, wie der berühmte Turmbau zu Babel.

2.33. Vom Unvermögen zur Rache

Schmerz: Ich habe das Vermögen verloren, mich zu rächen, wie ich will.

Vernunft: Wer Sünde verliert, hat nichts verloren, sondern viel gewonnen. So ist es zu deinem Vorteil, bestimmte Dinge zu verlieren, die du hast. Und es ist ein noch größerer Vorteil, sie zu vermeiden und nie zu haben.

Schmerz: Ich habe die Macht zur Rache verloren.

Vernunft: Es ist tatsächlich ein glücklicher Verlust, etwas zu verlieren, das einen verletzen könnte.

Schmerz: Ich werde an erwünschter und erhoffter Rache gehindert.

Vernunft: Das Beste ist, gar nicht bösartig handeln zu wollen, und das Nächstbeste, daran gehindert zu werden.

Schmerz: Ich muß nun auf die Rache verzichten.

Vernunft: Wenn es die beste Art von Rache ist, sich nicht rächen zu wollen, dann ist es auch gut, wenn man verzichten muß. Am besten ist, die Tugend um ihrer selbst willen anzunehmen, am zweitbesten, dazu gezwungen zu werden.

Schmerz: Ich bedauere, daß mir die Rache genommen wurde.

Vernunft: Vielleicht kommt bald eine Zeit, daß du dich darüber freuen wirst und nichts anderes wünschst. Denn manche beginnen, wenn sie zu etwas gezwungen werden, es auch zu wollen und zu mögen. So wird eine Zustimmung aus der Notwendigkeit geboren, und wenn sich der Wille entwickelt, es zu tun, hört die Notwendigkeit auf, eine Notwendigkeit zu sein.

Schmerz: Ich dachte, die Rache wäre möglich, aber ich konnte es nicht.

Vernunft: Nicht fähig zu sein, Böses zu tun, ist eine große Macht, die zweifellos dem Allmächtigen gehört.

Schmerz: Die Rache wurde aus meiner Hand genommen.

Vernunft: Dann stell dir eine giftige Schlange vor, die dir aus der Hand genommen wurde, und paß auf, daß sie nicht wieder hineinkriecht. Nichts widerspricht dem Menschen so sehr wie seine Unmenschlichkeit, die ihn dazu bringt, kein Mensch mehr zu sein. Das Wort selbst weist darauf hin, daß dies so ist. Keine Krankheit ist so widrig, nicht einmal der Tod, denn der Tod geschieht im Einklang mit der Natur, die Unmenschlichkeit aber nicht. Gegen Menschen zu wüten ist unmenschlich, auch wenn es scheinbar gute Gründe dafür gibt. Man sollte nicht aufgrund seiner eigenen Erinnerung oder seines persönlichen Leidens einem verletzten Geist nachgeben und die Gebote der gemeinschaftlichen Natur vergessen.

Schmerz: Ich werde es für immer bereuen, daß mir die Rache verwehrt war.

Vernunft: Vielleicht wirst du dich auch für immer freuen. Was glaubst du, wie oft es vorkommt, daß nach Überwindung der Feindschaft eine Freundschaft wiederhergestellt wird, und manche in der Umarmung ihrer Freunde entsetzt denken: „Sind das jene, die ich vernichten wollte, so daß ich in meiner Bösartigkeit auch fast erfolgreich gewesen wäre? Oh gütiges Schicksal, du hast das grausame Begehren in natürliche Zuneigung verwandelt!“

Schmerz: Ich kann meinen gerechten Zorn nicht ausüben.

Vernunft: Gerechten Zorn findet man selten, denn es steht geschrieben: „Denn des Menschen Zorn tut nichts, was vor Gott gerecht ist. (Jak. 1.20)“ Und von einem anderen Autor (Horaz): „Zorn ist unverläßlicher Wahnsinn. (Deshalb beherrsche deine Leidenschaft, sonst beherrscht sie dich!)“ Daher ist es am besten, nicht zornig zu werden, nicht nur wegen der Rache, sondern um deinen Zorn zu zügeln, damit er deinen Geist nicht beherrscht und verführt. So ist es schließlich gut, sich nicht rächen zu können, selbst wenn du es willst.

Schmerz: Ich habe eine gute Gelegenheit zur Rache verpaßt.

Vernunft: Doch die noch bessere Vergebung ist dir geblieben, und das Allerbeste ist das Vergessen. Dies machte Julius Cäsar zum berühmtesten aller Kaiser. Zahllos und gewaltig waren seine Siege, ruhmreich seine Triumphe und unübertroffen sein militärisches Genie, seine Intelligenz und seine Beredsamkeit. Er stammte aus einer Adelsfamilie, hatte eine große körperliche Herrlichkeit und einen unbezwingbaren Geist. Doch wenn du all dies bedenkst, wirst du feststellen, daß er sich vor allem durch Barmherzigkeit und das Vergeben von Beleidigungen auszeichnete. Doch dies bereitete auch den Weg für seinen Tod, und es war in der Tat gerechtfertigt, daß bei seiner Beerdigung diese Worte von Pacuvius gesungen wurden: „Habe ich diese Männer gerettet, damit sie mich ermorden?“ Aber wie auch er dem Tod nicht entgehen konnte, scheint es fast wünschenswert, aus einem solchen Grund zu sterben.

Petrarcameister - Vom Unvermögen zur Rache

„Mir wird mit Gewalt das Vermögen der gewünschten Rache genommen.“ Die Klage des Schmerzes hat einen nicht ganz alltäglichen Sachverhalt zum Gegenstand, nämlich daß sich einer beschwert, seine Rachegelüste nicht befriedigen zu können. Petrarca hatte das Thema anscheinend gewählt, um seine humanistische Lehre vom Wesen des Menschen auszubreiten… Hier steht Petrarca als Humanist, als Mitbegründer der Renaissance in hellstem Licht. Beachtlich ist auch, daß er nicht die christliche Lehre mit ihrem göttlichen Gebot „Die Rache ist mein, ich will vergelten“ herangezogen hat. - Der Petrarca-Meister illustriert nach dem Alltagsverstand und nicht nach philosophischen Grundsätzen. Zwei Handwerker haben Streit gehabt, und beim Kirchgang vor dem Kirchenportal zieht beim Begegnen der eine gegen den anderen das Schwert. Der Angegriffene sucht bei dem Priester Schutz, der eben im Begriff ist, in die Kirche einzutreten. Freunde fallen dem Angreifer in die Arme und hindern ihn daran, Rache zu nehmen. Sie hindern ihn vor allem an einer Unbesonnenheit, denn der Überfall beim Kirchgang vor dem Kirchenportal, halb mit gegen den Priester gerichtet, hätte schwere Folgen gehabt. So betrachtet, sagt die Darstellung des Künstlers nichts direkt gegen die Rache, sondern nur gegen die unüberlegte Situation, die dem Rächer zum Unheil hätte werden können.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht können wir auf der linken Seite den Willen zur Rache sehen. Hinter ihm stehen drei Gestalten, die an unsere drei Gesellen von Begierde, Haß und Unwissenheit erinnern, von denen sich die Unwissenheit zum klugen und gelehrten Verstand erhoben hat, der zwar die Hände zum Gebet faltet, aber wofür er betet ist fraglich. So steht nun auch die Frage, was könnte den Willen an seiner Rachsucht aus geistiger Sicht hindern? Dazu werden um ihn herum drei bärtige Männer vor dem Eingang zur Kirche dargestellt, die an den gereiften Geist erinnern, der wohl kein Objekt der Rache mehr sein kann. Denn er hält sich an den geistlichen Priester als seinen Verstand, der betend in die heilige Kirche strebt, in das Gotteshaus, wo der Heilige Geist jede weltliche Feindschaft und geistige Trennung heilen und auflösen kann. Und dahin wird der Verstand von einer ebenfalls betenden Frau geführt, was ein Symbol für Mutter Natur sein könnte, die den Geist wieder zur Einheit führen soll, zum Heiligen Geist und zur Vernunft.

2.34. Vom Haß des Volkes

Schmerz: Die Leute hassen mich.

Vernunft: Das ist nun das Ende der Volksliebe, vor der ich dich gewarnt habe: Haß statt Liebe!

Schmerz: Die Leute hassen mich ohne Grund.

Vernunft: Bist du überrascht, daß dich Menschen ohne Grund hassen, wenn sie dich zuvor ohne (vernünftiges) Urteilsvermögen geliebt haben? Daraus folgt: Wenn Mäßigung fehlt, muß die Neigung auf andere Weise beherrscht werden (durch eine entsprechende Gegenkraft).

Schmerz: Ich werde von den Leuten gehaßt.

Vernunft: Sie sind wie wilde Tiere, die schnell verletzen, aber nur langsam (zahm werden und) dienen. Die Liebe der gemeinen Menge wiegt leicht, und ihr Haß schwer.

Schmerz: Das Volk ist gegen mich entbrannt.

Vernunft: Applaus von Liebenden und Verletzung von Hassenden: Eine seltsame Hoffnung, und eine seltsame Gefahr!

Schmerz: Der Haß der Leute trifft mich hart.

Vernunft: Nichts ist ungestümer als eine Menge Narren, wenn die öffentliche Wut den Wahnsinn Einzelner erregt, die Wut Einzelner die öffentliche Wut erzeugt und das eine das andere verstärkt. Nichts ist gefährlicher, als in ihre Hände zu fallen, die das Recht durch ihre Willkür ersetzen und blind ihr Urteil fällen.

Schmerz: Ja, diese Leute hassen mich!

Vernunft: Ich wünschte, sie hätten dich nicht geliebt oder dich nicht einmal gekannt. Die Liebe bösartiger Menschen endet in Haß. Sowohl ihre Liebe als auch ihr Haß sind bitter. Nur auf ihre Unwissenheit ist Verlaß.

Schmerz: Nun hassen mich aber die Leute.

Vernunft: Menschen voller Haß müssen entweder beruhigt oder gemieden werden.

Petrarcameister - Vom Haß des Volkes

Neben dem Ständebaum aus dem ersten Buch zu Kapitel 16 ist dies die Darstellung, die besonders Aufschluß über die Haltung des Petrarca-Meisters zu den Ereignissen seiner Zeit gibt. Ein Ritter in prächtiger Rüstung mit langen, wallenden Federbüschen auf dem Helm ist von der Burg herabgekommen, um mit den revolutionären Bauern zu verhandeln. Sie führen groß die Bundschuhfahne mit sich und sind mit Schwertern, Hellebarden, Spießen, Gabeln, Dreschflegeln und Beilen bewaffnet. Um den Ritter bilden sie mit den Speeren einen Ring nach Landsknechtsitte, zum Zeichen seiner Unverletzlichkeit während der Verhandlungen. - Es braucht nicht gesagt zu werden, auf welcher Seite das Herz des Petrarca-Meisters schlägt. Der übertriebene Prunk des Ritters und die Arroganz, mit der er sich auf das Einhalten der Verhandlungssitten verläßt, geben darüber Aufschluß. Ebenso auch die lebhafte Schilderung der Bauern mit allen Einzelheiten ihrer Kleidung, Bewaffnung und ihres Ausdruckes. Von tiefem Wissen zeugt die Differenzierung der Bauern: Denen, die verhandeln und den Parlamentär schützen wollen, stehen solche gegenüber, die das Schwert ziehen und für kurzen Prozeß sind. - Der Text Petrarcas scheint seine Erfahrungen aus Cola di Rienzos Aufstand zu verarbeiten: „Die Liebe des Volkes wiegt leicht, und ihr Haß schwer…“

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht können wir das Ichbewußtsein in seiner Ich-Blase als gepanzerten Ritter mit seinem Federschmuck auf dem Kopf vor seiner Ego-Burg erkennen. Er wird von den Bauern als Wesen der Natur mit ihren Waffen umzingelt und auch angegriffen. Dabei geht es natürlich nicht darum, das Ego als Bewußtsein einfach nur zu töten, weil der Tod das geistige Grundproblem nicht lösen kann. Das haben wohl auch damals einige Bauern erkannt und drängen auf „Verhandlung“, das heißt, ein lebendiges Lösen dieses Problems der Gegensätze, um die Bindungen des Menschen zu überwinden. Auf dieses Problem der Bindung verweist wohl auch die Bundschuhfahne mit dem symbolischen Bauernschuh, der mit langen Binderiemen gebunden wurde, die nun gelöst werden sollen. Es geht also praktisch um ein friedlich-freies Miteinander und kein feindlich-gebundenes Gegeneinander, was in der Vielfalt der Natur nur durch eine geistige Einheit erreicht werden kann, also den Weg der Vernunft bzw. des Heiligen Geistes als ein ganzheitliches Bewußtsein in einer vielfältigen und lebendigen Natur. Dazu ragt wohl auch hinter dem Ritter der Baum des Lebens in den Himmel und breitet seine Krone über das „ganze Geschehen“ aus.

2.35. Vom Neid

Schmerz: Ich werde von vielen beneidet.

Vernunft: Lieber beneidet als bemitleidet.

Schmerz: Ich werde vom Neid meiner Rivalen heimgesucht.

Vernunft: Welcher Freund der Tugend war je von dieser Heimsuchung frei? Durchlaufe im Geist alle Länder, alle Jahrhunderte und wälze alle Geschichtsbücher, und du wirst kaum einen finden, der gegen diese Krankheit immun geblieben ist. Ich möchte keine Diskussion beginnen, die uns zu weit führen würde, aber wenn du dich erinnerst, was du alles gelesen hast, wirst du viele kennen, deren Gesellschaft nicht nur dein Trost, sondern auch deine Stärkung sein könnte.

Schmerz: Man beneidet mich sehr.

Vernunft: Dann laß ab von Ehren und öffentlichen Ämtern, und hör auf, von deiner stolzen Aufmachung und deinem prächtigen Gefolge reden zu lassen. Halte dich soweit wie möglich von den Augen böser Neider fern, um sie nicht durch deinen Anblick, deine Worte oder deine Gewohnheiten dazu aufzufordern, mit dem Finger auf dich zu zeigen. Das gemeine Volk und ihr Neid leben auf den Straßen, wie fast alle Übel. Solche Feinde werden auf keinem besseren Weg besiegt, als zu fliehen und sich zu verstecken.

Schmerz: Aber ihr Neid folgt mir, wohin ich mich auch flüchte und verstecke.

Vernunft: Dann entferne die Ursache dafür, und du beseitigst das Übel. Geh sparsam mit übermäßigem Reichtum um und vermeide oder verstecke alles, was durch besonderen Reiz gierige Gemüter entzünden könnte. Und wenn du auf etwas nicht verzichten kannst oder willst, dann verwende es zumindest maßvoll. Denn Neid wird durch überhebliche Angeberei entfacht, aber durch Demut gemildert. Es gibt wohl auch radikale Heilmittel, die den Neid wirksam abwehren, doch oft schlimmer als die Krankheit selbst sind, nämlich erbärmliches Elend oder schändliches Leben. Über das Erste wurde an anderer Stelle gesagt, daß nur das Elend frei von Neid sei. Und auf das Zweite trifft ein Spruch des Sokrates zu. Als Alkibiades ihn fragte, wie man Neid vermeiden könne, antwortete Sokrates: „Lebe wie Thersites, über dessen Leben, falls du es nicht kennst, in Homers Ilias nachzulesen ist.“ Eine ironische und typisch sokratische Antwort, denn es macht keinen Sinn, die Tugend zu meiden, um dem Neid zu entgehen, und es ist besser, wie Achilles zu sein und den Neid zu ertragen, als Thersites, ohne Tugend. Dennoch ist es eine bekannte Tatsache, daß einige große Männer manchmal ihre Tugend und Intelligenz versteckt haben, um sicher zu leben.

Schmerz: Viele beneiden mich.

Vernunft: Um diese Geißel loszuwerden, kann man auch unglücklich oder faul werden. Aber wenn du den Neid auf diese Weise loswirst, wirst du in Verachtung fallen. Beides zu vermeiden, Neid und Verachtung, ist sehr schwer.

Schmerz: Der Neid vieler bedrückt mich.

Vernunft: Manche sagen, es gibt noch einen anderen Weg, den Neid auszurotten, nämlich durch vorzüglichsten Ruhm. Dieser Weg wird selten gewählt, und viele, die ihn zu erklimmen versuchen, rutschen wieder in das zurück, vor dem sie fliehen wollten.

Petrarcameister - Vom Neide

Der Petrarca-Meister stellt den Neid in der Verkörperung eines Drachen mit vielen Köpfen dar. Die Rolle des Neides war für den Drachen besonders passend, denn die Eigenschaften, die ihm das Mittelalter beilegte, lauten bei Konrad von Megendorf (bzw. Megenberg) beispielsweise, daß sein Atem giftig und todbringend sei und daß derjenige sterben müsse, den ein Drache mit seinem Schwanz umschlinge. Nach solchen Fabeln hat sich der Petrarca-Meister gerichtet: Ein König wird vom Schweif des vierköpfigen Drachen umschlungen, er hat schon Zepter und Krone verloren. Jetzt trifft der giftige Atem einen Herzog, der noch selbstbewußt und ahnungslos in Positur steht. König und Herzog sind gewählt, um auf Petrarcas Worte einzugehen, nur unter den Armen gebe es keinen Neid, es gönne einer dem anderen dort seine Armseligkeit. Für die Drachen hatte der Petrarca-Meister in den Darstellungen in Dürers „Apokalypse“ Vorbilder genug, die er in seiner Darstellung frei und in selbständiger Auffassung verwendete.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht können wir einen fünfköpfigen Ego-Drachen sehen, der im Mittelalter auch als Symbol des Teufels verwendet wurde und mit seinem langen und schlangenförmigen Schwanz die ganzheitliche bzw. göttliche Vernunft umwickelt und bindet, die eigentlich der wahre König im Menschen sein sollte. Das erinnert auch an den Sündenfall im Paradies durch die teuflische Schlange, so daß das Ichbewußtsein in Adam und Eva erwachte, die nun vom Baum der Gegensätze aßen und aus dem Paradies in eine Welt der Gegensätze von Gut und Böse sowie Mein und Dein fielen, wo dann auch der Neid regiert. Der Herzog, der unter der Herrschaft des Ichbewußtseins noch bestehen darf, wäre dann der gedanklich-begriffliche Verstand, der nur in Gegensätzen denken und Gegensätze begreifen kann. Sein „selbstbewußter“ oder besser „ichbewußter“ Kopf ist im Bild symbolisch eng mit den Drachenköpfen verbunden, besonders mit dem mittleren, der Eselsohren trägt, und schaut auf seine Hand und was er damit „begreifen“ kann. Die fünf unterschiedlichen Drachenköpfe erinnern an die fünf Sinne, die mit ihren langen Zungen und ihrem feurigen Atem das begriffliche Denken anregen, antreiben oder anfeuern. Ihr Atem wäre dann durch das trennende Ichbewußtsein vergiftet. Das heißt, durch die Trennung vom Ganzen entsteht auch die Vergänglichkeit mit Krankheit, Alter und Tod. Die vier mächtigen Füße erinnern an die vier Elemente, auf dem dieses Bewußtsein steht, und die beiden kleinen Flügel an das Spiel der Gegensätze, das in dieser Welt alles bewegt. Werden diese Flügel einseitig gebraucht, kippt man um, gegensätzlich gebraucht, schwankt man hin und her, und ausgeglichen harmonisch gebraucht, kann man sich erheben. Doch oft sind diese Flügel viel zu klein und ungeeignet, um sich mit der angesammelten Körperlast in ein höheres Bewußtsein zu erheben. Und das ganze Wesen erscheint in einer lebendigen Natur vor einem steilen Abgrund, an dem sich symbolisch die Schwanzspitze wie eine Schlange herabwindet. - Wunderbar! Es ist immer wieder erstaunlich, mit welcher Genialität der Petrarca-Meister die tiefen Wurzeln der Übel versinnbildlicht, über die sich der Schmerz beschwert.

2.36. Von der Verachtung

Schmerz: Ich werde verachtet.

Vernunft: Wenn es wirklich gerechtfertigt wäre, gäbe es wohl einen Grund zur Bekümmerung, und du müßtest es ertragen. Andernfalls sollte man darüber lachen, denn es gibt nichts Lächerlicheres und nichts Häufigeres, als daß ein weiser Mensch von dummen Narren verachtet wird.

Schmerz: Ja, so werde ich verachtet.

Vernunft: Einige sagen, daß dieses Wort vierfach Gutes bedeutet, nämlich die Welt verachten, niemanden verachten, sich selber verachten und verachtet zu werden. Du gebrauchst aber nur die letzte Bedeutung.

Schmerz: So ist es, viele verachten mich.

Vernunft: Wenn es die Älteren oder Gleichrangigen tun, dann ertrage es. Erstere üben ihr Recht aus, weil die Älteren gewöhnlich auf die Jüngeren herabschauen. Letztere versuchen, sich durch diese Verachtung überlegen zu fühlen, wenn sie es nicht anders können. Laß ihnen diese Narrheit und ihren Wahn, und mißachte ihre Verachtung, was ihnen Schande und dir Ruhm bringt. Der oben erwähnte Thersites verachtete Achilles, Zoilus verachtete Homer, Antonius verachtete Augustus, Evangelus verachtete Virgil, Calvus verachtete Cicero, und Herodes, der schlimmste und elendste aller Menschen, wie wir aus den Evangelien wissen, verachtete Christus. Aber inwiefern hat diese Verachtung den Verachteten geschadet oder den Verächtern genützt?

Schmerz: Ich werde verachtet und ausgelacht.

Vernunft: Ich weiß nicht, warum sie dich auslachen und welcher Witz in gemeinen Köpfen ist. Doch je niedriger sie sind, desto unbedeutender ist ihr Spott. Was ist die Rolle eines Schauspielers? Damit einer über den anderen lacht.

Schmerz: Ich werde aber auch von anderen verachtet.

Vernunft: Dann denke darüber nach, ob du andere verachtest oder vielleicht verachtet hast. Es ist die Art der Menschen, zu verachten und verachtet zu werden, um sich mit gegenseitigem Haß und Verachtung zu verfolgen. Du willst verehrt werden, aber verehrst wiederum niemanden. Du willst Gott gefallen, aber keines seiner Werke gefällt dir so, daß du zufrieden bist. Darüber hat Cicero edel gesprochen, soweit irgendetwas edel gesprochen werden kann, was im Namen der Götter gesagt wird. Er sagte: „Wie absurd ist es für uns, von den unsterblichen Göttern zu erwarten, daß sie uns lieben und schätzen, wenn wir selbst einander hassen und verachten!“ Noch mächtiger sind die Worte Maleachis: „Haben wir nicht alle einen Vater? Hat uns nicht ein Gott erschaffen? Warum verachten wir dann einer den andern…? (Mal. 2.10)

Schmerz: Es bekümmert mich sehr, daß ich verachtet werde.

Vernunft: Auch wenn niemand verachtet werden will, wollen doch viele gefürchtet werden. Dennoch ist es viel sicherer, verachtet als gefürchtet zu werden. Und ich kann Seneca nicht zustimmen, der in einem seiner Briefe schreibt: „Es ist ebenso schädlich, verachtet zu werden, wie argwöhnisch bewundert zu werden.“ Ich denke, an anderer Stelle sagt er besser: „Es ist gefährlicher, gefürchtet zu werden, als verachtet zu werden.“ Dementsprechend solltest du aus dem alten Spruch der Weisen lernen, daß du diese drei, über die wir so viel gesprochen haben, vermeiden mußt. Alle drei sind Übel, doch das letzte Übel ist zweifellos am wenigsten schädlich, aber dafür am schändlichsten. Und jedes der drei hat sein eigenes Heilmittel: Haß wird durch Nachsicht gemildert, Neid durch Mäßigung, und Verachtung durch Freundschaft mit Erhabenen, ehrliche Betätigung und das Streben nach Tugend. In Rom war anfangs niemand verachteter als Brutus, aber später wurde niemand höher geachtet als er. Auch du solltest dich mit Gutem und Erhabenem beschäftigen, um nicht verachtet zu werden.

Petrarcameister - Von der Verachtung

Für die Darstellung des Petrarca-Meisters, wie ein Mann von Böswilligen mit Steinwürfen davongejagt wird, hat Sebastian Brant das Hauptmotiv angegeben und hat sicher auch auf den Holzschnitt des jungen Dürer verwiesen, den dieser für die Ausgabe des „Narrenschiffs“ von 1494 geschaffen hatte. Auch dort wird ein braver Mann von Narren mit Steinwürfen verfolgt, und der Holzschnitt hat sowohl in Kapitel 42 „Von Spottvögeln“ als auch in Kapitel 105 „Verhinderung des Guten“ Verwendung gefunden. Abgesehen von dem Gedanken, Verachtung durch Steinwürfe zu bezeugen, hat der Petrarca-Meister sich aber in keiner Weise an Dürers Vorbild gehalten. In einer Dorfgasse wird ein ordentlich gekleideter Bauer von drei üblen Burschen mit Steinwürfen gejagt. Die Verfolger tragen die gleiche Bauernkleidung, nur ist sie bei ihnen zerfetzt und verschlissen. Die Zeichnung ist ein Meisterwerk in Hinsicht auf die Darstellung der Aktionen. Die Bewegungen beim Werfen, die Abwehr des Verfolgten, der Gesichtsausdruck der Verfolger sollten beachtet werden, dabei besonders die Gestalt des Burschen, der im Vordergrund, brüllend vor Wut, Steine und Kot vom Boden rafft. Auch die Dorfgasse ist durchstudiert und mit vielen Einzelheiten geschildert: die strohgedeckten Hütten, die verfallenen Zäune, das Gerät neben den Häusern, abgestellte Wagenräder, eine roh gezimmerte Kiste. Im Ganzen ein eindringliches Bild vom primitiven Leben im Dorf. Zum Kontrast zeichnet der Petrarca-Meister noch eine Art von Herrenhaus in die Dorfgasse, ein unwahrscheinliches Gebäude mit einem Umgang in halber Höhe und mit großen butzenscheiben-verwahrten Fenstern. Es ist das gleiche Gebäude, wie es schon in der Einleitung von Band 2 als Gegensatz zur Bauernhütte verwendet wurde, dessen Formgebung wahrscheinlich auf unklaren Vorstellungen von italienischen Villen beruht.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht erinnern uns die drei Steinwerfer, die wohl eher mit Grasbatzen werfen, symbolisch an die drei bekannten Gesellen von Begierde, Haß und Unwissenheit: Begierde ergreift die Batzen, Unwissenheit zielt und Haß wirft. Damit wird hier der Geist getrieben, beleidigt und auch verachtet, dessen Bewußtsein ein „Bauer“ in der Natur sein will. Entsprechend sieht man links im Bild das einfache bäuerliche Leben des Körperbewußtseins in den niedrigen strohgedeckten Hütten und rechts das stattliche stolze Leben des Ichbewußtseins in seinem herausragenden Körperhaus mit den fünf Fenstern, aber mit den drei „elenden“ Gesellen. Beide Welten haben ihre Zäune bzw. Grenzen, und zwischen ihnen gibt es entweder Haß oder Begierde, die von der Unwissenheit genährt werden. Über beide hinaus sollte sich die Vernunft zu einem ganzheitlichen bzw. göttlichen Bewußtsein erheben, in dem es keine gegenseitige Verachtung mehr geben kann, was auch Petrarca im Text empfiehlt.

2.37. Von unerfüllten Versprechen

Schmerz: Was mir versprochen wurde, kommt zu spät.

Vernunft: Warum beschwerst du dich speziell über etwas, das ein gemeinsames Merkmal der Menschen ist? Nichts erniedrigt ein Geschenk mehr, als es nach langem Zögern mit saurer Miene zu geben. Doch das ist die Gewohnheit, daß man schnell empfangen will aber nur langsam geben. Das eine eifrig und gern und das andere träge und ungern. Das ist eine doppelte Wurzel der Undankbarkeit und eine doppelte Ursache für Klagen, denn die einen ärgern sich über die Langsamkeit und die anderen über die Eiligkeit.

Schmerz: Mir wurde viel versprochen, aber noch nichts erfüllt.

Vernunft: Viele Versprechen verdienen wenig Glaubwürdigkeit. Du kennst die Eitelkeit des Menschen, und du kennst seine Schmeichelei und seine Lügen. Hat dir jemand viel versprochen? Es genügt, daß er die Versprechungen gemacht hat. Nun geh und suche dir einen anderen, der sie erfüllt! Der Mensch allein kann nicht alles machen. Er hat es nur versprochen, damit du ihn in der Zwischenzeit liebst.

Schmerz: Ja, was mir versprochen wurde, wurde nicht gegeben.

Vernunft: Von den zwei Arten der Habgier ist das Festhalten mächtiger als das Habenwollen!

Schmerz: Ach, wie viele Versprechungen er mir gemacht hat!

Vernunft: Entweder hat er dich ausgelacht oder er wollte, wie schon gesagt, daß du ihn für eine Weile liebst. Und vielleicht hat er dich, als er so viel versprochen hat, um etwas gebeten, von dem er dachte, daß es den Preis einer großen Lüge wert wäre. Außerdem solltest du bedenken, daß diejenigen, die reich an Worten sind, oft arm an Taten sind.

Schmerz: Ach, wie vieles wurde mir versprochen!

Vernunft: Wenn du mir glaubst, dann glaube nicht denen, die viel versprechen.

Petrarcameister - Von unerfüllten Versprechen

Leider läßt sich nicht feststellen, ob Sebastian Brant oder der Petrarca-Meister der Erfinder dieser geistreichen sinnbildlichen Darstellung ist. Auch der Sprichwörterschatz scheint keine Entsprechung zu dem Bild zu bieten. Im Vordergrund steht ein Bürger in weitem Mantel, er hält zwei Gänseflügel in den Händen und schaut erwartungsvoll und zugleich entrüstet zu einem anderen Mann in bürgerlicher Tracht hinüber. Dieser hält eine Gans ohne Flügel auf dem einen Arm, und in der anderen Hand trägt er einen prächtigen Pokal und einen vollen Geldbeutel. Die beiden wertlosen Flügel stehen für das eilig gegebene Versprechen, demgegenüber die eigentlich wertvolle Sache, sei's die Gans selbst, sei's Kostbarkeit und Geld, in den Händen dessen geblieben ist, der sie willig versprochen hatte. - Petrarcas Text gibt keinerlei Anhalt für diese Form der Darstellung.

Soweit schreibt der Kunsthistoriker Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht könnten wir ähnlich wie im vorherigen Bild links das Körperbewußtsein als einen wohlbeleibten reichen Bauern aus dem Dorf im Hintergrund sehen, wie er in der grünen Natur steht. Im Vordergrund wäre dann der menschliche Verstand, der eng mit dem Ichbewußtsein verbunden ist und nun etwas dümmlich und voller Begierde auf den körperlichen Reichtum schaut, der ihm „so viel verspricht“. Aber der Verstand bekommt nur ein gedankliches Bild davon, wie die Flügel der Gans im Spiel der Gegensätze. Und ähnlich wie in der vorletzten Darstellung die Flügel des Drachens, so lassen sich nun auch hier die Flügel vom Verstand gebrauchen: Einseitig gebraucht, kippt man um, gegensätzlich gebraucht, schwankt man hin und her, und ausgeglichen harmonisch gebraucht, kann sich das Bewußtsein durch die Erfahrungen im Reich der körperlichen Natur zur höheren Vernunft erheben. So könnte man auch sagen: „Zwei Flügel machen noch keinen Engel: Sie müssen auch vernünftig gebraucht werden.“ Zu diesem Wunsch der „Erhebung“ passen auch der weit ausgebreitete Mantel, links die Vögel am Himmel, der zum Licht strebende Baum, rechts die Wolke der Unwissenheit, und zwischen den beiden Gestalten die aufstrebende Ego-Burg am Horizont. Man sieht auch gut die unterschiedlichen Beziehungen und Abstände zwischen Subjekt und Objekt auf den verschiedenen Bewußtseins-Ebenen. Schließlich könnte man noch darüber nachdenken, was wohl die Gans denkt, wenn sie den Menschen mit ihren Flügeln ansieht? Vielleicht wünscht auch sie sich ihre „Gansheit“ zurück…

2.38. Von der Ablehnung

Schmerz: Ich bin empört, daß ich zurückgewiesen wurde.

Vernunft: Glaubst du vielleicht, alles zu bekommen, um was du bittest, so daß dir niemals etwas verweigert werden kann? Paß gut auf, daß diese Gefühle nicht zu überheblichem Stolz werden! Es täte dir wohl gut, dich an den großen Pompeius zu erinnern. Ich kenne niemanden, der würdiger war als er, von dem man noch sagen kann: „Was er zu empfangen wünschte, dazu wünschte er auch anderen die Macht, es ihm abzulehnen.“ Wir wissen doch auch, wie viele Dinge selbst Kaisern mit übermenschlicher Macht auf dem Höhepunkt ihrer glorreichen Herrlichkeit verweigert wurden. So mußten sie auch diese oder jene Ablehnung ertragen. Außerdem, wieviel verlangt Gott jeden Tag von den Menschen? Gott kann nichts fehlen, aber werden seine Bitten immer erfüllt?

Schmerz: Ich kann eine solche Ablehnung einfach nicht gleichmütig ertragen.

Vernunft: Warum maßt du dir das Recht an, etwas zu verlangen, aber versuchst, jemand anderem die Freiheit zu nehmen, es abzulehnen? Liegt es vielleicht daran, daß oft eine unverdiente Bitte die Grundlage für eine verdiente Ablehnung ist? Oder weil sich eine Ablehnung oft als vorteilhaft für den Bittenden herausstellte, dem es schädlich gewesen wäre, wenn er das Gewünschte erlangt hätte?

Schmerz: Ich habe aber eine ungerechte Ablehnung erlitten.

Vernunft: Wenn die Ablehnung ungerecht war, dann war die Bitte gerecht. Sei also froh, daß es die Schuld eines anderen war, und nicht deine!

Schmerz: Ich bekam eine Absage, die ich nicht verdient habe.

Vernunft: Viele denken, daß sie Großes verdienen, obwohl sie wenig oder gar nichts verdienen. Daher kommt diese Trauer über Ablehnungen und dieses Jammern, das die ganze Welt und das Leben der Menschen erfüllt.

Schmerz: Ich habe eine schändliche Ablehnung erlitten.

Vernunft: Nichts ist schändlich außer Schuld. Was könnte also Schande über dein Haupt bringen, das nicht in deiner Macht steht?

Schmerz: Ich habe eine Ablehnung erlitten, die ich nicht glauben kann!

Vernunft: Leichtgläubigkeit ist ungewiß, denn nur die Wirklichkeit ist gewiß. Eine Bitte nicht ablehnen zu können bedeutet, kein freier Mensch, sondern ein Sklave zu sein. Eine Ablehnung nicht ertragen zu können bedeutet, kein Mitbürger, sondern ein Tyrann zu sein.

Schmerz: Ich habe in einer Sache, die ich wollte und erhoffte, eine Absage erlitten.

Vernunft: Wenn die Menschen alles bekommen würden, was sie sich wünschen und erhoffen, wären sie alle Götter. Um also viel Frustration und Schmerz durch Ablehnung zu vermeiden, solltest du lernen, Vernünftiges und Wahrhaftes zu wollen und nicht törichten und unersättlichen Begierden nachzugeben, die von einer vergeblichen Hoffnung suggeriert werden.

Schmerz: Ich wurde nicht nur abgelehnt, sondern eine unwürdige Person wurde mir vorgezogen.

Vernunft: Wie oft finden wir die Unwürdigen den Würdigen vorgezogen? Wie oft sitzen die Unwürdigsten über die Würdigen zu Gericht und sind strenge Richter über andere, aber gegenüber ihren eigenen Angelegenheiten überaus nachlässig? Und viele sagen zwar von sich, sie seien unwürdig, aber nur wenige glauben es wirklich.

Schmerz: Mir wurde sogar eine Kleinigkeit verweigert.

Vernunft: Wir sehen oft, daß kleine Dinge verweigert, aber große bereitwillig gewährt werden. Und Ablehnungen werden durch Geschenke ausgeglichen, so daß die Vermögenswaage wieder stimmen sollte. Aber ihr Menschen beschwert Erstere (die Waagschale der Ablehnung) mit euren empörten Klagen und erleichtert Letztere (die Waagschale der Geschenke) durch Vergeßlichkeit und Mißachtung.

Schmerz: Ich denke, ich war würdig genug, nicht abgelehnt zu werden.

Vernunft: Das mag sein. Aber glaubst du, daß alles nach dem Wert eines Einzelnen gewährt oder verweigert wird? Ich wünschte, es wäre so, damit die Hoffnung auf Belohnung mehr Menschen gut machen würde, und die Angst vor Bestrafung weniger Menschen schlecht. Aber es ist nicht so. Sinnliche Liebe, Haß, Begierde und Lust sowie andere dunkle Zuneigungen verkehren und verwirren alles. Glaubst du wirklich, du kannst die allgemeinen Wege des Glücks zu deinem eigenen Vorteil umleiten und bist nicht auch dem gemeinsamen Los der Menschheit unterworfen?

Schmerz: Der Konkurrent, der mir vorgezogen wurde, war viel unwürdiger!

Vernunft: Auch Lucius Flamininus, der bald wegen Missetaten angeklagt und aus dem Senat entfernt werden mußte, wurde Scipio Nasica vorgezogen, der sowohl vom Senat als auch vom Volk als einer der besten Männer angesehen wurde. Und Vatinius wurde Cato vorgezogen, ein unwürdiger Mann gegenüber einem herausragenden, nicht nur im Urteil seiner Mitbürger, Freunde und Feinde, sondern auch in einem ganzen Buch von Cicero. Was sagst du zu all dem? Was du erleidest, tut zwar weh, aber ist nichts Neues.

Schmerz: Ich hatte mir viel erhofft und verdiene mehr als nur ein bißchen.

Vernunft: Du magst viel verdienen, aber wie ich gerade sagte, werden die Dinge nicht immer unverzüglich nach Verdienst verliehen. Sehen wir nicht täglich, daß das, was einem Menschen einmal verweigert wurde, ihm zu einem späteren Zeitpunkt gewährt wird? Das war auch Scipio Nasica passiert, von dem ich gerade gesprochen habe. Anhaltende Tugend bricht oft härteste Ablehnungen, wie Aemilius Paulus, Metellus Macedonicus und Lucius Mummius bezeugen, denen allen das Konsulat verweigert wurde, die aber später mit den prächtigsten konsularischen Ernennungen und Triumphen geehrt wurden. Dieselbe Bevölkerung, die sie verachtet hatte, betrachtete sie nun als bemerkenswerte Vorbilder. Dies wäre nie passiert, wenn sie versucht hätten, die öffentliche Ablehnung durch Klagen zu überwinden, anstatt durch glänzende Tugend. Lucius Sulla, der gegen Ende seines Lebens in Bürgerkriege verwickelt war und seinen Ruf durch seine Grausamkeit beschmutzte, war dennoch ein herausragender Römer von Adel und Ansehen. Ihm wurde nicht nur das Konsulat, sondern die Prätur verweigert, eine so geringe Sache angesichts der Tatsache, daß er später in die höchsten Ämter der Republik aufstieg und nicht nur Präturen, Konsulate und Reich für sich erwerben konnte, sondern sie auch anderen gewähren durfte.

Eine Ablehnung sollte also nicht die Hoffnung nehmen, sondern Anlaß geben, sich herausgefordert zu fühlen und die tugendhafte Anstrengung zu erhöhen. Nichts ist so hart, daß es nicht erweicht werden könnte. Und selbst wenn dies nicht geschieht, darf die Tugend nicht aufgegeben werden, damit klar wird, daß man sie um der Tugend willen und nicht für eigenwillige Zwecke üben sollte. Alle diese Männer akzeptierten die Ablehnung tapfer, dagegen fiel Publius Rutilius plötzlich tot um, als er erfuhr, daß der Antrag seines Bruders auf das Konsulat abgelehnt worden war. Jetzt liegt es an dir, das Beispiel zu wählen, dem du folgen willst!

Petrarcameister - Von der Ablehnung

Im Gegensatz zu der Klage „Das tut mir weh, daß ich zurückgewiesen wurde“ stellt der Petrarca-Meister dar, wie begehrte und erhoffte Ehren und Stände willig gegeben werden. Freilich nicht an jedermann. Der Patrizier mit goldener Kette und breiter Pelzschaube darf den Amtsstab vom König mit beiden Händen in Empfang nehmen. Der schlicht gekleidete Handwerker jedoch, der mit abgenommenem Hut links an der Säule auch als Anwärter steht, ist abgewiesen worden. Der Landsknecht neben ihm, als Diener des Königs, scheint die Klagen des Enttäuschten ungerührt anzuhören, während der „Weise“ mit Petrarcas Worten tröstet.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht könnten wir rechts von der Säule vor dem Hintergrund der aufragenden Ego-Burg das Ichbewußtsein zusammen mit dem gehörnten Teufel als gefallenen Engel im Schlangenkörper auf dem „Schneckenhaus-Thron“ der weltlichen Herrschaft sehen. Dieser eigenwillige König übergibt den „Amtsstab“ dem gedanklichen Verstand als Bürokrat, der im egoistischen Sinn zusammen mit der Habgier als Landsknecht amtieren soll. So tragen auch beide die goldenen Ketten der Bindung und Anhaftung. Der Teufel wendet sich demonstrativ ab, denn er gibt niemandem wahre Macht, sondern versucht im Hintergrund die „Stricke zu ziehen“ und das Ego zu suggerieren. Denn er ist „der Geist, der stets verneint“, wie Goethe in Faust I sagte, also ein Geist der Ablehnung von allem Wahren, was zum Göttlichen bzw. Ganzheitlichen führt. Auf der anderen Seite der Säule des körperlichen Hauses wäre dazu die Weisheit bzw. Vernunft, die vom Ichbewußtsein abgelehnt wird, weil sie zusammen mit dem Verstand als „Handwerker“ Gottes die weltlichen Gegensätze von Mein und Dein sowie Gut und Böse überwinden kann. Und damit läßt sich auch prinzipiell das Problem der Ablehnung und des dazugehörigen Schmerzes lösen, wenn sich die Wolken der Unwissenheit auflösen. Wie auch Petrarca sagt: „Um also viel Frustration und Schmerz durch Ablehnung zu vermeiden, solltest du lernen, Vernünftiges und Wahrhaftes zu wollen und nicht törichten und unersättlichen Begierden nachzugeben, die von einer vergeblichen Hoffnung suggeriert werden.“

2.39. Von ungerechten Herren

Schmerz: Die Gemeinschaft leidet unter einem ungerechten Herrn.

Vernunft: Aber vielleicht verdient ihn die Gemeinschaft, und dieses Übel ist der gerechte Lohn für ihre Übel. Denn es gibt nicht nur in der Hölle ernste Richter, sondern überall, und so geht die Gerechtigkeit überall ihrem Werk nach. Obwohl sie oft langsam erscheint, so beeilt sie sich auch manchmal und beweist, was geschrieben steht: „Es gibt wahrlich einen Gott, der die Menschen auf Erden richtet. (Psalm 58.12)“ Manche denken, daß Dämonen (bzw. Teufel) aus Menschen gemacht werden durch die fortwährende Lust an mutwilliger Übertretung und sündiger Sehnsucht, was durchaus verständlich klingt, wenn man die Ähnlichkeit der bösen Neigungen eines böswilligen Menschen betrachtet, der in seiner hartnäckigen Hingabe an das Böse alles tut und damit einem Dämon gleicht. Dem scheint auch dieser Spruch nicht zu widersprechen: „Daß mit Erlaubnis der göttlichen Gerechtigkeit ein Dämon den anderen bedrängt.“ Doch leider werden wir oft auch Zeugen des Elends der Schuldlosen, die zusammen mit den Übeltätern bestraft werden, und häufig werden diese Worte von Horaz tatsächlich wahr: „Mit den abscheulichen Verbrechen sind oft auch Unschuldige verbunden.“ So muß treu geglaubt werden, daß dies Gottes unergründliche Gerechtigkeit ist, obwohl ihr Wirken für Menschen zugegebenermaßen unverständlich bleibt.

Schmerz: Wir müssen einen grausamen Herrn ertragen.

Vernunft: Grausamkeit ist bösartig und widerspricht der menschlichen Natur. Aber sie ist auch nützlich gegen Laster und als Zaumzeug für ein lasterhaftes Volk, weil sie Furcht und Schrecken über das ganze Land verbreitet. Denn es ist besser für jene, die nicht lieben können, sich fürchten zu müssen, entweder vor einem Herrn oder den Lastern. Dabei ist wohl kein Herr so grimmig, als daß die Laster, die Gefährten und Töchter des Wohlstands, nicht noch grimmiger wären. So ist nichts förderlicher für Laster als Sicherheit und Freiheit für die Übeltäter. Wer also weder dies noch das fürchtet, ist dem Untergang nah.

Schmerz: Das unglückliche Volk leidet unter einem ungerechten Herrn.

Vernunft: Von allen elenden Menschen ist niemand elender als ein Tyrann. Wenn du daran zweifelst, dann denke an Dionysius, der verdorben, aber nicht dumm war. Was er von sich selbst und seiner Tyrannei hielt, zeigt deutlich die Spitze des Schwertes, das er seinem Freund Damokles über den Kopf gehängt hatte. Die Geschichte ist bekannt. So fürchtet das Volk den Tyrannen, und der Tyrann fürchtet das Volk. Auf diese Weise quälen sie sich gegenseitig mit ihrer Angst, mit dem Unterschied, daß das Elend des Volkes offenbar, aber das des Tyrannen verborgen ist. Doch eine Wunde, die von einem purpurnen Gewand bedeckt ist, schmerzt nicht weniger, und goldene Ketten binden nicht weniger als eiserne. Elend ist Elend, in Schmutz und Dreck nicht weniger als in Glanz und Pracht. Äußerlich ist der Mantel des Tyrannen golden, aber wende ihn um und du wirst feststellen, daß er im Inneren voll grausamer Stacheln ist. Du kannst also sehen, daß Tyrannen nicht ungestraft wüten und die Menschen nicht unterdrücken, ohne dafür Vergeltung zu erleiden.

Schmerz: Unser Herr ist völlig gnadenlos.

Vernunft: Es gäbe nicht so viele Herren an allen Orten, noch würden sie so gnadenlos wüten, wenn die Bevölkerung nicht so wahnsinnig wäre, daß jedem Bürger sein Privateigentum lieber als das der Gemeinschaft ist und sein Vergnügen über der Ehrlichkeit, sein Geldgewinn über der Freiheit und sein Leben über der Tugend steht.

Schmerz: Meine Heimatstadt wird von einem einzigen Herrn versklavt.

Vernunft: Athen, diese edle Mutter der Gesetze und zweites Licht des antiken Griechenlands, wurde nicht nur von einem einzigen Herrn versklavt, sondern von dreißig Herren gleichzeitig.

Schmerz: Meine Stadt muß einen schrecklichen Herrn ertragen.

Vernunft: Während Rom viele ertragen mußte. Wer kennt nicht Menschen wie Caligula und Nero, Domitian und Commodus, Elagabalus, Caracalla, Gallienus und, um nicht alle Krebsgeschwüre des Reiches aufzuzählen, wie Maximinus und Decius? Assyrien ertrug den Sardanapalus, Persien den Cyrus, Griechenland und Asien den Alexander, die dem Namen nach Könige, aber in Wirklichkeit wilde und gnadenlose Tyrannen waren. Sizilien hatte Dionysus, Phalaris und Agathokles. Lacedaemon hatte Cleomenes und Nabis, dem auch die Argiver zu gehorchen hatten, samt seiner Frau, die in ihrer weiblichen Begierde noch habgieriger als ihr Gatte war und ihrem Geschlecht gemäß ihre eigene Tyrannei ausübte. Aber wozu viele Worte? Wer könnte alle Tyrannen der Vergangenheit und Gegenwart aufzählen? Heute gibt es so viele von ihnen, die so fest verwurzelt sind und durch Reichtum und die Macht des Volkes sowie durch Sitte und Wahnsinn gestützt werden, daß sie weder gezählt noch ausgerottet werden können. So ist die Knechtschaft bei euch heutzutage nicht geringer als bei den Ägyptern oder den Medern, bei denen jede Freiheit tot und begraben war. Wir sehen also, daß die Mehrheit der Menschen, wenn ihnen ein Tyrann fehlt, sogleich begierig ist, einen zu finden oder sogar zu kaufen: In einem solchen Ausmaß scheinen sich deine Vorfahren über ihre Geburt geschämt zu haben. Denn fast alle von ihnen wurden in Knechtschaft geboren und wuchsen darin auf. Der Grund deiner Beschwerde ist also nicht neu, sondern schon sehr alt.

Schmerz: Wir werden aber vom schweren Joch eines mächtigen Herrn bedrückt.

Vernunft: Es gibt eine nützliche Fabel von Atistophanes, die dazu mahnt, keinen Löwen in seiner Stadt zu pflegen, denn sobald er ausgewachsen ist, muß ihm gehorcht werden. Das natürliche Übel der Tyrannei sollte also weder durch Ungeduld gefördert noch mit Gewalt unterdrückt werden, weil man damit selbst diese Kraft hervorbringt. In der Tat erhebt sich selten ein Tyrann in einer Gemeinschaft ohne die Schuld des Volkes, ganz wie das alte Sprichwort sagt: „Du ißt, was du gesät und gepflegt hast.“

Schmerz: Wir leiden sehr unter diesem lästigen Herrn.

Vernunft: Wenn alle Macht von Gott kommt, sei es zur Übung der Guten oder zur Bestrafung der Bösen, dann ist es richtig, daß du dich der Macht Gottes unterwirfst und nicht der Macht der Menschen. Wenn dir der Herr grausam erscheint, dann macht ihn vielleicht deine Geduld sanfter. Denn es gibt kaum einen Geist, der so wild ist, daß er nicht durch Gehorsam und Respekt gezügelt würde. Kurz gesagt, alles, was bedrückt, ist entweder zu ertragen oder abzulegen. Es gibt keine dritte Alternative außer die Ungeduld, die, wie gesagt, deinen Schmerz nicht vermindert, sondern vermehrt.

Schmerz: Wir haben aber einen bösen Herrn.

Vernunft: So habt ihr alle einen bekannten Feind, während er selber viele unbekannte Feinde hat, was die gefährlichere Situation ist.

Schmerz: Wir haben wohl den schlimmstmöglichen Herrn.

Vernunft: Das kann er aber nicht lange sein, wenn der Philosoph recht hatte, der sagte: „Gewalttätiges kann nicht lange dauern.“ Und wahrlich, wenn deine Stadt nur einen guten Bürger hat, wird sie einen bösen Herrn nicht lange ertragen müssen.

Petrarcameister - Von ungerechten Herren

„Die Gemeinschaft leidet unter einem ungerechten Herrn“ ist die Klage, die mit dem Bild eines Tyrannen dargestellt wird. Er steht vor seinem Thron und hat statt Szepter und Reichsapfel ein Schwert, Rutenbündel und Peitsche in seinen Händen. Zu Füßen des Thrones schauen entsetzte und verzweifelte Untertanen mit leidend geöffnetem Mund zu dem König empor, der seinen Blick von ihnen abwendet. Als Verhängnis schwebt über ihm am Haar wiederum das Damoklesschwert. Es war schon im ersten Band in Kapitel 91 dargestellt worden, als von Macht und Gewalt gesprochen wurde. „Nichts Gewaltsames ist langwierig“ ist der Trost der Vernunft.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht müssen wir bezüglich der Tyrannei auch wieder von Egoismus und Ichbewußtsein sprechen, darin auf beiden Seiten die Wurzeln des Leidens zu suchen sind. So sehen wir auf dem Bild einerseits das herrschende Ego als tyrannischen König mit seinen Waffen und anderseits im Hintergrund die dazugehörigen Menschen, die dieses trennende Bewußtsein von Mein und Dein sowie Gut und Böse entwickelt und gepflegt haben. Und links unten im Bild arbeitet wieder der Teufel mit abgewandtem Gesicht in Form eines kleinen Drachens vermutlich am Thron des Egos, damit es sich noch sicherer als König erkennt, wie es sich auch selbst vom Ganzen abwendet und auf sein Eigenes schaut. Doch in Wahrheit ist dieser Ich-Wahn das Unsicherste in dieser Welt, was zum einen das Damokles-Schwert andeutet, das stets bedrohlich am körperlichen Haus hängt, und zum anderen auch die Gewalt zeigt, die nötig ist, um dieses wacklige Ego-Konstrukt zu erhalten. Denn wir wissen, je wackliger ein Bauwerk ist, um so mehr Kraft braucht es zur Erhaltung, was auch für wacklige Geist-Konstrukte gilt. Diesbezüglich könnte man auch einmal nachdenken, welche ungeheure Kraft unsere heutige Gesellschaft investiert, um in allen Lebensbereichen den gierigen Egoismus unter den Menschen als eine tragende Säule der Marktwirtschaft zu fördern und zu erhalten, und wie es immer schwerer wird, die wachsende Tyrannei unter einem sozialen Deckmantel zu verbergen. Und entsprechend findet das Volk auch seine passenden Herrscher und Tyrannen, die es sich selbst erschafft und erwählt, wie Petrarca damals schon erkannte. All das geschieht, wo keine Vernunft herrscht.


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