Heilung von beiderlei Glück - Francesco Petrarca

1.110. Von der Erwartung einer Erbschaft

Freude: Ich erwarte ein Erbe von einem alten kinderlosen Mann.

Vernunft: Vor kurzem hast du noch behauptet, in Ruhe zu leben. Paß auf, daß du dich nicht im Gegensätzlichen wiederfindest! Ruhe und Erwartung bestehen nie zusammen, denn keine Langeweile im Leben ist lästiger als die Erwartung.

Freude: Ich erwarte aber eine Erbschaft von diesem alten Mann.

Vernunft: Doch du weißt nicht, was er erwartet. Es ist eine verbreitete Torheit der Menschen, daß fast alle erwarten, ihre Altersgenossen und sogar ihre Jüngeren zu überleben. Sterbliche denken nicht gern an ihren eigenen Tod, aber gern an den Tod eines anderen, obwohl das Gegenteil heilsamer wäre.

Freude: Ich hoffe auf das Erbe des alten Mannes.

Vernunft: Was wäre, wenn er vielleicht auch auf deines hofft? Dann muß sich einer von euch beiden irren. Wie viele alte Männer warten auf den Tod von Jüngeren! Tatsächlich ist niemand zu alt, um noch ein Jahr zu leben, oder zu jung, um heute zu sterben.

Freude: Ich hoffe auf das Erbe des alten kinderlosen Mannes.

Vernunft: Darauf hätte sein rechtmäßiger Sohn zu hoffen. Doch wie er, wurden schon viele jüngere Männer von ihrer Hoffnung getäuscht.

Freude: Das Erbe des alten Mannes wird zu mir kommen.

Vernunft: Woher weißt du, ob deines nicht ihm zukommt? Claudius folgte Caligula nach, Galba dem Nero, Nerva dem Domitian und Pertinax dem Commodus. Das Leben der Menschen ist voll von dieser Art der Nachfolge. (Claudius war 51 als er Caligula nachfolgte, der mit 29 starb. Galba folgte mit 71 dem Nero, der mit 31 starb, usw.)

Freude: Das Erbe des alten kinderlosen Mannes bleibt mir.

Vernunft: Wen könnte er nicht täuschen, wenn er täuschen will? Und wer könnte nicht getäuscht werden, der die Täuschung liebt? Und wen könnte er nicht überleben, der seinen eigenen Sohn überlebt hat?

Freude: Der alte Mann hat mich in seinem Testament bereits als seinen Erben eingesetzt.

Vernunft: Hat er solche Gravuren auf Diamanttafeln gemacht, die nicht einfach gelöscht werden können? Oder weißt du nicht, aus welch trivialen Gründen alte Männer ihr Testament ändern? Denn am Ende ihres Lebens sind viele unzufrieden mit dem, was sie ihr ganzes Leben lang gewollt haben.

Freude: Der alte Mann will mich als seinen Erben haben.

Vernunft: Aber es kann vorkommen, daß er es später nicht mehr will. Nichts ist für einen reichen alten Mann ärgerlicher als das Gefühl, daß sein Reichtum mehr geliebt wird als er selber. Dann ist sein Wohlwollen schnell verschwunden.

Freude: Mir wurde aber das Erbe des alten Mannes versprochen.

Vernunft: Ach, wenn Sterbliche soviel Unschuld und guten Glauben hätten, um nur ehrliche Versprechungen zu machen und auch immer zu tun, was sie versprachen! Aber heutzutage hat das Versprechen kein Ende, und das Brechen von Versprechen, das, wie man findet, gerade bei Vermächtnissen und Erbschaften durchaus angebracht ist, kennt keine Scham mehr. Aus diesem Grund nennt das Gesetz den Willen des Erblassers „wandelbar“.

Ich muß mich nicht mit Beispielen herumschlagen, die Fakten sind bekannt. Ich denke, du hast von denen gelesen, denen nicht nur zu Lebzeiten ein Erbe versprochen wurde, sondern die im Sterben mit der letzten Umarmung und dem letzten Kuß belohnt wurden und goldene Ringe erhielten, was für sie eine Selbstverständlichkeit war. Und obwohl im Testament keine weiteren Erben erwähnt waren, war es doch eine Täuschung und kam ganz anders. Das ist die Täuschung, selbst im Angesicht des Todes! Glaubst du, gegen solche Täuschungen immun zu sein, wenn du lesen kannst, wie auch große und edle Persönlichkeiten durch die List der Sterbenden getäuscht worden sind? Um nicht ins Detail zu gehen, aber Lucius Lucullus, ein sehr reicher und angesehener Mann, litt unter dieser Art von Doppelzüngigkeit. Und ein viel höherer, Augustus Cäsar, hatte ebenfalls diese schreckliche und ganz erstaunliche Lust zur Täuschung, die seinen hinterlistigen Verstand nicht einmal im Angesicht des Todes verließ. Das ist die Gewohnheit des Menschen! Und du setzt deine Hoffnung auf ein Erbversprechen, das dir sowohl durch eine längere Lebensdauer als auch durch die geringere Vertrauenswürdigkeit des Erblassers entzogen werden könnte? Auch wenn beides nicht der Fall ist, kann ein sehr guter Grund, sein Testament zu ändern, ein eigener Erbe sein, der oft einem alten Mann noch geboren wird. Der achtzigjährige Cato Maior zeugte noch einen Sohn, wie auch Masinissa, als er fast neunzig Jahre alt war. Dies passiert auch alten Männern in der heutigen Zeit. Wie wünschte ich doch, sie wären den Alten ebenbürtig, nicht nur in der Zeugungsfähigkeit, sondern auch in der Geisteskraft! So kann ein rechtmäßiger Erbe den Vermächtnisjäger durchkreuzen und mutwillige Hoffnungen zunichte machen.

Freude: Aber ich bin bereits im Testament des alten Mannes als Erbe genannt.

Vernunft: Tatsächlich lebt er noch und wird vielleicht noch lange leben. Testamente werden im Leben gemacht, doch erst mit dem Tod besiegelt. Du denkst nur an die Beerdigung und die Leiche, aber mancher Wolf wurde schon vom hungrigen Warten erschöpft.

Freude: Die Erbschaft wird geradewegs zu mir kommen.

Vernunft: Wie der Erblasser, so ist auch ein Erbe unzuverlässig. Man bekommt nicht immer den Erben, den man haben wollte. Ist „Erbe“ nicht allzuoft nur ein albernes Wort? Ein kleines Vermächtnis wird in der Tat zu einem hohen Preis erkauft, wenn du dich einem leichtgläubigen Alten verpflichtest und ihm mit süßen Worten schmeicheln mußt, die eines Mannes unwürdig sind. Nichts ist profitabel genug, um den Verlust deiner Wahrhaftigkeit zu rechtfertigen.

Freude: Diese Erbschaft kommt zu mir ohne Behinderung durch Gesetz oder Gewalt.

Vernunft: Woher weißt du das? Du kennst doch die Worte des weisesten aller alten Männer, Marcus Cato: „Ich habe oft gehört, daß noch vieles zwischen Mund und Bissen kommen kann.“ Doch selbst angenommen, nichts greift ein und das erhoffte Erbe kommt zu dir, dann wird es nicht bei dir bleiben, sondern zu gegebener Zeit an andere gehen. Die Güter der Sterblichen wandern. Man sagt auch, daß die Geldmünzen deshalb vorwiegend rund sind, weil sie ständig von einem zum anderen rollen. Auch du hast nur ein Erbe für deinen Nachfolger zusammengekratzt, dessen Freude dich möglicherweise traurig macht, und das dir Sorgen bringt, während er sich entspannt. Und wie du von anderen ein Erbe erhoffst, so werden es wieder andere von dir erhoffen.

Petrarcameister - Von der Erwartung einer Erbschaft

Mit den Einwänden gegen das Loblied der Freude „Ich erwarte ein Erbe von einem alten kinderlosen Mann.“ gibt sich Petrarca als Sohn eines Notars zu erkennen, der gut um die Fallstricke testamentarischer Bestimmungen Bescheid weiß. Petrarca selbst hat ein umsichtig verfaßtes Testament hinterlassen, in dem er seine Freunde mit Besitz an Geld und Büchern bedachte. Der Petrarca-Meister hat dramatisiert, was ihm Sebastian Brant vom Inhalt des Kapitels berichtet hatte. Im Haus des alten Mannes, der sich dem Tode nahe fühlt, sitzt der Notar am Tisch und schreibt den letzten Willen auf. Aber er schreibt nicht nach dem Diktat des alten Mannes, sondern nach dem eines jungen Burschen, der seinen Blick wie hypnotisierend auf den Alten gerichtet hat und dem Notar aus nächster Nähe den gewünschten Wortlaut vorspricht. Willenlos, den Rosenkranz in der Hand, in der Haltung eines Schwerhörigen und Schwerbegreifenden, steht der Alte am Tisch. Die Haushälterin und die Dienerinnen im Haus des Alten verlassen sich nicht auf das Testament. Sie „erben“ schon zu Lebzeiten und schleppen hinter dem Rücken des hilflosen Greises Schachteln und dicke Tuchballen davon. Trotz des packenden Bildes mit seinen psychologisch aussagereichen Gestalten hat der Petrarca-Meister eigentlich das Thema verfehlt. Er zeigt den wohlgelungenen Erbbetrug. Der Tendenz des Werkes nach hätte er ein Mißlingen oder böse Folgen darstellen sollen. Die Liebe zu einer gedankenreichen dramatischen Szene hat die erzieherischen Absichten verdrängt.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht ist es die Illusion des Ichbewußtseins von weltlichem Besitz und persönlichem Eigentum, die natürlich an der Schwelle des Todes fraglich wird und wie eine Seifenblase zu platzen droht. Der Mensch denkt wohl schon lange nach, wie dieses Problem zu lösen wäre, und entsprechend gibt es auch schon lange Zeit komplizierte Erbgesetze, welche oft nur die Begierde und Hinterlist sowie die Erbschleicherei fördern, wie auf dem Bild zu sehen ist. Der alte Mann ist bewußt nicht im Sterbebett gezeichnet, sondern trägt einerseits die Geldtasche und anderseits einen Gebetskranz und geht immer noch durchs Leben, wie ein Pilger mit dem Wanderstab auf seinem Weg. Aber sein Gesicht wirkt nachdenklich, traurig und enttäuscht. Doch was kann uns Besseres geschehen, als am Ende des Weges „ent-täuscht“ zu werden, also die weltliche Täuschung zu überwinden und diese Illusion des persönlichen Eigentums oder der „Eigenschaft“ mit den entsprechenden Hoffnungen im ganzheitlichen bzw. göttlichen Bewußtsein aufzulösen?

1.111. Von der Alchemie

Freude: Ich hoffe auf reiche Ergebnisse durch Alchemie.

Vernunft: Es ist seltsam, woher du diese Hoffnung nimmst, wenn es weder dir selbst noch sonst jemandem wirklich passiert ist, auch wenn es entsprechende Gerüchte gibt. Diese wurden wohl von Leuten erfunden, die es für angebracht hielten, solches zu glauben.

Freude: Ich hoffe auf Erfolg mit der Alchemie.

Vernunft: Und ich frage dich, was ist das für ein Erfolg, außer Rauch, Asche, Schweiß, Seufzer, Gerede, Trickserei und Schande? Denn dies sind die Erfolge der Alchemie, die, wie wir alle sehen, noch nie einem armen Mann Reichtum gebracht hat, aber viele vom Reichtum in die Armut führte. Aber du beachtest das nicht, denn so süß ist es für dich, zu hoffen und dich selbst zu betrügen. Von Gier und Wahnsinn getrieben, hältst du das für wahr, was du erhoffst, und für falsch, was vor deinen Augen steht. Hast du nicht bemerkt, daß manche, die sonst vernünftig erscheinen, unter diesem Wahnsinn leiden, und einige der Reichsten von dieser Dummheit völlig verzehrt werden, denn während sie versuchen, immer reicher zu werden und nach Gewinnen gieren, verschwenden sie ihren wohlverdienten Reichtum für nutzlose Dinge und werden schließlich sogar des Nötigsten beraubt. Andere verlassen ihre Heimat und leben voller Traurigkeit und Angst, unfähig, an etwas anderes zu denken als an Blasebalg, Zangen und Kohlen oder zu lernen, mit jemand anderem als ihren Überzeugungsgenossen zusammenzuleben, und werden zu einer Art wilder Kreaturen. Am Ende verlieren viele in diesem Geschäft zuerst das Licht ihres Geistes und dann auch ihr körperliches Augenlicht.

Freude: Ich hoffe auf Gold, das mir der Künstler versprochen hat.

Vernunft: Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, daß Künstler in jeder Kunst Versprechungen machen. Es gibt viele, denen man nicht glauben kann, egal was sie versprechen, besonders wenn sie ihr Versprechen mit einem heiligen Eid untermauern. Oh ihr blinden Geschöpfe, reicht es nicht, sich um die von der Erde hervorgebrachten Metalle zu sorgen, anstatt sich noch mit den künstlich erzeugten zu quälen? Ist es nicht genug, daß du von der Unschuld abgewichen bist? War es nicht genug, sich von der Tugend zu trennen, ohne der Trennung noch Verderben, dem Verderben Schmerz und dem Schmerz Schande hinzuzufügen? Wer dir hier Gold verspricht, wird heimlich mit deinem Gold entfliehen. Ich erzähle dir nichts Neues, denn es ist eine übliche Gewohnheit. Und obwohl Verbrechen, die durch Feuer begangen wurden, oft mit Feuer bestraft werden, wirst du auch durch den Tod deines Betrügers auf dem Scheiterhaufen nicht gerechtfertigt, sondern berüchtigt bleiben, gierig und dumm, und man wird mit dem Finger auf dich zeigen, erschöpft vom Kohleblasen, versengt von den Flammen und mit Ruß bedeckt.

Freude: Der Alchemist verspricht mir Großes.

Vernunft: Sage ihm, er soll zuerst für sich selbst erfüllen, was er anderen verspricht, und seine eigene Armut heilen. Alchemisten sind ein mittelloser Haufen, die zugeben, daß sie arm sind, aber andere bereichern wollen, als ob die Armut anderer ihnen mehr zu schaffen machen würde als ihre eigene. Selbst elend behaupten sie frech, daß sie Mitleid mit anderen haben, und versprechen ihnen Großes, manchmal sogar Menschen, die sie gar nicht kennen. Oh, was für faule Versprechungen und welch dumme Leichtgläubigkeit!

Freude: Ich habe die Kunst der Alchemie gelernt und werde reich.

Vernunft: Wohl eher nicht, aber wenn du reich warst, wird das bald vorbei sein. Ich sage dir, daß die Kunst, auf die du vertraust, nichts anderes ist als die Kunst des Lügens und Betrügens. Aber solange du solches denkst, versuche es mit Alchemie. Doch ich kann dir die Gewinne vorhersagen, die du aus dieser Kunst ziehen wirst: Dein Haus wird voll seltsamer Gäste und seltsamer Geräte sein. Es wird viele Esser und Trinker geben, zu Recht, denn die Hitze von Feuer und Gier trocknet sie aus. Es wird Schmelzer, Betrüger und Spötter geben, in jeder Ecke Schalen, Kessel und Fläschchen mit übelriechenden Flüssigkeiten, exotischen Kräutern, fremden Salzen und Schwefel sowie Destillen und Öfen. All dies wird dir schließlich unnötige Sorgen bereiten, einen dummen und stumpfen Kopf, ein entstelltes schmutziges Gesicht, trübe Augen, schmerzhafte Armut und, was am schlimmsten ist, den Namen eines Betrügers und ein Leben, das in der Dunkelheit der Nacht verbracht wird, versteckt wie ein Dieb.

Freude: Ich hoffe auf die Ergebnisse meiner Bemühungen.

Vernunft: Vielleicht findest du Bewegründe für Hoffnung und Leidenschaft, aber niemals für Freude.

Freude: Ich bin schon fast am Ziel meiner Bemühungen.

Vernunft: Hast du Quecksilber erstarren lassen oder einen anderen Unsinn vollbracht? Du bist vom Ziel deiner Bemühungen soweit wie nie zuvor entfernt. Es wird dir immer eine wesentliche Zutat fehlen, aber es wird dir nie an Täuschung mangeln.

Petrarcameister - Von der Alchemie

Petrarca hat nur die betrügerischen Alchemisten und die Narren, die auf materiellen Gewinn hoffen, im Auge, wenn er die Ansicht der Freude von der Vernunft widerlegen läßt: „Ich hoffe auf reiche Ergebnisse durch Alchemie.“ Von der mystischen Herkunft der Alchemie und von dem Geheimnis der „Wandlung“ weiß er nichts. Der Einwand, den noch im 18. Jahrhundert nachdenkliche Leute gegen die materiellen Verheißungen der Alchemisten machten, war auch Petrarca schon bekannt: „Sage ihm, er soll zuerst für sich selbst erfüllen, was er anderen verspricht, und seine eigene Armut heilen. Alchemisten sind ein mittelloser Haufen…, aber wollen andere bereichern, als ob die Armut anderer ihnen mehr zu schaffen machen würde als ihre eigene.“ Diese Bettler auf der Suche nach irdischem Gewinn hat der Petrarca-Meister dargestellt. In dem Laboratorium, in dem es von Gerät und Resten mißlungener Versuche wimmelt, steht der närrische Adept links am Glühofen und verschmilzt seine Stoffe. Seine Zuversicht gewinnt er aus seiner Dummheit, die hinreichend aus dem Gesicht mit der fliehenden Stirn und dem töricht geöffneten Mund spricht. Der Lockenkopf im Hintergrund scheint dagegen zur Einsicht gekommen zu sein, er wühlt verzweifelt sein Haar und ist im Begriff, seine unnützen Versuche aufzugeben. Die Darstellung ist ein besonders vollkommenes Beispiel eines Lehrbildes, in dem die Gestalten allein durch die Art und Weise, in der sie gezeichnet sind, die beabsichtigte erzieherische Aussage machen.

Soweit beschreibt der Kunsthistoriker Walther Scheidig dieses Bild. Aus geistiger Sicht können wir nur zustimmen. Der gierige Mensch kann wohl alles Gute irgendwann übertreiben, seiner materiellen Begierde unterordnen und damit jeden geistigen Nutzen verderben. So wurde auch die Suche nach dem mystischen „Stein der Weisen“ als Inbegriff für verläßliche Wahrheit eine Suche nach materiellem Besitz, vor allem Gold und Geld. Und wie es damals der Alchemie ging, so geht es auch heute unserer Wissenschaft im Wahn von Chemie und Technik. Auch hier spielt der Egoismus eine treibende Rolle, und es wäre gut, wenn irgendwann wieder die Vernunft erwacht und diesen unvernünftigen Wahn der Übertreibung erkennt und auflösen kann („Ne quid nimis!“).

Entsprechend wird in diesem Bild vorzüglich dargestellt, wie es im Kopf eines solchen „Wissenschaftlers“ aussieht. Das gierige Ego steht am Brennofen der Leidenschaft und versucht in diesem angefachten Feuer das Wahre zu finden, Berge von gedanklichen Werkzeugen wurden angesammelt, jede Menge Behälter für Kategorien und Begriffe liegen wild verstreut herum, und Destillen sollen das Wesentliche der Materie offenbaren, damit Technik und Chemie das große Glück bringen können. Für die geistige Welt gibt es kaum noch Raum, alles ist mit materiellen Dingen zugestopft, und für die Vernunft ist es offenbar schwer, in einem solchen engstirnigen Raum zu erwachen, aber immer noch möglich.

1.112. Vom Versprechen der Wahrsager

Freude: Die Wahrsager versprechen mir viel.

Vernunft: Schau nur, du hast noch eine andere Art von Menschen gefunden, die dich durch Hoffnung abhängig machen, wenn du ihnen Glauben schenkst. Wenn auch das Versprochene niemals eintreffen wird, so wird es ihnen an Versprechen niemals mangeln. Und so wirst du hin- und hergerissen zwischen dem Festhaltenwollen des Vergänglichen und dem Antrieb immer neuer Versprechen, und drehst dich für immer wie Ixion am Rad.

Freude: Die Wahrsager machen mir große Hoffnung.

Vernunft: Es ist nicht schwer, einem leichtgläubigen Menschen Hoffnung oder einem ängstlichen Menschen Angst zu machen. Ein beständiger Geist läßt sich nicht so leicht verführen.

Freude: Auch Astrologen versprechen mir in jeder Hinsicht viel.

Vernunft: Für die Skrupellosen, die keine Ehre haben, ist nichts bequemer, als andere mit Versprechungen zu überhäufen. Doch diejenigen, die sich vor der Lüge schämen, machen nur ungern Versprechungen.

Freude: Die Astrologen versichern mir erfreuliche Dinge.

Vernunft: Suche die Sicherheit lieber auf andere Art. „Versprechungen“ sind von Natur aus unverläßlich. Deshalb sollte man nicht auf bloße Worte vertrauen.

Freude: Die Astrologen versprechen mir aber viel.

Vernunft: Finde nur einen, der sein Versprechen erfüllt! Für sie ist es genug, dir Hoffnung gemacht zu haben. Darüber hinaus können sie dir nichts geben.

Freude: Ich bin sehr erregt vom Versprechen der Wahrsager.

Vernunft: Doch die tatsächlichen Ereignisse werden dich enttäuschen, denn aus ihren Versprechen wird nicht viel.

Freude: Mir wird gesagt, daß ich auf viel hoffen kann.

Vernunft: Es ist seltsam, daß der Geist des Menschen, der sich so sehr gegen die Tugend wehrt, der Täuschung ganz und gar unterwürfig ist. Was auch immer die Tugend vorschlägt, sei es auch noch so einfach und gut, dein Verstand verwirft es. Aber was die Täuschung verlangt, dem folgt er, auch wenn es schwierig und das Allerschlechteste ist.

Freude: Die Astrologen versprechen mir Erfreuliches.

Vernunft: Erstaunliche Männer, die die Zukunft kennen, aber nicht die Vergangenheit und die Gegenwart. Sie verkünden, was im Himmel vor sich geht, als ob sie an himmlischen Konzilien teilnahmen und erst kürzlich von dort zurückgekommen wären, während sie nicht wissen, was auf der Erde passiert, in ihren Ländern, ihren Häusern und ihren Schlafkammern. Wahr ist in der Tat, was man bei Cicero liest: „Niemand betrachtet das, was ihm zu Füßen liegt, doch man schaut gierig in die Regionen des Himmels.“

Freude: Ein angesehener und ehrlicher Astrologe sagt mir große Dinge voraus.

Vernunft: Je angesehener einer ist, desto größer ist der Spielraum für Lügen und auch deine Neigung, den Lügen zu glauben. Wie Cicero aus gutem Grund, so habe auch ich mich oft gefragt, was dieser Generation Neues und Ungewöhnliches passiert ist, wenn für die Menge der Menschen so viele wahre Tatsachen durch große Lügen verschleiert werden können. Entsprechend sollte die Vertrauenswürdigkeit des Sprechers sehr zweifelhaft sein. Aber eine kleine zufällige Wahrheit wirkt oft wie ein Schleier für tausende ernsthafte Lügen und verleiht der Täuschung Glaubwürdigkeit. Wenn einmal zur rechten Zeit einer dieser Männer die Wahrheit gesagt hat, auch wenn er es unbegründet oder unwissentlich getan hat, und tatsächlich etwas passiert ist, was der Wahrheit nahekommt, dann ist es vollbracht: Ihm wird geglaubt, selbst wenn er vorhersagt, daß die Sterne vom Himmel fallen werden. Danach kann ein solcher über alles lügen, ohne daß ihn jemand der Lüge verdächtigt. Eine richtige Vorhersage zur rechten Zeit, und ungeachtet der Vergangenheit herrscht nun die Leichtgläubigkeit und begünstigt den Betrüger.

Freude: Ich glaube an die göttliche Botschaft der Wahrsager.

Vernunft: Wahnsinnigen zu glauben ist Wahnsinn. Trotz Ciceros Rat gaben die Griechen meiner Meinung nach dieser Angelegenheit einen treffenderen Namen als deine Vorväter. Die Lateiner leiten das Wort für Weissagung von „Gott“ oder „Gottheit“ ab (divinatio von divi oder divinitas), während es die Griechen „Mantiki“ nennen und von „Mania“ ableiten, was wütender Wahnsinn bedeutet. Das ist vielleicht weniger elegant, aber näher an der Wahrheit.

Ambrosius, Augustinus und andere heilige Lehrer haben diese Torheit einstimmig verurteilt. Doch oft ist diese verderbliche Praxis der Weissagung unter der Menge so mächtig geworden, daß sogar in einer ernsthaften Debatte über die Wahrheit die Aussagen von heiligen Lehrer inmitten so vieler Schwätzer bezweifelt werden, und diese Bekenner des wahrhaften Glaubens nicht mehr angehört werden, wie auch viele andere, die die gleiche Meinung vertreten. Und wenn schon heilige Lehrer die Wahrsagerei mißbilligt haben, warum wird dann nicht wenigstens Cicero gehört, der erste und größte der Philosophen? Er verurteilte, verspottete und verachtete diese Art von Illusion und Betrug zweifellos.

Kurz gesagt, ohne hier alles erwähnen zu können, hat nicht nur die heilige Religion, sondern auch die wahrhafte Philosophie und die ihr mit eigenen Mitteln folgende Poesie diese Dummheit angeklagt. Alle Heiligen und Weisen haben es verworfen, und es gab keine Ausnahmen außer denen, die nach diesem traurigen Bekenntnis leben oder die von diesen Verführern ausreichend verführt wurden, um in ihre Fallen zu tappen. So sehen wir, wie diese Scharlatane die Irrtümer und Schwächen von Dummköpfen ausnutzen und eine Kunst daraus machen, die vor allem darin liegt, den Betrug durch Unklarheiten zu verbergen und immer Antworten mit zweideutigem Verständnis zu geben, um zu suggerieren, daß alles, was auf die eine oder andere Weise passieren kann, vorhergesagt wurde. Das ist charakteristisch für alle, die behaupten, die Zukunft vorherzusagen, was keinerlei Kunst und keinen Verstand erfordert, die sozusagen mittellos agieren, ohne Kenntnis der Geschichte oder der Ereignisse. Aber die List, Kühnheit und Frechheit der Wahrsager ist höchst erstaunlich, bis zu dem Punkt, daß sogar der strenge Cato einmal scherzhaft fragte, warum ein Wahrsager nicht lacht, wenn er einen anderen Wahrsager trifft. Dies gilt gleichermaßen für alle Auguren, Seher, Wahrsager, Geomanten, Chaldäer und Astrologen, sowie für das ganze Thema, das ich gerade „Mantiki“ genannt habe, obwohl ich mir nicht so sicher bin, ob der Betrug der Seher abstoßender oder ihre Torheit lächerlicher ist.

Es wäre wohl leicht, ihre fragwürdigen Argumente und kleinlichen Gedanken zu widerlegen, aber würde zu lange dauern. All dies ist bekannt und wurde von berühmten und herausragenden Männern behandelt, so daß eine Wiederholung hier nicht nur überflüssig, sondern auch anmaßend wäre. Was kann man zu deiner verrückten Dummheit noch sagen, außer daß du es verdienst, betrogen zu werden, nicht nur von irdischen Schwätzern, sondern auch von Kleingeistern, die keine andere Kompetenz haben, als dumme Menschen mit zweifelhaftem Wissen zu täuschen, das himmlisch sein soll.

Freude: Ich bin überzeugt, daß der Wohlstand vor der Tür steht, und ich erwarte ihn mit Freude, Vergnügen und Vertrauen.

Vernunft: Im Gegenteil, es wird schmerzlich, traurig und irritierend. Denn nachdem du den Sinn (der Vernunft) verloren hast, urteilst du über die Objekte der Sinne. Und ich denke, du kannst ohne Schwierigkeiten überzeugt werden, weil es einfach ist, diejenigen zu überzeugen, die überzeugt werden wollen. Manche brauchen nicht einmal einen Überzeuger. Sie sind ihre eigenen Verführer und übersetzen die Begegnung mit Tieren, den Flug von Vögeln oder ihr Gezwitscher in glückliche Prophezeiungen. Wenn du jedoch bedenkst, wie oft dich diese Vorahnungen getäuscht haben, und deine Nachbarn nach diesen Dingen fragst, die nicht den gleichen Fehler machen, dann kannst du leicht feststellen, wieviel Vertrauen man in diese Illusionen haben kann. Oder glaubst du, die Geschichte der drei berühmten Herrscher der Menschen, Pompeius, Crassus und Cäsar, haben dir als Geschworene etwas anderes zu sagen? Nach der Aussage eines großen Zeugen, Marcus Tullius Cicero, den jeder kennt, versprachen damals alle Wahrsager diesen dreien, daß sie in ihrem Land als geehrte alte Männer aufs glorreichste sterben sollten. Willst du hören, wie es war? Sie starben alle durch das Schwert, und zwei von ihnen höchst elend weit entfernt von Italien und Rom. Nur ihre Köpfe, einst verehrt und gefürchtet in der ganzen Welt, wurden mit schändlichem Spott begraben. Ihre Körper blieben unbestattet auf der Tribüne, um von wilden Tieren, Vögeln und Fischen zerrissen und verschlungen zu werden, ein jämmerliches Schauspiel. Nun betrachte die Wahrsager, die mit solcher Souveränität vorhergesagt haben!

Freude: Ich höre aber günstige Vorhersagen.

Vernunft: Oh schmerzlicher Wahnsinn! Ein erbärmlicher Mensch erhofft von den Vögeln das Vorherwissen für baldigen Erfolg, welches er selbst nicht hat. Was kann dümmer sein? Nur weil es den Göttern gefiel, sah König Deiotarus einen Adler und wurde der drohenden Vernichtung entrissen, und Herodes Agrippa erfuhr von seiner Entlassung aus dem Gefängnis, dem Ende seines Elends und dem Beginn seines Wohlstands durch eine Eule, die auf seinem Kopf saß, ein Vogel, der ansonsten als berüchtigt gilt und dessen Ruf in Virgils Gedicht als unheilvoll beschrieben wird.

Freude: Mir ist ein glückliches Omen geschehen.

Vernunft: Omen, das von einem Menschen behauptet wird, ist ein Zeichen für den Wahnsinn des Menschen, der den Verstand immerzu in Irrtümer verwickelt, nicht nur durch äußere Ereignisse, sondern auch durch Reaktionen in dir, damit es in keinem Teil von dir an Wahnvorstellungen fehle. Und so interpretierst du das Niesen deiner Diener und die zufälligen Worte von Kindern nicht so, wie sie sind, sondern wie du sie dir wünschst. Entsprechend verhinderten die Worte eines Hauptmanns „Hier wird unser bester Ort sein, um zu bleiben!“, daß die Hauptstadt der Welt verlegt wurde (Rom nach Veii). Oder weil ein kleines Mädchen ihrem Vater sagte, der in den Krieg ziehen wollte, „Persa ist tot!“, wurde angenommen, daß der König von Mazedonien besiegt werden würde. Oh menschlicher Verstand, berauscht und wundersam, wie leicht wirst du in die Grube des Irrtums gestürzt!

Freude: Glückliches geschah, als ich schlief.

Vernunft: Und wenn du erwachst, wird es Trauriges sein.

Freude: Ich habe wirklich glückliche Dinge im Schlaf gesehen.

Vernunft: Und du wirst traurige Dinge sehen, wenn du wach bist.

Freude: Ich bin glücklich, wenn ich schlafe.

Vernunft: Und du wirst unglücklich sein, wenn du wieder arbeiten mußt. Träume bedeuten oft nichts, oft bedeuten sie das genaue Gegenteil von dem, was sie anzuzeigen scheinen.

Freude: Ich sehe aber oft wahre Dinge in Träumen.

Vernunft: Und wie oft falsche? Der Grund für diese und andere Illusionen ist dieser: Ein einziger Vorfall, der zufällig wahr ist, verleiht unzähligen falschen Glaubwürdigkeit. Voller Begierde für die Zukunft, sieht dein Verstand die Vergangenheit nicht.

Freude: Die Wahrsager verkünden viele Dinge.

Vernunft: Ich für meinen Teil bewundere diese Betrüger nicht, die nach ihrer Gewohnheit von ihrer Kunst leben. Aber ich bin sehr erstaunt über dich, daß du deinen Geist und deine Talente ihren Bäuchen überläßt. Bedenke deinen Standpunkt sorgfältig, und wenn du meinem Rat folgen willst, erwarte ruhig und ungestört, was nicht die Sterne, sondern was der Schöpfer und Herrscher der Sterne dir bestimmt hat, während du jeden Tag inbrünstig danach strebst, seiner Liebe würdiger zu werden. Egal in welcher Situation, laß es dir nie in den Sinn kommen, diejenigen als Berater zu erwählen, denen die Wahrheit weniger bekannt ist als dir selbst. Und schließlich erkenne: Es ist schwierig für einen Menschen, die Zukunft zu erkennen. Sie ist nicht greifbar, auch wenn es nützlich erscheint, und es wäre auch nicht nützlich, wenn sie greifbar wäre.

Petrarcameister - Vom Versprechen der Wahrsager

Der Künstler wußte um die Materie vorzüglich Bescheid und versuchte, die damals bekanntesten Formen des Wahrsagens in seinem Bild zu vereinigen. Es ist ein überliefertes Schema, nach dem die Wahrsagekünste dargestellt werden, wobei allerdings die eine oder andere Person mehrere Formen der Prophetie zugleich ausübt. „Geomantia“ sagt aus den Sternen und deren Konstellation wahr, doch diese Kunst fehlt im Bild. Dagegen werden „Pyromantia“ und „Hydromantia“ von dem Weisen im Bild links ausgeübt. Er sagt aus Feuer und Rauch wahr, und er sieht die Zukunft in dem Wasser des Gefäßes, das er in seiner linken Hand hält. Sein Gegenspieler auf der rechten Seite übt im Zauberkreis stehend mit einem Zauberzepter in der Hand, die „Notenkunst“ aus, das ist die Beschwörung von Dämonen mittels Gebeten, Zauberzeichen und Zaubersprüchen, wie sie in dem Zauberkreis zu sehen sind. Zugleich bedient er sich auch noch der „Nekromantia“, um Geister anzulocken. Er hält einen Totenschädel in der Hand, um die abgeschiedene Seele wieder zu ihrem Körperrest zurückzulocken. In der Mitte waltet der „Haruspex“ seiner magischen Verrichtung. Aus den Eingeweiden eines Opfertieres sieht er die Zukunft. Und endlich steht im Hintergrund ein behäbiger Patrizier, an dem eine barfüßige Zigeunerin die Praxis der „Chiromantia“, der Handlesekunst, ausübt. Bei ihr fehlt nicht das bettelnde Zigeunerkind, ohne das man sich anscheinend auch schon damals keine rechte Zigeunerfrau vorstellen konnte. Alle diese geheimen Künste waren damals bekannt, sie wurden heimlich geübt und spielten in den immer mehr um sich greifenden Hexenprozessen eine wichtige Rolle. Der Petrarca-Meister hat sich in seiner Darstellung eines Urteils enthalten. Er zeichnet die Zauberer, wie er Handwerker bei ihrer Arbeit gezeichnet hat. Es darf wohl angenommen werden, daß er selbst nicht vom Glauben an die Kräfte der Zauberer frei war, den er mit den Besten seiner Zeit teilte und der am Ende noch bis in die Gegenwart hinein nicht erstorben ist. Die Kunst des Petrarca-Meisters ist bei der Gruppe mit der Zigeunerin besonders zu beachten. Fremdartig, nicht nur der Tracht nach, steht die Frau „schauend“ dem Patrizier gegenüber, ebenso märchenhaft, wie die Zigeuner den Bauern und Bürgern erschienen, als sie um die Mitte des 15. Jahrhunderts zum erstenmal in Deutschland auftauchten.

Soweit beschreibt Walther Scheidig das Bild. Aus geistiger Sicht können wir noch hinzufügen, daß der Mensch natürlich fähig ist, sein Bewußtsein über das gewöhnliche Niveau hinaus zu erweitern und entsprechend mehr zu erkennen, womit offenbar auch Petrarca und der Petrarca-Meister gesegnet wurden. Das ist altbekannt und eigentlich auch verständlich, wenn man das Bewußtsein als ein universales Kontinuum betrachtet, das durch das Ichbewußtsein auf den gedanklichen Verstand („Ich denke, also bin Ich!“) und durch das Körperbewußtsein auf die sinnlichen Körpererfahrungen eingeschränkt und reduziert wird. Das große Problem ist, dieses höhere Bewußtsein, das weit über Zeit und Raum hinausgehen kann, auf das niedere abzubilden und in unsere Verstandeswelt zu bringen. Als würde man einen höherdimensionalen Würfel in unsere dreidimensionale Vorstellungswelt abbilden wollen. Dadurch entstehen die verrücktesten Vorstellungen, und noch verrückter wird es, wenn solches Wissen persönlich angeeignet und an Menschen verkauft werden soll, die noch gar keinen Zugang zu einem höheren Bewußtsein haben. Auch hier sieht man wieder, daß der gierige Mensch immer zur Übertreibung neigt und alles Heilsame in Unheilsames verkehren kann, was sicherlich auch der Grund ist, warum diese Fähigkeit des „Wahrsagens“ immer wieder in Verruf gekommen ist und viel Schaden verursachte.

So sieht man auch im Bild, wie die Welt der Wahrsager durch ein breites Wasser, vielleicht ein Fluß, von der gewöhnlichen Menschenwelt in ihren Städten und Burgen getrennt ist. Dieses Bewußtsein steht sozusagen auf einem anderen Ufer, aber ist noch lange nicht „uferlos“ bzw. grenzenlos frei, denn es stützt sich noch auf diese Welt der vielfältigen Formen der Natur, wie im Bild dargestellt wurde.

1.113. Von angenehmen Gerüchten

Freude: Ein angenehmes Gerücht geht um.

Vernunft: Glaube nicht dem Hörensagen, denn es lügt.

Freude: Ich höre aber viele angenehme Gerüchte.

Vernunft: Es ist oft sicherer, nur einem statt vielen zu glauben.

Freude: Was so viele berichten, kann doch nicht falsch sein.

Vernunft: Die Natur des Hörensagens ist bekannt. Es vermischt Wahr und Falsch und würzt viele Lügen mit einer Prise Wahrheit, denn wer offensichtlich nur lügt, dem glaubt niemand.

Freude: Derjenige, der dieses Gerücht zuerst verbreitet hat, ist eine ehrliche Person.

Vernunft: Aber niemand gibt sich damit zufrieden, nur so viel zu erzählen, wie er gehört oder gesehen hat. Nichts ist gewonnen, wenn er dem Gehörten oder Gesehenen nicht etwas Eigenes hinzufügt. Und wenn viele das tun, hat man bald einen ganzen Haufen Lügen. So hört die Lüge, die sozusagen von Mund zu Mund geht, niemals auf zu wachsen. Wie auch der edle Dichter sagt: „Bewegung verleiht ihr Kraft, und sie gewinnt im Lauf an Stärke.“

Freude: Bisher sind es angenehme Gerüchte.

Vernunft: Was ist, wenn sie dich nur anlocken, um dich zu schlagen? Dem angenehmen Gerücht folgt oft ein trauriges Unglück. Häufig ist es Fortunas Art, Hoffnungen zu erwecken, um tiefer zu verletzen. Sie verhüllt ihre tödliche Klinge mit angenehmem Klatsch und schneidet dir die Kehle durch, während du dich freust. Ein Weiser, der dies durchschaut, zittert nicht vor Aufregung, wenn er gute Nachrichten hört. Ungerührt denkt er darüber nach, daß sich die Nachrichten tatsächlich als verkehrt herausstellen können, wie sich erfahrungsgemäß auch jedes Glück ins Gegenteil verkehren kann.

Freude: Ich bin von angenehmen Gerüchten tiefbewegt.

Vernunft: Warte nur ein wenig und prüfe. Es ist demütigend für den Geist eines Mannes, von jedem Klatsch bewegt zu werden, selbst wenn er wahr ist, aber besonders, wenn er falsch ist. Viele haben sich geschämt, daß sie sich freuten, und die Erinnerung an ihre falsche Freude hat nur ihre wahre Trauer gefördert.

Petrarcameister - Von angenehmen Gerüchten

Vor den Mauern einer Stadt verliest der Herold mit lauter Stimme und appellierender Handbewegung die Botschaft des Herrn an die Stadt. Neben ihm steht links, durch das Wappen auf der Brust gekennzeichnet und geschützt, der fürstliche Briefbote mit den versiegelten Briefen unter dem Arm. Die offene und die geheime Botschaft sind in den beiden Gestalten gekennzeichnet. Der kleine Affe links macht mit seinem Tun drastisch kenntlich, was von den Mären zu halten sei, die die gravitätischen Boten verkünden und bringen.

Aus geistiger Sicht können wir in dem aufgeputzten und stolzen Boten mit dem Federschmuck am Kopf das Ego sehen, das mit selbsternannter Autorität die gern gehörten „Wahrheiten“ verbreitet und sich damit eine eigene Welt schafft, die auch im Hintergrund des Bildes zu sehen ist. Daneben könnte man die höhere Vernunft vermuten, die demütig die Mütze abgenommen hat, aber die Wahrheit noch versiegelt hält, solange das Ego herrscht und das Wort führt. Der am Sockel angebundene Affe mit dem „Futternapf“ erinnert einerseits an die umherspringenden Gedanken, die sich von solchen „Informationen“ ernähren und gern ihr Urteil zu allem geben. Anderseits ist es auch unser Tierwesen, das an diese materielle Welt gebunden ist und eng mit dem Ego zusammenarbeitet und jeden „Furz“ gut findet, was wiederum an den natürlichen Prozeß der Verdauung erinnert, der auch geistig mit allen Informationen, Gerüchten und Illusionen dieser Welt geschehen sollte.

1.114. Vom Warten auf Freunde und Verwandte

Freude: Ich hoffe auf die Rückkehr meines Sohnes.

Vernunft: Du hoffst auf bange Freude und allgegenwärtige Angst.

Freude: Ich hoffe auch, meinen Freund wiederzusehen.

Vernunft: Deine Hoffnung ist so süß wie trügerisch. Menschliche Angelegenheiten sind alles andere als verläßlich. Vielleicht ist der, den du erwartest, schon gestorben, was du nur erfahren kannst, wenn du selbst lebst. Es gibt tausend Arten verschiedener Hindernisse, aber allen gemeinsam droht der Tod.

Freude: Ich hoffe auf den ersehnten Anblick meines Freundes.

Vernunft: Ersehnen und Hoffen sind fast immer miteinander verbunden, aber auch ständig durch beliebig viele Zufälle gefährdet. Wie viele waren wohl in Rom, die sehnsüchtig die Rückkehr von Marcus Marcellus erwarteten? Doch leider erwartete ihn der grausamste seiner Feinde auf halber Strecke seiner Reise, und die Grausamkeit dieses Mannes siegte über die Güte des Eroberers, der sogar seinen Gegner aus dem Exil zurückgerufen hatte. So wurde auch Marcellus auf Bitten des Senats von Cäsar begnadigt. Aber der Klient des Marcellus Gnaeus Magius konnte es nicht ertragen, daß er Cäsars Begnadigung genoß.

Freude: Ich hoffe auf die Ankunft meines Freundes und denke, daß er keinen Feind hat.

Vernunft: Wer hat hier in dieser Welt keinen Feind? Und wenn dein Freund auch keine persönlichen Feinde hätte, so hat er doch allgemeine. Damit meine ich zuerst Mörder und Räuber, die von Habgier getrieben, der Menschheit den Krieg erklärt haben. Und wenn auch ein günstiger Stern diese Pest auf der Erde ausgerottet hätte, so bliebe doch noch der Unfall in Kutschen, der Sturz von Pferden, die Gefahren angeschwollener Flüsse und Sturzbäche, die Zerstörung von Brücken und Häusern und die Stürme auf dem Meer und an Land. Dazu können wir noch die Überfälle wilder Tiere hinzufügen, die, wie uns Dicaearchus mitteilt, ein sehr neugieriger Forscher in solchen Dingen, nicht nur einzelne Personen, sondern auch ganze Stämme von Menschen ausgelöscht haben. Kurz gesagt, der Mensch hat so viele Feinde, wie es Zufälle im menschlichen Leben gibt, die zahllos sind. Und ich sage, sie können nicht nur deine Hoffnungen schmälern, sondern auch völlig auslöschen. Und selbst wenn nichts eingreift, ist der Tod, wie ich bereits sagte, überall, neben jedem, der geht oder steht, und vielleicht noch näher bei denen, die unterwegs sind, weil wohl das Reisen zu Fuß oder zu Pferd von Ort zu Ort von mehr Unfällen bedroht ist.

Freude: Ich erwarte aber, daß mein Freund nach erfolgreichem Geschäft zurückkommt.

Vernunft: Er kann wohl nicht erfolgreicher und ruhmreicher sein als Drusus Nero, der Stiefsohn von Kaiser Augustus, der sogar von den Feinden verehrt wurde, die er besiegte, fast wie ein Gott, welche bemerkenswerte Verehrung und Zuneigung noch heute unter den deutschen Fürsten zu finden ist. Er hat sicherlich das vollbracht, worauf er wirklich stolz sein konnte, und was immer noch von den Versen verkündet wird, die im Marmor Roms eingraviert wurden, auch wenn heute einige der ersten Silben fehlen: „Bis zum Rhein bin ich in das Land des Feindes eingedrungen und habe es unterworfen, während nun für dich, Rom, die Donau als ewig leuchtende Trophäe ruhig und friedlich fließt.“ Wie sehr freute sich Augustus, der Herr der Welt, auf die Rückkehr eines so jungen Mannes, und wie sehr Kaiserin Livia, die ihn aus natürlicher Neigung liebte, aber mehr noch wegen seiner Tugend und am meisten wohl angesichts der Faulheit seines Bruders! Wie ihn wohl auch sein Bruder, ganz gleich, was er anderen antat, mit Sicherheit liebte, und so inbrünstig wie Rom und die ganze Nation seine Rückkehr erwartete, mehr als von jedem anderen Mann. Aber was war passiert? Was war das Ende all dieser Hoffnungen? Dieser sehnsüchtig erwartete Drusus wurde von einem unerwarteten Tod hingerissen, zweifellos von irgendeiner Krankheit, und laut zuverlässigen Schreibern erlitt er ein zerschmettertes Bein, als sein Pferd auf ihn fiel. Er, der als Sieger lebend zurückkehren sollte, wurde seines Lebens beraubt und tot in sein Land zurückgebracht.

Und was soll ich dir über seinen Sohn Germanicus erzählen? Ich glaube, es gab nie größere Erwartungen an einen Mann, zwar nicht von seinem Vater oder von Augustus, die beide bereits gestorben waren, aber von der ganzen Stadt Rom, die ihn alle gemeinsam sehnlichst erwarteten, wie eine verwitwete Mutter ihren einzigen Sohn. Und so war die ganze Republik bei der ersten Nachricht von seiner Krankheit zutiefst erschüttert und verstört, die Gesichter und die Kleidung aller verdunkelten sich, und in der ganzen Stadt herrschte düstere Stille. Aber als glücklichere Berichte auftauchten, wenn auch aus unzuverlässigen Quellen, daß er sich erholte und leben würde, erhob sich überall wildes Geschrei und Jubel und weckte sogar Tiberius. Es gab einen enormen Ansturm auf das Kapitol, und die Tempeltore wurden von Menschen, die begierig darauf waren, Gelübde abzulegen und den Göttern zu danken, fast umgerissen. Die Nacht wurde von Fackeln erhellt und die Stille von jubelnden Stimmen durchbrochen, die sangen: „Gerettet ist Rom, gerettet auch unser Land, denn Germanicus ist gerettet.“ Und was war das Ende von all dem? Eines, das in menschlichen Angelegenheiten am häufigsten der Fall ist. Ein zuverlässigerer Bote kam und verkündete, Germanicus sei tot, woraufhin die öffentliche Trauer und Wehklage weder durch Edikte, noch durch festliche Bräuche, noch durch irgendeinen anderen Trost gestillt werden konnte. Diese Geschichte wird im 4. Buch über das Leben der Cäsaren erzählt.

Freude: Ich hoffe zumindest, daß mein jüngster Sohn zurückkommt.

Vernunft: Waren dir diese nicht jung genug, von denen ich sprach? Dann betrachte einen jüngeren: Marcellinus, den Neffen des verehrten Augustus von seiner Schwester. Wie ängstlich, glaubst du, wurde er von seinem Onkel erwartet, der ihn so sehr mochte, daß er die Passage in Virgils edlem Epos nicht ohne Tränen hören konnte, wo der große Dichter das Andenken dieses jungen Prinzen ehrt, der kaum mehr als ein Kind war, und den Vorleser zu schweigen bat? Und wie ging es wohl seiner Mutter Octavia, die ihn so sehr liebte, daß sie bis ans Ende ihres Lebens um ihn trauerte, als wäre er erst gestern gestorben, und jeden, der versuchte, sie zu trösten, nicht nur verschmähte, sondern sogar haßte? Was denkst du darüber? Wie die anderen kehrte er nicht zurück, sondern wurde als Leiche zurückgebracht. Auch Drusus kehrte auf dem Weg von Deutschland nach Rom nicht zurück, wie Germanicus aus Antiochia oder Marcellinus aus Baiae. Dies ist das gewöhnliche Schicksal aller menschlichen Erwartungen, aber du stellst dir ein anderes vor. Darüber hinaus kann es auch sein, daß dir der sehnsüchtig Erwartete nach seiner Ankunft bald einen Grund gibt, zu hoffen und zu beten, daß er schnell wieder gehen möge.

Freude: Ich hoffe aber auf die Ankunft meines Freundes.

Vernunft: Wen wundert es, daß erwartet wird, daß lebende Menschen zurückkehren, obwohl auch berichtet wird, daß einige auf die Rückkehr von Toten warten. Wenn auch nur Verrückte so etwas glauben, sollen die Briten mit der Rückkehr von König Artus rechnen. Manche bilden sich auch ein, daß Kaiser Nero kurz vor dem Ende der Welt auf die Erde zurückkehren wird. Ihr Leben ist von Anfang bis Ende nicht nur voller Erwartungen, sondern selbst eine vergebliche Erwartung. Und wenn du das nicht einsehen kannst, hast du entweder zu wenig gelebt oder zu viel ignoriert, was in dieser Welt vor sich geht.

Freude: Ich erwarte auch, daß mein Verwalter vom Landsitz kommt.

Vernunft: Vielleicht kommt er nur, um dir zu sagen, daß dein Landhaus abgebrannt ist, deiner Ernte verloren, die Weiden vertrocknet, das Vieh verendet, die Reben vom Hagel zerstört wurden, die Bäume von Stürmen entwurzelt, die Felder von sintflutartigen Regenfällen überschwemmt, die Bienen weggeflogen sind, die Heuschrecken alles verwüstet haben, die Taubenhäuser von Krähen und Mäusen überfallen wurden, oder die Hühner von Füchsen und die Lämmer von Wölfen weggerafft sind. Das sind so ungefähr die Botschaften, die vom Land kommen können.

Freude: Ich erwarte auch die Ankunft meiner Frau.

Vernunft: Wenn du diese Hoffnung hast, weiß ich nicht, was du hier zu befürchten hättest! Und doch ist es so: Manche erwarten ihre Frauen wie andere ein Fieber.

Petrarcameister - Vom Warten auf Freunde und Verwandte

In ungewohnt dekorativer Anordnung baut der Petrarca-Meister seine Darstellungen von der vergeblichen Hoffnung auf Rückkehr der Freunde oder Diener auf. In der Mitte des Bildes steht, mit allen Anzeichen des vergeblichen Harrens, ein Greis an einer Brüstung, die dem Erker eines Hauses ähnlich ist. Zu ihm tritt vom Rücken her mit mitleidiger Miene ein Jüngling, der einen Sarg über den Schultern trägt. Der Vergleich mit den Holzschnitten zu Brants Virgil gibt auch hier die Deutung und zeigt zugleich die Quelle für die ungewöhnliche Bildkomposition des Petrarca- Meisters. Eine Illustration zum II. Buch der Aeneis stellt dar, wie Euander um seinen Sohn Pallas trauert, dessen Leichnam im Sarg aus dem Kampf in die Heimat zurückgeschickt wurde. Links sind (im Bild von Virgil) klagende Frauen, rechts reitende Krieger gezeichnet, und der Sarg, an dem Euander, die Hände ringend, steht, hat ganz die Form, wie sie beim Petrarca-Meister hinter dem Rücken des Greises erscheint.

Mit Recht darf auch der Holzschnitt des Petrarca-Meisters als Darstellung des trauernden Euander erklärt werden, wobei die kühne Umsetzung, die der Petrarca-Meister an dem Vorbild vornahm, sein Können und seine Absicht, aktuell zu gestalten, im besten Licht zeigt. Von links her führt ein höriger Bauer einen Wagen voll Geflügel zum Herrn, ein geschlachtetes Ferkel als Sondergabe trägt er in der Hand. Ihm entgegen reitet von rechts her ein Raubritter, der sich diese Beute nicht entgehen lassen wird, während der Herr dann vergeblich auf seines Hofmeisters Ankunft wartet. Der wandernde Pilger (ganz links) und der reitende Bürger im Hintergrund sind zwei weitere Gestalten aus der Schar derer, die sich den Gefahren des Reisens und Wanderns unterwerfen und die ihre Angehörigen in Sorgen um ihre Rückkunft zurücklassen. Als eine der Hauptursachen für die Unsicherheit, der Reisende ausgesetzt waren, nimmt der Petrarca-Meister die Raubritter. Auch Petrarca sagt das gleiche von seiner Zeit, 150 Jahre vor dem Schaffen des Petrarca-Meisters und spricht von Mördern und Räubern…

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht können wir das stolze und gierige Ego mit dem Federschmuck am Kopf auf dem galoppierenden Roß sehen, wie es durch die Welt stürmt und sich selbst die Illusion von Leben und Tod, Gewinn und Verlust, Bindung und Freiheit schafft, und am Ende wie der Greis im Vordergrund verzweifelt, von seinen sehnsüchtigen Erwartungen enttäuscht wird und in dieser Verzweiflung und „Enttäuschung“ vielleicht aus diesem Wahn erwacht, zumindest wird damit die Möglichkeit gegeben. Diese Gegensätze und Stufen zum stürmisch-gierigen Raubritter werden ringsherum symbolisch dargestellt. Ganz links geht gemächlich ein Pilger mit seinem Wanderstab. Dazwischen läuft noch ein junger Bauer mit der Peitsche, der seine Ernte mehr oder weniger tot zu seinem Herrn oder auf den Markt dieser Welt bringt. Und im Hintergrund ein Reisender auf seinem gezügelten Pferd. Jeder strebt zu seinen Zielen entsprechend seiner Erwartung. Nur der Greis fragt sich angesichts der Vergänglichkeit, was er nun in dieser Welt noch erwarten könnte…

1.115. Von der Erwartung besserer Zeiten

Freude: Ich hoffe auf bessere Zeiten.

Vernunft: Aber alle Zeiten sind gleich gut, weil der Schöpfer der Zeit für immer gleich gut ist. Nur Du bist es, der seine guten Zeiten immer wieder mißbraucht und aus Gewohnheit deine eigene Schuld dem Zustand der Dinge zuschreibt. Mach den Menschen gut, und die Zeiten werden gut!

Freude: Die Zeiten können nicht so bleiben, es müssen bessere folgen.

Vernunft: Ja, die Zeit steht niemals still. Sie vergeht und kehrt nicht zurück, wenn sie einmal vergangen ist. Aber sie kann durch Tugend, Fleiß und wahrhaftes Lernen aufgehalten werden, nicht in dem Sinne, daß sie nicht vergehen würde, sondern daß sie nicht verschwendet wird. Denn nichts ist süßer als die Erinnerung an gut verbrachte Zeit. Aber du, der du nichts so zu gebrauchen weißt, wie es zu gebrauchen ist, vergeudest dein ganzes Leben mit Schlaf oder Müßiggang oder mit Angst und den unsinnigsten Beschäftigungen, und beschuldigst dann die unschuldigen Zeiten. Oder lüge ich, wenn ich sage, daß du deine Kindheit mit törichtem Zeitvertreib, deine Jugend und Männlichkeit in Ausschweifung und Gier und dein Alter in Klagen und Wehklagen vergeudet hast? Welche Schuld hat die Zeit daran? Sie vergeht, das gebe ich zu, aber das ist ihre Natur. Doch du versäumst, sie sinnvoll einzusetzen, während du hier bist, was nicht ihre Natur, sondern deine Schuld ist. Du beschuldigst ihre Natur und entschuldigst deine Schuld, aber das ist nichts Neues.

Freude: Ich hoffe aber auf glücklichere Zeiten.

Vernunft: Wie gesagt, Glück oder Traurigkeit hängen nicht von der Zeit ab, sondern von dir selbst. Sobald du dies erkennst, weißt du auch, wie du auf Glück hoffen und mit Traurigkeit umgehen kannst, vor allem wenn du dein Alter betrachtest, das jeden Tag trauriger wird, wie der Dichter es beschreibt und viele im Alter erleben. Denn wenn du sonst im Alter zurückschaust und beginnst, die Jahre deines Lebens zu zählen und einzuschätzen, wirst du sogleich anfangen, an dem zu verzweifeln, was du dir erhofft hast. Es gibt wirklich keinen Grund, auf eine Änderung im Lauf der Welt zu hoffen. Wahrscheinlich werden die kommenden Zeiten nicht besser, sondern eher schlechter, wie ich fürchte. Das liegt daran, weil auch die Menschen nicht besser werden, sondern eher schlechter. Dies ist auch die Prophezeiung großer Geister, und wir haben bereits unmißverständliche Hinweise. Aber ihr Sterblichen laßt euch immer von großen Hoffnungen hinreißen und erwartet Großes von eurer „bescheidenen und edlen Jugend“. Ich für meinen Teil habe ganz andere Gefühle und kann nichts Gutes voraussagen, wenn alles zum Laster neigt und ins Verderben strebt.

Freude: Die Zeiten sind so schlecht, es müssen bessere kommen.

Vernunft: Seneca sagt, daß sich jedes Zeitalter über seinen Zustand beschwert, und ich füge hinzu, daß jedes Zeitalter einen Grund hat, sich zu beschweren, und daß es auch in allen kommenden Zeitaltern genügend Gründe geben wird.

Freude: Ich hoffe aber auf glücklichere Zeiten.

Vernunft: Es gibt nur einen Weg, diese Hoffnung zu erfüllen: Wenn du hast, was dich glücklich macht, denn dann brauchst du nichts weiter zu wünschen. Erhebe dich also in einen glückseligen Geisteszustand, was ohne Tugend nicht möglich ist. Wenn das erreicht ist, wird alles glücklich sein, und nichts traurig.

Freude: Ich erwarte trotzdem bessere Zeiten.

Vernunft: Wenn sie kommen, was zweifelhaft ist, müssen sie natürlich auch wieder gehen. Wieviel vernünftiger wäre es doch, das Gegebene richtig zu nutzen, als ängstlich zu erwarten, was vielleicht nie kommen wird oder du nie erleben wirst.

Petrarcameister - Von der Erwartung besserer Zeiten

Hier geht nun der Petrarca-Meister wieder einmal völlig eigene Wege bei seiner Illustration. Er nimmt die Gegenwartsnöte seiner Mitmenschen zum Ausgangspunkt seiner Darstellung und zeichnet, was er erhofft. Ein Unwetter zieht über das Land her, es vernichtet mit Feuer und Hagelschlag die Felder und Weinberge und umtobt die Ritterburg, die in der Ferne sichtbar ist. Der herrschaftliche Landsknecht gerät im Wetter in schwere Bedrängnis. Ist das Wetter aber abgezogen, dann kräht der Hahn munter auf dem Strohdach der Bauernhütte, und der Bauer kann zuversichtlich zur Sonne aufblicken. Der Zusammenhang dieses Bildes mit der Zeitstimmung ist unverkennbar. Schon einmal hatte der Petrarca-Meister die Bauern im Bild zuhöchst über Kaiser und Papst gesetzt. Hier ist seine Hoffnung besserer Zeit, daß das Feudalwesen mit Burgen und Landknechten hinweggefegt werde und der Bauer sich seines Daseins freuen könne.

Hier hören wir den Geist des sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates, in dem Walther Scheidig lebte. Nur leider herrschte auch dort der Materialismus, und damit hatten es auch die geistigen Werte von Wahrhaftigkeit und Tugend nicht leicht, um den Geist in jenen glückseligen Zustand zu erheben, wie es im Text von Petrarca heißt. Entsprechend sehen wir im Bild, wie ein vernünftiges und harmonisches Leben im Einklang mit der Natur die Sonne auch im Geist scheinen läßt, so daß die Dunkelheit des Wahns nicht herrschen kann. Es ist sozusagen besser, daß der stolze Hahn lebendig auf dem Dach des Bauernhauses sitzt, als daß sich das stolze Ego mit seinen toten Federn schmückt, sich in Burgen verschanzt und glaubt, aus eigenwilliger Kraft die Mächte der Natur besiegen zu können. Ihm wird doch der stolze Hut vom Kopf geblasen. Gleiches erleben wir heute hautnah, wenn der Mensch mit der Gewalt von Technik und Chemie gegen die Natur in den Krieg zieht, daß damit die Natur immer feindlicher wird und dieser Krieg nie gewonnen werden kann. Denn die Natur ist ein selbsterhaltendes Gleichgewichtssystem, und je extremer der Mensch lebt, desto extremer muß die Gegenreaktion der Natur sein. Hier sollten wir über „Zufriedenheit“ nachdenken, aber schon dieser Begriff ist heutzutage bei vielen ein Schimpfwort geworden, und „Leidenschaft“ wurde zur Tugend erhoben. Das entspricht vielleicht den Prinzipien der Marktwirtschaft, aber nicht der Vernunft, obwohl auch dieser Begriff kaum noch jemandem klar ist. Soweit hat es die Menschheit gebracht, und so gehen wir den Weg der Leidenschaft und damit des Leidens…

1.116. Von der Hoffnung auf Fürsten

Freude: Ich hoffe auf die Ankunft des Fürsten.

Vernunft: Wie viele Dinge gefürchtet werden, die man erhoffen sollte, so werden auch viele Dinge erhofft, die man fürchten sollte. In beiden Fällen fehlt es an (wahrhaftem) Urteilsvermögen.

Freude: Ich hoffe aber auf die Ankunft des Fürsten.

Vernunft: Es wäre viel vernünftiger, auf Freiheit zu hoffen, denn wer auf die Ankunft eines Herrn hofft, der hofft auf Knechtschaft.

Freude: Ich hoffe, der Fürst kommt bald.

Vernunft: Damit hoffst du auf das allseitige Unglück, das mit ihm kommt. Es gab wohl eine Zeit, in der Fürsten auf ein Königreich, und das Volk auf einen Fürsten hoffen konnten. Doch heutzutage ist das Königtum eine lästige Pflicht für die Fürsten, und ein Fürst ein Fluch für sein Volk.

Freude: Auch das Volk hofft, daß der Fürst bald kommt.

Vernunft: Du weißt doch am besten, was du persönlich erhoffst, und wie leicht du dich irren kannst. So ist diese Hoffnung auch für das Volk einfach nur dumm, denn nur ein Wahnsinniger hofft oder wünscht sich, was er so oft als bösartig erlebt hat.

Freude: Ich hoffe trotzdem, daß der Fürst kommt.

Vernunft: Und mit ihm gewalttätige Umwälzungen und Veränderungen in jeder Stadt, schädliche Neuerungen, die zu Hunger, Seuchen, Kriegen und Streitigkeiten führen. All diese oder einzelne kommen gewöhnlich mit den Fürsten unserer Zeit. Wenn dir das gefällt, dann hoffe doch auf deinen Fürsten! Auch wenn nichts davon auftaucht und zu befürchten ist, so ist der Name „Fürstentum“ mittlerweile wertlos, voller Illusion und Gerüchte. Und jeder Nutzen, den es heute noch bringt, ist nur ein Schatten dessen, was es in alten Zeiten gewährte.

Freude: Ich hoffe wirklich, der Fürst wird kommen.

Vernunft: Ich möchte dich nur vorwarnen: Sobald du von seinem Kommen hörst, dann sei dir bewußt, den Donner zu hören, der vor dem Blitz kommt. Beginne nicht zu hoffen, sondern eher zu fürchten, wenn schon eins davon sein muß. Denn Widrigkeiten zu fürchten widerspricht zwar der Tugend (bzw. Weisheit), aber dafür entspricht es der Natur. Doch das Hoffen auf Unglück widerspricht sowohl der Natur als auch der Tugend.

Freude: Ich hoffe wirklich, der Fürst wird bald kommen.

Vernunft: Wenn du ihn siehst, solltet du dir bewußt sein, den bösen Stern des Reiches zu betrachten. Befrage dein Gedächtnis oder das deiner Eltern, Großeltern und Urgroßeltern, und du wirst feststellen, daß es so ist, wie ich sage. Und das solltest du deinen Kindern und Enkeln mitteilen, damit keiner von ihnen so dumm wird, auf das Kommen eines Fürsten zu hoffen. Sage mir bitte, wann hofften kleine Tiere auf das Kommen eines Löwen oder kleine Vögel auf einen Adler? Erlaube mir, ganz offen zu sein: Der Mensch ist ein sehr dummes Tier, das sich immer nach dem Schlimmsten für sich sehnt. Andere Kreaturen müssen mit Köder und Netzen gefangen werden, aber Menschen lassen sich schon vom Flüstern des Klatsches einfangen.

Petrarcameister - Von der Hoffnung auf Fürsten

Der Petrarca-Meister hat sich genau an den Text gehalten. Am Tor seiner Burg, hoch über dem Tal, empfängt der Herr den Fürsten, der in einer Prunkrüstung mit reichem Gefolge heransprengt. Die sinnbildlichen Vergleiche, die Petrarca gebraucht hat, sind im Hintergrund gegeben. Da stößt in der Luft ein Adler in eine Schar aufgeregter Vögel, und vor dem Löwen, der brüllend auf einer Wiese erscheint, fliehen Hasen, Rehe, Füchse und Wildschweine.

Aus geistiger Sicht sieht man zwei Egos mit dem Federschmuck der Illusion am Kopf, die sich hier treffen und gegenseitigen Nutzen für sich erwarten. Rechts der Fürst in Rüstung auf dem stolzen Roß mit den Kriegern der Tyrannei hinter sich. Und links steht ein Ego in der Tür seines Hauses mit dicken Mauern und schiebt den Verstand mit der Hoffnung auf Gewinn vor sich her. Der Hund erinnert an das Tierwesen, das erwartungsvoll auf seinen Herrn schaut. Dahinter sieht man weitere Menschen-Burgen, obwohl man doch aus der Natur lernen könnte, wenn sie achtsam betrachtet wird: Der Adler als „König der Vögel“ und der Löwe als „König der Landtiere“ sind gleichzeitig auch gefürchtete Raubtiere, die davon leben, andere Tiere zu fressen.

Nun könntest du fragen, wann der Wille ein rechter Wille sei? Dann ist der Wille vollkommen und recht, wenn er ohne jede Ich-Bindung ist und wo er sich seiner selbst entäußert hat und in den Willen Gottes hineingebildet und geformt ist. Ja, je mehr dem so ist, desto rechter und wahrer ist der Wille. Und in solchem Willen vermagst du alles, es sei Liebe oder was du willst. (Meister Eckhart, Reden der Unterweisung X)

1.117. Von der Hoffnung auf Ruhm nach dem Tod

Freude: Ich hoffe wegen meiner Errungenschaften auf Ruhm nach dem Tod.

Vernunft: Viele hoffen, daß sie Ruhm verdienen, obwohl sie eigentlich Schande verdienen. Wie verirrte Reisende ohne Orientierung glauben sie, daß sie vorwärts gehen, obwohl sie in Wirklichkeit rückwärts gehen.

Freude: Ich bin berühmt in diesem Leben und werde nach dem Tod noch berühmter sein.

Vernunft: Ich gebe zu, daß dies in vielen Fällen geschieht. So sagte Annaeus Seneca in einem bestimmten Brief voraus, daß er von der Nachwelt geschätzt werden würde. Statius Papinius sagte, daß sein gegenwärtiger Ruf seinem Werk einen freundlichen Weg in die Zukunft ebnen würde. Und auch Ovidius Naso sagte seinen unvergänglichen Ruf voraus, und daß er, wenn die Leute ihn lesen würden, in ewigem Ruhm weiterleben wird. Bei Jupiter, keiner von ihnen hat sich geirrt! Aber was denkst du, wie viele haben auf dasselbe gehofft, und ihre Hoffnungen blieben unerfüllt?! Viele haben solches von sich geglaubt und geschrieben, aber sie konnten nicht erreichen, was sie sich versprochen hatten.

Freude: Wenn ich berühmt bin, während ich lebe, warum sollte ich nach dem Tod nicht berühmter sein?

Vernunft: Weil es alltäglich und eine übliche Sache ist, daß viele, die zu Lebzeiten berühmt und prominent waren, nach ihrem Tod vergessen werden. Überrascht dich das? Der Grund liegt auf der Hand. Ein gewisser Charme, eine geschliffene und elegante Sprache, ein angenehmes Äußeres, ein freundliches Gesicht und ein herzlicher Gruß, den Nachbarn gewährte Vorteile, der Schutz Untergebener, die Gastfreundschaft gegenüber Fremden und die allgemeine Höflichkeit, diese und ähnliche (äußerliche) Eigenschaften machen Menschen zu Lebzeiten berühmt. Doch wenn sie tot sind, gehen diese Dinge nicht weiter, es sei denn, die Erinnerung lebt weiter, bis diejenigen, die sie kannten, auch gestorben sind. Du weißt ja, wie schnell das geht. Denn wie könnte die Erinnerung Bestand haben, wenn sie nicht in festem Boden verwurzelt ist? Es ist nur natürlich, daß das, was schwach und nur wenig erhöht ist, auch schnell vergeht. Um dauerhafter zu sein, muß dein Ruhm entweder von der Heiligkeit deines Lebens, dem Nachhall deiner Taten oder von der außergewöhnlichen Geisteskraft deiner Schriften herrühren. Doch das ist ein seltener Ruhm, während die welt- und redegewandten Persönlichkeiten, die exquisit gekleidet und mit Juwelen geschmückt sind, damit das Volk mit dem Finger auf sie zeigt, schnell vergessen werden, sobald sie verstummen. Es ist ein trauriges Schauspiel, daß eine solche Pracht, eine solche Aufmachung, eine solche Sachkenntnis und donnernde Redekunst so schnell wie dünner Rauch verfliegen. Das ist wirklich sehr traurig, aber so ist es, weil sie es versäumt haben, beständige Zeugnisse von sich selbst zu geben, und lieber in Ehrgeiz, Gewinnsucht oder Trägheit schwelgten. Und so verdienten sie nicht mehr, als sie gaben.

Freude: Ich werde aber nach dem Tod berühmt sein.

Vernunft: Ruhm hat den Toten noch nie geholfen, aber den Lebenden oft geschadet. Denn was verursachte Untergang und Tod von Cicero und Demosthenes, wenn nicht ihr großer Ruhm als Redner? Dasselbe gilt für Sokrates und Zeno und tausend andere, die alle gut bekannt sind. Und was anderes als der Ruhm seiner Gelehrsamkeit und seines Intellekts veranlaßte die Athener, Androgeus, den Sohn des gnosianischen Königs, zu töten? Was brachte die Argonauten, diese auserwählten Männer, wie sie sich selbst nannten, die eigentlich gewöhnliche Diebe waren, zu Aietes, den König von Kolchis, wenn nicht der Ruf seines großen Reichtums? Denn was sonst sollte dieses berühmte goldene Widdervlies bedeuten, als großen und weitberühmten Reichtum, mit dem sich die Reichen wie wilde Tiere bekleideten und die Armen mit wirklichem Reichtum, wie Widder in ihr Fell?

Freude: Ich werde trotzdem berühmt.

Vernunft: Wenn ja, welche Art von Ruhm stellst du dir vor? Vielleicht hat es etwas mit Ruhm zu tun, der von öffentlicher Bekanntheit stammt, wie es bei den Lebenden meistens der Fall ist. Aber was nützt es, von denen gelobt zu werden, die dich nur äußerlich, aber nicht innerlich kennen? Sage mir, wenn du Homer, Achilles, Virgil oder Augustus begegnen würdest, könntest du sie erkennen, deren Namen so bekannt und ruhmreich sind? Glaube mir, deine Hoffnungen sind in zweierlei Hinsicht weitgehend vergeblich, denn sie erfüllen sich weder wie gehofft, noch halten sie, wenn sie sich erfüllen, was sie versprechen. Denn alle menschlichen Dinge sehen in der Hoffnung schmeichelhafter aus als in der Realität. Verwerfe deine leeren Hoffnungen und eitlen Wünsche, verachte die irdischen Dinge, und lerne endlich, das Himmlische zu erbeten und zu erhoffen!

Petrarcameister - Von der Hoffnung auf Ruhm nach dem Tod

Ein feister und selbstbewußter Bürger steht unentschlossen zwischen zwei Gestalten. Links von ihm, zu seiner Rechten, steigt die „Fama“, das Gerücht, aus der Erde empor, eine weibliche Gestalt mit langem Haar, den Körper mit Federn bedeckt, zwischen denen viele Augen hervorsehen. Ihr Kopf reicht in die Wolken, ihre Hände sind als Gebilde gestaltet, die den Flügeln der Fledermäuse ähnlich sind. Auf der anderen Seite neben dem Bürger steht der „Weise“. Er spricht den Bürger an und weist eindeutig zum Himmel empor. Nicht auf das Gerücht zu hoffen, sondern seine Hoffnung allein in Gott zu setzen, lehrt demnach der Petrarca-Meister mit seinem Bild.

Die grundlegende Deutung des Bildes stammt von Wilhelm Fraenger. Es sind keine Anregungen aus Petrarcas Text verwendet. Brant hat vielmehr bei seinen Hinweisen auf seine Ausgabe des Virgil von 1502 zurückgegriffen und dem Petrarca-Meister die erdgeborene „Fama“ geschildert, wie sie ihre Augen überall hat, wie sie bis in die Wolken wächst und vor allem bei Nacht umgeht. Der Künstler hat diese Angaben meisterhaft verarbeitet. Völlig organisch ist das unheimliche Geschöpf gebildet, mit kaltem Blick hebt es die Tatze gegen den unschlüssigen Bürger. Dessen Entscheidung ist jedoch auch deutlich. Seine abweisende Rechte und die parallel geführte hinweisende Rechte des „Weisen“ verbinden ihn dem Ratschlag, der zu Gott führt.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht könnten wir hier den Verstand sehen, der zwischen der Vernunft steht, die zum Göttlichen, Himmlischen oder Ganzheitlichen und der entsprechenden Erinnerung im Buch des Lebens verweist, und dem irdischen Gedächtnis dieser Welt der materiellen Formen. Man könnte auch sagen, er steht zwischen Mutter Natur und Vater Geist. Daß die Erde bzw. Materie selbst ein Gedächtnis hat bezweifeln zwar viele moderne Wissenschaftler, aber ignorieren damit offensichtliche Erkenntnisse der Quantenphysik und auch ganz praktische Erfahrungen zum Beispiel der Homöopathie. Denn „Information“ ist die Grundlage aller Phänomene der Natur und des Geistes, und alles entsteht aus einer gewissen Erinnerung, sozusagen aus einem Meer der Informationen bzw. Ursachen oder Möglichkeiten. Der führende Quantenphysiker Hans-Peter Dürr, der ein Schüler von Werner Heisenberg war, sagt dazu: „Die Natur spielt wie ein Kind mit einer gewissen Vorahnung... Wem nichts Neues einfällt, der verhält sich wie Materie und ist ein Langweiler. Materie ist geronnener Geist, dem nichts mehr einfällt. Deshalb sollten wir die Materie nicht so wichtig nehmen, sondern den Menschen, dem in jedem Augenblick etwas Neues einfällt... (Video Interview 1997 ab 14:40)“ Entsprechend könnte man sagen, je materieller ein Mensch lebt, desto mehr verewigt er sich im Gedächtnis der dunklen Materie wie in einem Buch des Todes. Und je geistreicher und kreativer er lebt, desto mehr verewigt er sich im himmlischen Buch des Lebens und des Lichtes. So steigt auch Fama aus dem Dunkel der Erde hervor, Fledermausartig als ein Wesen der Dunkelheit, bedeckt von den bunten Federn der Illusion, verhüllt vom Haargewirr der Gedanken, eine Form des Bewußtseins mit vielen Augen, umgeben von verstreuten Steinen, und greift mit ihren krallenbewährten Tatzen nach unserem irdischen Verstand, der sich nicht zur höheren Vernunft des Göttlichen erheben will.

1.118. Vom Ruhm durch Bauwerke

Freude: Ich erhoffe mir Ruhm von meinen Bauwerken.

Vernunft: Ich wußte noch nicht, daß Ruhm in Kalk, Sand, Holz und Stein zu finden ist. Ich glaubte bisher, er wird durch große Taten und Tugend erlangt.

Freude: Ich verdiene Ruhm, indem ich etwas aufbaue.

Vernunft: Also auch ein zerbrechlicher und vergänglicher Ruhm. Alles, was von Menschenhand aufgebaut wurde, wird entweder von Menschenhand niedergerissen oder verfällt mit der Zeit, weil die kreisenden Tage stärkere Hände haben und kein menschliches Werk dem Altern standhalten kann. Wenn also die Bauwerke zusammenbrechen, auf denen dein Ruhm beruht, muß natürlich auch dieser Ruhm zusammenbrechen. Wenn du es nicht glaubst, dann erinnere dich an die Geschichten der Antike, die du sicherlich kennst:

Wo ist jetzt das stolze Troja? Wo ist Byrsa, die Zitadelle von Karthago? Wo sind der Turm und die Mauern von Babylon, das heute eine Wohnstätte für wilde Tiere und Schlangen ist? Dabei meine ich das alte Babylon, auch wenn es ein anderes Babylon gibt, das viel näher und jünger ist und immer noch besteht. Aber weil es von Menschen gemacht wurde, wird es auch bald fallen. Wo sind die sieben großen Weltwunder, welche die griechischen Dichter feierten? Und um von jüngerer Zeit zu sprechen, wo ist das goldene Haus von Nero, das einst seine Architekten erschöpfte und heute vermutlich diejenigen erschöpft, die darüber lesen? Dieses Haus und andere wahnsinnige Bauwerke von ihm, in denen er alle anderen übertraf, brachten ihn in die Armut und zwangen ihn, sich der Plünderung zu bedienen. Wo sind die Thermen von Diokletian, die Thermen von Caracalla, das zimbrische Denkmal für Marius, das Septizonium von Severus und die Thermen Severianae des gleichen Kaisers? Schließlich, um zum Kern der Sache zu kommen, wo ist das Forum des Augustus und der Tempel des Mars, des Rächers? Wo sind der Schrein von Jupiter, dem Donnerer, auf dem Kapitol und der Tempel von Apollo auf dem Palatin? Wo sind sein Portikus und die lateinische und griechische Bibliothek? Wo sind sein zweiter Portikus und die Basilika, die unter dem Namen seiner beiden Enkel Gaius und Lucius gebaut und eingeweiht wurden? Wo ist der dritte Portikus, der nach seiner Frau Livia und seiner Schwester Octavia benannt wurde? Und wo ist das Theater von Marcellus? Wo sind all die Bauwerke, die in vielen Teilen Roms von berühmten Persönlichkeiten mit so viel Mühe und so großem Aufwand auf Befehl und mit Ermutigung dieses Kaisers errichtet wurden, wie der Schrein des Herkules und der Musen von Marcius Philippus, der Schrein der Diana von Lucius Cornificius, die Freiheitshalle von Asinius Pollio, der Saturnschrein von Munatius Plancus, das Theater von Cornelius Balbus oder das Amphitheater von Statilius Taurus? Und darüber hinaus die unzähligen Bauwerke von Marcus Agrippa? Um nicht alle aufzuzählen, wo sind all die luxuriösen Paläste der Könige? Du findest ihre Namen in Büchern, aber man kann in ganz Rom suchen und findet entweder nichts oder nur ein paar unbedeutende Reste dieser großartigen Bauwerke. Siehst du jetzt, was du erwarten kannst?

Augustus war der größte aller Kaiser. Doch sei versichert, all seine Herrlichkeit wäre schon längst untergegangen, wenn er nichts anderes als Bauwerke hinterlassen hätte. Nicht nur die Tempel der Götter, die er errichtete, stürzten auf ihre Erbauer, sondern auch andere fromme Einrichtungen in der Stadt, die aus seiner Zeit stammen, sind eingestürzt, andere wanken und halten heute kaum noch das Gleichgewicht, alle, außer dem Pantheon von Agrippa, das für die Götter errichtet wurde, heute aber den Heiligen und der Jungfrau Maria gehört, die diesem ältesten (römischen) Bauwerk ihren Namen gibt. Glaube mir, dauerhafter Ruhm braucht mehr als Fundamente aus Stein.

Freude: Ich suche aber den Ruhm durch Bauwerke.

Vernunft: Suche doch den Ruhm dort, wo er ist, denn wo er nicht ist, kannst du ihn nie finden. Wahrer Ruhm wohnt weder in Mauern aus Ziegeln noch aus Steinen. Ich stimme der allgemeinen Ansicht zu, daß Ruhm auf drei Arten zu finden ist: Indem du etwas Großartiges vollbringst, so daß die besten Autoren über dich schreiben. Indem du etwas schreibst, das zukünftige Generationen bewundern und lesen werden. Oder durch den Bau eines wirklich großartigen Gebäudes, das jedoch das letzte und unbedeutendste dieser Liste ist und am ehesten zugrunde geht.

Freude: Ich hinterlasse Bauwerke, auf die ich stolz sein kann, wenn ich sterbe, und die mir hoffentlich Ruhm in der Nachwelt bringen werden.

Vernunft: Augustus, über den ich zuvor gesprochen habe, war stolz darauf, daß er das Rom aus Ziegeln in ein Rom aus Marmor verwandelt hatte. Doch wo wäre dieser Ruhm geblieben, wenn er ihn nicht mit anderen Errungenschaften untermauert hätte, das können wir heute deutlich sehen. Beschäftige dich daher mit besseren Dingen und hoffe auf etwas Dauerhaftes! Denn die Bauwerke, denen du dein Vertrauen schenkst, sind wertlos und werden dir bald nachfolgen und in die Erde zurückkehren, von der sie kamen.

Freude: Ich habe Häuser gebaut, von denen ich Lob erhoffe.

Vernunft: Vielleicht werden dich ihre Bewohner loben, ein kurzlebiges und unbedeutendes Lob. Aber diejenigen, die nach dir kommen, werden deine Häuser entweder nicht mehr finden oder nichts Großartiges darin sehen, und dein Name wird vergessen.

Petrarcameister - Vom Ruhm durch Bauwerke

Der Petrarca-Meister zeichnet einen Bauplatz hoch über der Umgebung, wo der Bauherr mit einem Stab in der Hand Anweisungen gibt. Auch der Steinmetz, der an einer großen Platte arbeitet, scheint zu den Arbeitern auf dem Bau zu sprechen. Zimmerleute richten Balken, Maurer und Mörtelträger sind auf den Gerüsten, an dem überdeckten Arbeitsplatz rechts wird Mörtel bereitet. Im Hintergrund öffnet sich eine weite Landschaft mit Wegen, Wiesen, Fluß, Stadt und Burgen auf Felsen. Der kleine Spießträger, den Dürer schon in seinen Werken um 1500 als Anreger der Tiefenillusion kannte, geht auch hier in den Feldern spazieren. Erst bei genauer Betrachtung entdeckt man, daß die Städte und Burgen am Einstürzen sind. An versteckter Stelle ist damit Petrarcas pessimistische Aussage illustriert, daß auch das Goldene Haus des Nero oder die Thermen des Diocletian vergänglich gewesen sind. Die Zeichnung dieses Bildes ist unklar. Das räumliche Hintereinander der Gestalten überzeugt nicht, wieder ist auch mangelhafte Kenntnis des Bauhandwerks zu beobachten, so, wenn die Maurer eine Lücke aufmauern, während rechts und links das Mauerwerk schon steht.

Soweit beschreibt Walther Scheidig dieses Bild. Aus geistiger Sicht erinnert uns diese Baustelle auch an das geschäftige Treiben im Inneren eines Menschen. Der Bauherr, der die Vernunft sein sollte, schaut zusammen mit dem gedanklichen Verstand den fünf Sinnen bei der Arbeit zu. Dabei arbeitet der Verstand auch als Steinmetz, um aus dem Ganzheitlichen kleine begreifbare Bausteine zu schlagen, und erzeugt dazu jede Menge kleine und große Splitter, die mit den Werkzeugen überall verstreut herumliegen. Dann sollen die Seelenkräfte unter ihrer Anleitung aus den verfügbaren Bausteinen etwas Greifbares und Beständiges bauen, worauf der Bauherr mit dem Maßstab in der Hand stolz sein kann. Sobald er aber stolz wird und eigenen Ruhm darin sucht, fällt die Vernunft in das eigenwillige Ichbewußtsein, und dann braucht man sich nicht wundern, daß nicht vernünftig gebaut wird, wie auch Walther Scheidig im Bild erkannte. Dazu sieht man rechts, sozusagen vor dem Hintergrund der weltlichen Vergänglichkeit, noch einen Gesellen mit einer langstieligen Schaufel, der unter dem Dach vermutlich den Sand absticht und den nötigen Kalkmörtel anrührt, den ein anderer zur Baustelle tragen soll. Nun, was ist es, was die Bausteine zusammenhalten soll? Oder um mit Goethe zu fragen: „Was ist es, was die Welt im Innersten zusammenhält?“ Und diese Frage ist vor allem angesichts der allgemeinen Vergänglichkeit im Hintergrund höchst bedeutsam…

1.119. Von der Hoffnung auf Ruhm durch Gesellschaft

Freude: Ich hoffe auf Ruhm durch die Gesellschaft, die ich pflege.

Vernunft: Vieles hängt davon ab, wessen Gesellschaft du pflegst. Es gibt einige, und ich hoffe nicht zu viele, deren Gesellschaft unerwünscht ist.

Freude: Ich weiß, daß ich ohne ehrliches Bemühen und die Gesellschaft guter Männer keinen Ruhm finden kann. Ich verlasse mich auf letztere und hoffe, daß ich durch das Beispiel dieser guten Männer gut werde und auch durch den Umgang mit ihnen Ruhm erlange.

Vernunft: Dies ist in der Tat eine hervorragende Eigenschaft besonders für einen jungen Menschen, der sich nicht an gute Menschen binden würde, wenn er keinen Geist hätte, der nach dem Guten strebt. Denn der Grund fast aller Freundschaften und engen Bekanntschaften ist eine gewisse Gemeinsamkeit und Ähnlichkeit. Also, tu was du sagst! Und wenn du denen gleichkommst, die du nachahmst, ist es gut. Wenn nicht, solange du dein Bestes getan hast, sollen deine guten Absichten nicht unbelohnt bleiben, soweit es um Lob und Ruhm geht. Der erste und wichtigste Teil der Tugend ist der Wunsch, gut zu sein. Wenn dieser nicht vorausgeht, folgt keine Tugend.

Freude: Ich rühme mich meiner Vertrautheit mit guten Männern.

Vernunft: Auch ich lobe dich dafür. Doch laß dich nicht von der Hoffnung auf Geld oder irgendeinen anderen materiellen Gewinn ablenken und deine Entschlossenheit zerstören, diesen guten Männern ähnlich zu werden. Denn alles andere, auch wenn es für Ruhm getan wird, bringt dir keinen wahren Ruhm.

Freude: So hoffe ich auf Ruhm, wenn ich mich mit guten Menschen verbinde.

Vernunft: Eine große und ehrbare Hoffnung, solange es um Beobachtung und Nachahmung in den Bereichen des Lernens, der Redegewandtheit und der Künste von Krieg und Frieden geht. Viele wurden durch den Kontakt mit edlen Personen geadelt. Aber sei vorsichtig, damit du nicht aufgrund eines Irrtums oder wegen des allgemein bedauerlichen Mangels an Gutheit und Tugend in unserer Zeit schlechte Menschen als gutes Beispiel wählst und deine Absicht völlig verfehlst.

Petrarcameister - Von der Hoffnung auf Ruhm durch Gesellschaft

Die etwas einfältige Hoffnung der Freude, als Gast bei Großen selbst zu Ruhm und Ehre zu gelangen, hätte den Petrarca-Meister wegen der bildlichen Darstellung in Verlegenheit bringen können. Er hat sich vortrefflich geholfen, indem er eine Szene aus seiner eigenen Gegenwart darstellte, die als Sittenbild erzieherisch wirken sollte. Drei reichgeschmückte Paare sitzen beim Schmaus an der Tafel, mit Speise und Trank durch zwei Diener versorgt. Jedes Paar ist völlig mit sich selbst beschäftigt, nur die Tafel und der Raum sind gemeinsam. Zu diesem Treiben kommt nun ein einzelner Freund hinzu. Betreten bleibt er stehen, niemand nimmt von seinem Eintritt Notiz, er stört nicht, er ist nicht willkommen, er ist für die Paare einfach nicht vorhanden. Der Gedanke, daß man nicht nur die Gesellen, sondern auch die passende Gelegenheit zur Geselligkeit wählen müsse, ist drastisch illustriert. Die gedeckte Tafel verdient besondere Beachtung, weil hier nicht weniger als sieben verschiedene Formen von Gläsern im Gebrauch sind: drei Formen des „Maiglein“, ein Noppenbecher, zwei hohe „Krautstrunke“ und ein „Kuttrolf“ genanntes Scherzgefäß mit enger, röhrenförmiger Öffnung.

Soweit beschreibt Walther Scheidig das Bild. Aus geistiger Sicht können wir hier die Seelenkräfte oder auch Sinne im Spiel von Männlich-Weiblich bzw. Geist-Natur sehen, wie sie mit sich selbst beschäftig sind und sich von den natürlichen Gegensätzen ernähren und selbst erhalten, die hier symbolisch als zwei Diener für Speise und Trank am reichgedeckten Tisch der Natur sorgen. An dieses Spiel der Gegensätze erinnert auch das zweigeteilte Fenster am oberen Bildrand. Hier hat es die heranwachsende Vernunft natürlich schwer, eine ganzheitliche Gemeinschaft zu finden, wo nicht jeder nur an seine eigenen Interessen denkt.

1.120. Von vielen Hoffnungen

Freude: Ich habe viele Hoffnungen.

Vernunft: In vielen Hoffnungen liegen viele Eitelkeiten und viele Möglichkeiten, vom Glück getäuscht zu werden.

Freude: Ich hoffe aber auf viele Dinge.

Vernunft: Die Hoffnung auf viele Dinge wird auch durch viele Dinge vereitelt. Wer weniger hofft, begegnet weniger Gefahren und Hindernissen.

Freude: Ich hoffe auf gute Gesundheit.

Vernunft: Dann hast du wohl deine Vergänglichkeit vergessen.

Freude: Ich hoffe auch auf ein langes Leben.

Vernunft: Ein lang andauerndes Gefängnis, in welchem du mehr leidest und mehr erlebst, als dir lieb ist.

Freude: Und lange Beweglichkeit der Glieder.

Vernunft: Hartnäckige, aber willkommene Bindungen, die man zu verlieren fürchtet.

Freude: Auch einen schönen Körper.

Vernunft: Eine Einladung zum Laster.

Freude: Ein glückliches Ende meiner Jahre.

Vernunft: Eine Sache von Scham und Kummer.

Freude: Daß ich im Arm meiner Geliebten sterbe.

Vernunft: Kurz und schmerzlos: Wie kann das sein?

Freude: Einen ungezügelten Genuß.

Vernunft: Eine Freude ohne Glück, und eine lange Buße.

Freude: Auch die Möglichkeit zur Rache.

Vernunft: Eine zügellose Grausamkeit.

Freude: Einen aktiven und starker Körper.

Vernunft: Ein hartnäckiger und rebellischer Diener.

Freude: Viele Reichtümer.

Vernunft: Eine schwere Last von Steinen und Dornen.

Freude: Schiffe, die von allen Ozeanen zurückkehren.

Vernunft: Ein Vermögen, weit verstreut unter den Ungeheuern des Meeres und zwischen den Klippen, getrieben von Strömungen, gebunden von Seilen und gepeitscht von Stürmen.

Freude: Viele Gewinne vom Handel.

Vernunft: Ein Köder, der dich mit endlosen Sorgen belasten und in viele Verluste locken wird, während du leichtgläubig einem einzigen Gewinn nachjagst. Ein neuer Kaufmann erhofft vieles, ein erfahrener überlegt vieles.

Freude: Töchter und Söhne, glücklich verheiratet.

Vernunft: Kaum eine Hoffnung scheitert öfter und schmerzlicher.

Freude: Große Macht.

Vernunft: Beneidetes Elend, reiche Armut und ängstlicher Stolz.

Freude: Königtum und Imperium.

Vernunft: Abgrund und Stürme, und unter der glitzernden Krone eine dunkle Stirn, ein ängstliches Herz und ein unglückliches Leben.

Freude: Anerkennung.

Vernunft: Staub und Lärm.

Freude: Ehe und Kinder.

Vernunft: Streit und Sorgen.

Freude: Ein Soldatenleben für mich und eine Frau für meinen Sohn.

Vernunft: Schreckliche Not für dich und liebliche Strafe für ihn.

Freude: Der Tod meiner alten Frau und eine jüngere.

Vernunft: Von einer abgenutzten Fessel befreit, um eine neue und starke anzulegen.

Freude: Talent, Redegewandtheit und Gelehrtheit.

Vernunft: Amboß, Hammer und glühendes Eisen, um deine Ruhe und die der anderen zu stören.

Freude: Eine gute Trauerrede zu meiner Beerdigung.

Vernunft: Eine Nachtigall, die für Gehörlose singt.

Freude: Einen goldenen Sarg.

Vernunft: Eine schöne Bleibe für eine Blinden.

Freude: Ruhm nach dem Tod.

Vernunft: Schönes Wetter nach Schiffbruch.

Freude: Ein Name, der von der Nachwelt geschätzt wird.

Vernunft: Ein Zeugnis von Fremden.

Freude: Einen Erben.

Vernunft: Ein Freund deines Nachlasses, und auch von dir, solange du nicht zurückkehrst.

Petrarcameister - Von vielen Hoffnungen

Zu dem unbestimmten Hoffen der Freude, die sagt „Ich habe viele Hoffnungen“, schuf der Petrarca-Meister eine rein sinnbildliche Darstellung: Da steht ein Mann in Handwerkertracht am Meeresufer. Er hat Taue um seine Arme gebunden und möchte Wolken und Wogen an sich ziehen. Dem Sturm, der ihn anbläst, schleudert er selbst aus dem Mund Feuerbrände entgegen. Sprichwörtliche Weisheit ist hier im Bild verarbeitet. „Die Hoffnung ist ein langes Seil, daran sich viele zu Tode ziehen.“ - „Hoffen heißt Wolken fangen wollen.“

Aus geistiger Sicht erkennt man hier gut, wie der Mensch an die vier Elemente von Erde, Wasser, Luft und Feuer der Körperlichkeit gebunden ist. Denn er bindet sich selber daran, weil er sich festhalten will, und zwar mit vielen Hoffnungen auf das vergängliche Glück dieser Welt. Dieses Festhaltenwollen, das man auch Anhaftung nennt, ist die Ursache aller Bindungen und raubt uns die wahre Freiheit, wie man im Bild deutlich sieht. Es ist also ein gebundenes Bewußtsein, das Petrarca mit der eigenwilligen Freude zum Ausdruck bringt, und das durch eine höhere und ganzheitliche bzw. göttliche Vernunft erhoben und von seiner Bindung befreit werden kann.

So auch soll der Mensch von göttlicher Gegenwart durchdrungen und mit der Form seines geliebten Gottes durchformt und in ihm verwesentlicht sein, so daß ihm sein Gegenwärtigsein ohne alle Anstrengung leuchte, daß er überdies in allen Dingen Bindungslosigkeit gewinne und gegenüber den Dingen völlig frei bleibe. (Meister Eckhart, Reden der Unterweisung VI)

1.121. Von der Hoffnung auf Seelenfrieden

Freude: Ich hoffe auf Seelenfrieden.

Vernunft: Warum hoffst du lieber darauf, anstatt ihn zu haben? Du könntest ihn bald finden, wenn du nur ernsthaft danach suchst.

Freude: Ich hoffe sehr auf Seelenfrieden.

Vernunft: Auf Frieden hofft nur jemand, der sich im Krieg befindet. Doch wer führt Krieg in deiner Seele, wenn nicht du selbst? Was du dir selbst verdirbst, das forderst oder erwartest du stolz von der Welt.

Freude: Ich hoffe auf den Frieden meines Geistes.

Vernunft: Darf ich fragen, woher du ihn erhoffst? Wie kannst du auf etwas hoffen, was du dir jederzeit selbst geben kannst, und was dir niemand außer dir selbst nehmen kann? Lege die Waffen von Gier und Haß nieder, und du hast die Fülle des Friedens für deinen Geist gefunden!

Freude: Ich hoffe auf Frieden und Ruhe des Geistes.

Vernunft: Warum widerspricht dann dein Handeln diesem Frieden? Und warum kämpfst du so hart gegen das, was du erhoffst? Menschen streben selten so entschlossen danach, erlöst zu werden, wie sie danach streben, zugrunde zu gehen. Sie investieren viel mehr in das Joch des Krieges und die Seelenqualen als in Frieden und Ruhe. So kämpfen die Taten der Menschen gegen ihre eigenen Hoffnungen und Wünsche, als ob der Mensch nicht nur einen Geist, sondern viele Geister in sich hätte, die völlig uneins und gegensätzlich sind.

Freude: Ich hoffe auf Ruhe.

Vernunft: Oh ihr Sterblichen! Ich frage mich, woher du den Wunsch nimmst, ewig zu hoffen. Sobald du das Erhoffte bekommen hast, setzt du die nächste Hoffnung auf etwas anderes und dann wieder auf etwas anderes, so daß das Morgen immer heller erscheint als das Heute und die Zukunft besser als die Gegenwart. Es gibt so viele, für die nichts angenehmer ist, als zu hoffen, und die ihre Hoffnungen nur ungern gegen eine Verwirklichung eintauschen. Wenn ich sehe, wie sie ewig zögern und sich damit aller guten Dinge berauben, kann ich nur wünschen, daß sie unter ihren vergeblichen Hoffnungen alt werden, damit sie schließlich verstehen, daß sie vergeblich gehofft haben, und im Rückblick der vielen Jahre erkennen, wie sie in der Welt vergebens nach dem gesucht haben, was die ganze Zeit bei ihnen war.

Freude: Ich hoffe trotzdem auf Frieden und Ruhe für meinen Geist.

Vernunft: Ein großer Teil der menschlichen Dinge ist nur Schatten, und ein großer Teil der Sterblichen ernährt sich vom Wind und erfreut sich an Träumen. Oh, wie viele gehen mit dieser Hoffnung in ewige Mühsal und Kriege!

Petrarcameister - Von der Hoffnung auf Seelenfrieden

In einer felsigen Landschaft, zwischen dornigem Gestrüpp und dürren Bäumen, in äußerst widerwärtiger Gegenwart also, sitzt ein Mann, der seiner Umgebung zum Trotz wenigstens auf Frieden des Gemütes hofft. Schon glaubt er seine Sehnsucht erfüllt: Die Lilie als Sinnbild der seelischen Harmonie bricht aus seiner Brust hervor. Doch seine Freude währt nicht lange, schon ist übles Geschmeiß um die Blüte herum, und gramvoll verzerren sich die Züge des Hoffenden, der eben noch freudig auf die Blume gesehen hatte. Auch Frieden des Gemütes ist für den Menschen nicht zu erringen. Wieder hat der Petrarca-Meister eine rein sinnbildliche Darstellung gewählt, wie sie der Aufgabe, seelische Vorgänge zu illustrieren, gut entspricht. Über Jahrhunderte hinweg ist die Darstellung des einsamen Menschen in unwirtlicher Gegend als ein Sinnbild enttäuschter Erwartungen verstanden worden. Caspar David Friedrich hat den Ausdruck seiner Seelenstimmung in dem Holzschnitt, der „Das einsame Mädchen“ genannt wird, ähnlich mit dürren Bäumen, Disteln und Spinnweben symbolisiert.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht wird hier wieder deutlich, daß der Petrarca-Meister diesen Weg des Erwachens gut kennt und weiß, wovon Petrarca spricht. Denn Gier und Haß zu besiegen bedeutet auch, das eigenwillige Ego zu besiegen. Dann wächst die mystische Lilie des ewigen Lebens aus dem Herzen, und das Ego muß sterben. Und das ist natürlich ein schmerzlicher Prozeß, wenn diese Illusionsblase des Eigentums vergeht und das höhere Bewußtsein in dieser toten Welt der Körperlichkeit erwacht, in einer materiellen und feindlichen Welt, die sich das Ich-Bewußtsein über viele Generationen und Zeitalter selbst geschaffen hat. Doch durch dieses Leiden und Sterben muß die Seele wohl hindurchgehen, um den wahren Frieden wiederzufinden.

Es muß ein gar kräftiges Leben sein, in dem tote Dinge lebendig werden, ja, in dem selbst der Tod ein Leben wird. Gott, dem stirbt nichts; alle Dinge leben in ihm. (Meister Eckhart, Predigt 9)

1.122. Von der Hoffnung auf ewiges Leben

Freude: Ich hoffe auf ein ewiges Leben.

Vernunft: Keine Hoffnung ist erhabener, schöner und heiliger, aber sie darf nicht blind oder übereilt (bzw. gierig) sein. Es gibt viele, die ständig Böses tun, aber auf das Gute hoffen, was das Dümmste ist, was man tun kann.

Freude: Ich habe diese Hoffnung auf ein ewiges Leben.

Vernunft: Zwischen den Tugenden gibt es eine enge Verwandtschaft und Verbindung, wie auch die Philosophen argumentieren, so daß derjenige, der eine Tugend hat, alle haben muß, woraus folgt, daß jenem, dem eine fehlt, alle fehlen. Wenn dies für die moralisch-weltlichen Tugenden gilt, was gilt dann für die theologisch-göttlichen? Wenn du also Hoffnung hast, dann mußt du auch Nächstenliebe und Glauben haben, und wenn eines davon fehlt, hast du keinerlei Hoffnung, nur unvernünftige Begierde.

Freude: Ich hoffe aber auf ewiges Leben.

Vernunft: Du hoffst auf etwas Gutes, und in der Tat auf das Allerbeste. Also achte darauf, daß du das Gute im Handeln auch wirklich gut machst, denn es gibt viele, die das Gute schlecht machen. Und nur der ist ein verläßlicher Beobachter, der auf die Motivation ebenso achtet, wie auf die Ergebnisse, und über die Adverbien („Umstandswörter“) nicht weniger nachdenkt als über die Verben und Substantive („Tätigkeits- und Dingworte“).

Freude: Ich hoffe auf ewiges Leben.

Vernunft: Nicht nur die himmlischen Herrscher, sondern auch die irdischen lieben es, Gegenstand von Hoffnungen zu sein: Aber wessen Hoffnung? Sicherlich die Hoffnungen derer, die sie lieben und schätzen, und vielleicht derer, die einst haßerfüllt und feindlich waren, aber jetzt in ihre Gnade zurückkehren und um ihre Gnade bitten wollen.

Freude: Ich hoffe auf ewiges Leben.

Vernunft: Dann führe dein zeitliches Leben so, daß es dich zum ewigen Leben führt.

Freude: Ich hoffe auf ewiges Leben.

Vernunft: Das ist die einzige Hoffnung für alle, die wahrhaft glücklich machen kann, wenn du sie richtig erkennst, und dann macht sie es bereits.

Freude: Ich hoffe auf ewiges Leben.

Vernunft: Zuerst mußt du auf Gnade hoffen, dann kannst du auf Leben hoffen. Dazu mußt du sowohl nüchtern als auch bescheiden sein.

Freude: Ja, ich hoffe auf ewiges Leben.

Vernunft: Oh du Glückseliger, wenn dich diese Hoffnung nicht täuscht!

Petrarcameister - Von der Hoffnung auf ewiges Leben

Sollte es überraschen, am Ende des ersten Buches und als Schlußapoteose die Seligkeit in Gott von dem Stoizisten Petrarca verkündet zu hören, so sei gesagt, daß Petrarca sich keineswegs konsequent zur antiken Philosophie bekehrt hat. Trotz der zahlreichen Belehrungen, die die Vernunft über ihr heidnisches Lebensideal gibt, hat Petrarca zeit seines Lebens seine Hoffnung auf den Gewinn eines ewigen jenseitigen Lebens durch göttliche Gnade nicht abgelegt. Diese Hoffnung behält das letzte Wort, und auch der Priester ist als Vermittler der göttlichen Gnade noch anerkannt. In diesem Sinne hat der Petrarca-Meister seine bildliche Darstellung angelegt. In einer Kirche nimmt der Geistliche die Wandlung vor. Ein mächtiger Engel hat den Hoffenden ganz in seiner Gewalt, er zwingt den Blick des Betenden auf den Altar hin. Draußen vor dem Tor der Kirche tobt der Teufel durch die Welt. Vor ihm hat sich anscheinend ein Mann an das Portal des Gotteshauses gerettet und spricht dort sein Dankgebet.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht ist es natürlich unmöglich, daß diese Freude ihre Hoffnung auf ewiges Leben erfüllt bekommt, solange ein vergängliches Ichbewußtsein dahintersteht. Denn ein solches Bewußtsein ernährt sich von Illusion, und Illusion erkennt man nun einmal daran, daß sie sich wieder auflöst, weil das ihr natürliches Wesen ist. Dann fragen die Menschen: „Wo ist sie denn plötzlich hin?“ Und der Weise lächelt und fragt: „War sie denn in Wahrheit da?“ Deshalb muß sich unser Bewußtsein auf eine höhere Ebene begeben, wo es keine Vergänglichkeit gibt, um das ewige Leben zu erreichen. Und das ist auch im Bild vorzüglich dargestellt, wie der Engel als höheres und ganzheitliches Wesen die Gnade gewährt, wie die Augen und auch die Lichter des Bewußtseins nach oben zum Göttlichen bzw. Ganzheitlichen gerichtet sind, und wie draußen in der Welt der Teufel wütet, der gefallene Engel, der auch das Ego-Bewußtsein symbolisiert, das sich vom göttlichen Bewußtsein abgetrennt hat, um eigenständig zu sein, und damit in diese materiell-körperliche Welt gefallen ist. Nun, das ist wohl unsere einzige wahre Freiheit in dieser Welt, nämlich das Bewußtsein zu erheben und zu erweitern.

Sankt Augustinus stellte die Frage, was ewiges Leben sei, und er antwortete und sprach: Fragst du mich, was ewiges Leben sei? Frage und höre das ewige Leben selbst! Niemand weiß besser, was die Hitze ist, als der, welcher die Hitze hat; niemand weiß besser, was die Weisheit ist, als der, welcher die Weisheit hat; niemand weiß besser, was ewiges Leben ist, als das ewige Leben selbst. Unser Herr Jesus Christus spricht nun: »Das ist ewiges Leben, daß man dich, Gott, allein erkenne als den einen, wahren Gott« (Joh. 17.3). (Meister Eckhart, Predigt 40)

Ende des ersten Buches „Von der Heilung des Glücks“


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