Heilung von beiderlei Glück - Francesco Petrarca

Das zweite Buch - Von der Heilung des Unglücks

Petrarcameister - Unglücksrad

Dieses Titelbild zum zweiten Buch gleicht dem des ersten Buches und zeigt ein ähnliches Glücksrad, welches das menschliche Schicksal symbolisiert und von vier mächtigen Winden aus den vier Ecken umgetrieben wird, die uns an die Macht der vier Elemente von Erde, Wasser, Luft und Feuer erinnern. Aber es dreht sich jetzt links herum, so daß man nun von einem „Unglücksrad“ sprechen könnte. Aus weltlicher Sicht sieht man oben einen Kaiser mit Schwert und Reichsapfel in den Händen und dem kaiserlichen Hermelin bekleidet, wie er relativ wacklig auf seinem Thron sitzt und versucht, das Gleichgewicht zu halten. Rechts und links erscheinen Aufstieg und Fall, und unten wiederum die Machtlosigkeit mit zerbrochener Krone und Schwert, vielleicht sogar gebrochenem Genick, und das Zepter gleitet aus der Hand. Was also im Glücksrad ein Aufstieg war, ist nun im Unglücksrad ein Abstieg und umgekehrt. Das heißt, Glück und Unglück ist vor allem eine Frage der Betrachtungsweise. Im Glücksrad betrachtet man mehr den Gewinn, und im Unglücksrad den Verlust, also zwei Formen des gleichen Wesens. Entsprechend diskutieren im ersten Buch die Freude und im zweiten Buch der Schmerz mit der höheren Vernunft, die beide Seiten des Rades durchschaut und das wahre Wesen von Freude und Schmerz kennt.

Aus geistiger Sicht erkennt man hier das gedanklich-formhafte Bewußtsein, das sich eigenwillig und eigennützig um sich selber dreht, nämlich im körperlichen Rad des Lebens von Werden und Vergehen zwischen Macht und Ohnmacht. Die fünf Speichen, die den äußeren Radkranz stützen, erinnern uns an die fünf Sinne, und die Nabe an entsprechende Ursachen, die im Glücksrad als fruchtbare Eicheln und im Unglücksrad als welkendes Laub dargestellt werden. Das große Ziel, um dieses Rad zu verlassen, wäre ein reines und freies Bewußtsein, daß nicht mehr an diese Welt der vergänglichen Formen und Zwänge gebunden ist.

Vorrede zum Zweiten Buch

Von allem Gelesenen oder Gehörten, das meine Zustimmung fand, hat sich mir kaum etwas so tief eingeprägt und so oft in Erinnerung gebracht wie die Worte von Heraklit: „Alles existiert durch Streit.“ Ja, so ist es, und nahezu alles zeugt davon. Die Planeten bewegen sich in schnell wechselnden Konjunktionen am Firmament, die gegensätzlichen Elemente kämpfen miteinander, die Erde bebt, die Meere wallen, die Luft wirbelt, die Flammen knistern, der ewige Krieg der Stürme, die Jahreszeiten streiten gegeneinander, jeder kämpft in sich selbst, und alles mit und gegen uns. Feuchter Frühling, trockener Sommer, milder Herbst und harter Winter, und was wir Veränderung nennen, ist in Wirklichkeit ein Kampf. Gerade die Dinge, worauf wir uns stützen und ein sicheres Leben führen wollen, und die uns mit so viel Verlockungen umschmeicheln, werden die schrecklichsten, sobald sie zu wüten und streiten beginnen. Das sehen wir an Erdbeben, Orkanen, Schiffbrüchen und Feuerbränden, die (aus Vulkanen) an Land und (mit Blitzen) aus der Luft wüten. Wie gewaltig der Hagel, wie heftig die Regengüsse, wie schrecklich die Donnerschläge, welche Wucht der Blitze, welches Wüten der Stürme, welches Toben und Tosen der Meere, wie auch das Rauschen der Wildbäche, das Hochwasser der Flüsse und das wilde Jagen der Wolken hin und her und gegeneinander! Und das Meer selbst: Nicht nur die offensichtliche Macht seiner rasenden Stürme und die geheimnisvolle Aufwühlung seiner Wellen, sondern auch der mächtige Wechsel von Ebbe und Flut, die an vielen Orten stetig auftreten, aber am deutlichsten im Westen. Und die Suche nach den unbekannten Ursachen solcher wohlbekannten Phänomene hat unter den Philosophen in den Schulen nicht weniger Streit erregt als in den Fluten der Meere.

Gibt es überhaupt ein Lebewesen, das vom Streit verschont ist? Ob Fische, Wildgetier, Vögel, Schlangen oder Menschen, eine Art bedrängt die andere, und keinem ist Ruhe gegönnt. Der Löwe verfolgt den Wolf, der Wolf den Hund, der Hund den Hasen. Es gibt sogar eine besonders mutige Hunderasse, deren Vertreter nicht nur Wölfe angreifen, sondern auch Löwen, Panther, Wildschweine und Bären. Manche sollen von so mächtiger Wildheit und hochfliegenden Mutes sein, daß sie die Jagd auf Bären und Wildschweine verschmähen und lieber Elefanten oder Löwen angreifen. Ich habe gelesen, einer von ihnen wurde König Alexander übersandt, der ihn aber aus Unwissenheit verachtete und töten ließ. Aber zu einem zweiten, der ihm zugeschickt und genauer erklärt wurde, faßte er eine so einzigartige Zuneigung, daß es sein Lieblingshund wurde. So sagt man zwar, der Hund sei der beste Freund des Menschen, aber welche Zuneigung hegt er denn wirklich für ihn, abgesehen von der Hoffnung auf sein Futter? Sein ständiges Beißen und Bellen zeigt es genug, ganz zu schweigen von der Fabel von Actaeon oder dem Schicksal von Euripides, die von Hunden in Stücke gerissen wurden.

Von allen Tieren ist wohl der Fuchs am meisten für seine List bekannt, und es wird erzählt: Als einige Fischer ihre Fische zur Stadt brachten, was sie im Sommer gerne nachts tun, fanden sie mitten auf einem Waldweg einen kleinen Fuchs, der wie tot auf der Landstraße lag. Sie ergriffen ihn und warfen das Füchslein auf ihre Ladung, um ihn später zu häuten. Doch dort habe er sich weidlich mit Fischen vollgefressen und sei dann plötzlich abgesprungen und zu ihrem Schaden und Ärger entflohen. Wie viele solche Streiche spielen die Füchse! Und das Heulen der Wölfe, ihr Herumstreifen um Gatter und Scheunen! Und wie die Krähen und Milane die Taubenhäuser und Hühnerställe beobachten! Es wird gesagt, daß der Haß zwischen ihnen angeboren und ewig sei. Sie greifen gegenseitig ihre Nester an, zerschlagen die Eier und zerstören alle Hoffnung auf Nachwuchs. Auch der Kuckuck hat viele Feinde, denn fast jeder Vogel greift ihn an, so daß er ständig flieht und klagt. Und wie sorgfältig die Wiesel gegen die Schlangen vorgehen, ähnlich wie die Diebe in die Gemächer der Reichen eindringen! Was für ein harter Kampf jeder Art, um sich selbst zu beschützen, und welche ständige Achtsamkeit, um sich gegen andere zu wehren!

Wer könnte all die Tricks und Fallstricke der Jäger und Vogelfänger, die Netze und Haken der Fischer, ihre Geduld und ihre Wachen beschreiben? Oder auch die vielen Tricks der Tiere, Vögel und Fische, um ihnen zu entkommen? Sind das nicht alles Werkzeuge des Streites? Was sind die Stiche der Bremsen und Wespen, die sogar die Ochsen quälen, daß ihnen der Schweiß wie im Kampf läuft? Auch Hunde, Pferde oder andere Vierbeiner haben nicht mehr Ruhe. Im Sommer werden sie von Fliegen geplagt und im Winter von Schnee, den manche scherzhaft „weiße Fliegen“ nennen. Auch die Mäuse rennen ewig herum, Flöhe belagern uns in der Nacht, und Mücken stechen uns am Tag. Die Störche kämpfen mit den Schlangen und Fröschen, und die Pygmäen mit den Kranichen. Welche Kämpfe schürt der Golddurst unter den Arimaspen und den Greifen, so daß schwer zu sagen ist, wessen Bosheit größer ist! Diese werden zum Rauben angetrieben, jene zum Bewachen. Diese werden von der Gier nach Gewinn angestachelt, jene von der Angst vor Verlust. Die gleichen Neigungen zum Greifen und Beschützen finde ich auch in der entlegensten Region der Welt, bei den Indern, wo bestimmte Ameisen von unglaublicher Größe und bemerkenswerter Wildheit ihr Gold gegen die ebenso große Gier des dortigen Volkes verteidigen. Der Basilisk erschreckt andere Reptilien mit seinem Zischen, vertreibt sie bei Annäherung oder tötet sie mit seinem bloßen Blick. Die Riesenschlange umschlingt den Elefanten mit ihren mächtigen Windungen. Woher kommt dieser natürliche Haß zwischen den Tieren? Ist es der Durst nach dem erkalteten Blut in der Sommerhitze der Leidenschaft, was manche vom Ende des Kampfes berichten? So stirbt der eine vertrocknet ohne Blut, und der andere platzt vor zu viel Blut und fällt ebenfalls tot zu Boden, besiegt von seiner Gier.

Sogar den großen Elefanten stören viele Dinge, wie zum Beispiel die quälenden Schmerzen eines Blutegels oder die Angst, wenn er eine Maus sieht oder hört. Es ist erstaunlich, daß ein so riesiges Tier, das mit so enormer Kraft ausgestattet ist, beim Anblick eines so kleinen Feindes Angst bekommt. So hat Mutter Natur nichts ohne Streit und Angst geschaffen. Ähnlich gilt auch der Löwe als ein edles und furchtloses Tier, das allen Waffen trotzt, unerschrocken von ihrer Bedrohung, wenn er seine Jungen verteidigt. Aber erstaunlicherweise kann er das Rattern von Rädern oder leerer Wagen nicht ertragen, und wenn die Geschichten stimmen, fürchtet er noch mehr die Kämme und das Krähen der Hähne, aber vor allem die knisternden Flammen des Feuers. Dieser „innere Kampf“ ist charakteristisch für diese Art, wie auch der Jagdtrieb, den alle Raubtiere besitzen. Ähnlich haben auch die Tiger ihren Kampf, denn sie bekämpfen den Feind, der ihre Jungen mit schneller List und Einfallsreichtum ergreifen und verschleppen will. Und der Wolf befindet sich im ewigen Kampf mit seinem Hunger, den Bauern und den Hirten.

Nun habe ich bisher über die giftigen und wilden Tiere gesprochen. Aber welches der zahmen Haustiere hat Frieden? Denke an die Gewalt und den Haß, mit dem die Schweine und auch Stiere gegeneinander kämpfen! Welches Stürmen, welcher Übermut des Sieges, welcher Schmerz der Niederlage, welche Erinnerung an Verletzungen und welche Rückkehr zur Rache! Wer erkennt beim Lesen der Literatur nicht, wie die angriffslustigen Stiere und hornbewährten Böcke die Fantasie der Dichter beflügelt haben? All dies zeigt nur eines: Nichts existiert ohne Streit.

Wann hat ein fremdes Pferd, das in einen neuen Stall kam, oder ein fremdes Fohlen, neu auf der Weide, in Ruhe sein Futter gefressen? Und wer hat nicht schon die Leidenschaft gesehen, mit der die Hennen ihre kleine Brut beschützen? Es ist wohl wahr, daß diese Leidenschaft allen Tieren gemeinsam ist, und es gibt wohl keines, das so sanftmütig wäre, daß es sich nicht von Liebe und Angst um seine Nachkommen beherrschen ließe. Auch die Hähne bekämpfen sich mit ihren Sporen und beißen einander, so daß das spritzende Blut aus ihren Wunden die stolzen Kämme noch mehr rötet, und stürmen mit aller Kraft gegeneinander. So viel Haß und Stolz herrscht in diesen kleinen Brüsten, so ein Siegeshunger und so ein Abscheu vor der Niederlage! Wer hat nicht die störrische Hartnäckigkeit der Enten und Gänse gesehen, wie sie sich gegenseitig mit ihren Brüsten schubsen, ihrem Geschnatter beschimpfen, mit den Flügeln schlagen und ihren Schnäbeln beißen? Unter den wilden Tieren ist es nichts Ungewöhnliches und durchaus üblich, daß die Größeren für die Kleineren Tod und Grab sind. Säugetiere fressen Säugetiere, Vögel fressen Vögel, Fische fressen Fische und Würmer fressen Würmer. Hinzu kommt, daß manche Vögel und andere Tiere die Teiche, Seen, Meere und Flüsse so sehr verwüsten, plündern und erschöpfen, daß mir das Wasser von allen Elementen am wenigsten friedlich erscheint. Es wird entweder durch seine eigene Bewegung oder durch die seiner Bewohner immer wieder erregt, so daß es dort zweifellos auch die größte Vielfalt von außergewöhnlichen und auch schrecklichen Tieren gibt. So glauben die Gelehrten, daß es im Meer nicht weniger Tierarten als an Land und in der Luft gibt, und daß dort sogar endlos viele sind, die wir an Land noch nie gesehen haben. Aber fast alle führen Krieg gegeneinander aus Gier oder Haß.

Solange diese nicht aufhören, wird auch der Streit nicht enden. Denn es gibt so viel Eifersucht in der Liebe, so viel Zwietracht in der Ehe, so viele Klagen und Beschwerden unter Liebenden, so viele Seufzer und so viele Sorgen. Und was soll ich vom Streit zwischen Herren und Knechten sagen, die einander nicht weniger feindlich gesinnt sind, weil sie Hausfeinde sind, die nicht friedlich zusammenleben könnten, wenn sie nicht durch drohenden Tod oder Armut dazu gezwungen würden. Und was soll ich über Brüder sagen, die sich „selten lieben“, wie Ovid bezeugt, oder die Konflikte zwischen Kindern und Eltern, die im selben Gedicht erwähnt werden. Oder auch über die Eltern, deren Liebe zu ihren Kindern sprichwörtlich ist, wie sie sich über ihre Kinder aufregen, sich nach guten Kindern sehnen und schlechte beklagen, so daß aus ihrer Liebe in seltsamer Weise Haß wird. Und wenn auch die Worte „Bruder“ und „Vater“ auf die engste aller Beziehungen hinweisen, so sehen wir doch oft, daß auch diese Liebe schwankt und sogar zu Haß wird. So komme ich nun auch zu dem heiligen Wort „Freundschaft“, das von „Lieben“ abgeleitet ist (amicitia von amare) und sicherlich nicht ohne Liebe (amor) verstanden werden kann. Trotzdem herrschen auch unter Freunden Meinungsverschiedenheiten über Wege und Taten, auch wenn sie sich über das Ziel einig sind, so daß Ciceros Definition nur selten zutrifft. Es mag Wohlwollen und Nächstenliebe zwischen Freunden geben, aber der Kern seiner Definition, die „Übereinstimmung in allem Menschlichen und Göttlichen“, fehlt sicherlich.

Worauf kannst du dann noch hoffen, umgeben von Haß? Denn es gibt Haß in der Liebe, Krieg im Frieden und Zwietracht in der Eintracht. Das kann ich dir zeigen, daß dies so ist, an den Dingen, die wir täglich vor Augen haben. Schau dir die wilden Tiere an, die kaum von einer eisernen Waffe gebändigt werden können, aber der allmächtige Trieb der Liebe überwältigt sie. Betrachte das heftige Knurren, mit dem die Löwen, Tiger und Bären das tun, was sie am liebsten tun wollen. Man könnte meinen, sie tun es nicht aus Verlangen, sondern aus Zwang. Denn viele wilde Tier begatten sich mit lautem Stöhnen und schwingen ihre scharfen Krallen. Auch wenn wir glauben, was Gelehrte (wie Plinius in seiner Naturgeschichte 10.62, um 50 n. Chr.) über die Natur der Giftschlangen geschrieben haben, wieviel Gegensätzlichkeit und Streit gibt es unter ihnen! In natürlicher, aber ungezügelter Lust soll die männliche Schlange ihren Kopf in das Maul des Weibchens stecken, die von der Inbrunst der Begattung so hingerissen ist, daß sie ihn abbeißt. Und wenn dann für die schwangere Witwe die Zeit der Entbindung naht, wird sie von der großen Brut von Innen zerrissen, weil diese herbeieilt, um den Tod des Vaters zu rächen. So erweist sich die Hingabe an die Nachkommenschaft und Zeugung zweier Lebewesen als unglücklich und für die ganze Art äußerst zerstörerisch, weil die Begattung den Vater und die Geburt die Mutter tötet. Dazu beobachte auch die Bienenstöcke, das schnelle Hin und Her, das Gesumme, und nicht nur ihre Kriege mit den Nachbarn, sondern sozusagen auch ihre Bürgerkriege und häuslichen Kämpfe. Beobachte auch die Tauben in ihren Nestern, die angeblich harmlosesten Kreaturen, die keine Galle hätten, was für Kämpfe und was für ein Lärm ihr Leben bestimmen. Man wähnt sich in einem Lager von Meuterern und Barbaren, wo es weder am Tag noch in der Nacht Frieden gibt. Abgesehen von den gegenseitigen Angriffen, denken wir auch an das laute Stöhnen der sich lustvoll paarenden Turteltauben, was sie zu Tieren macht, die der Venus geweiht sind. Und oft hört das verliebte Männchen nicht auf, um das Weibchen zu kreisen, und verfolgt sie mit Flügel- und Schnabelschlägen.

Dazu möchte ich auch auf die kleinsten Kreaturen verweisen. Es gibt nicht weniger Streit unter ihnen, aber er ist weniger sichtbar und bemerkbar. Welche List und wilde Wachsamkeit zeigt die Spinne, die die schwächeren Fliegen in ihrem kunstvollen Spinnennetz fängt, das zur Täuschung und zum Raub gesponnen wird. Auch die Motte im Tuch, die Fäulnis auf dem Holz, die kleinen Würmer, die die ganze Nacht mit dumpfen Geräusch unermüdlich in den Holzbalken nagen, besonders wenn das Holz ohne sorgfältige Beobachtung der Mondphasen und des Monats gefällt wurde - diese lauernde Plage, die nicht nur rauchgeschwärzte Bauernhütten, sondern auch die goldgetäfelten Decken in königlichen Palästen befällt, und weder heilige Tempel und Altäre verschont noch die geheiligten Werke großer Philosophen, wenn sie die Büchertafeln, Pergamente und Briefe zernagt. Laß mich hier auch hinzufügen, daß dieser Holzwurm, wenn das Holz nicht mit flüssigem Pech und leichtem Brennen behandelt wurde, nicht selten eine Ursache für Gefahr und sogar für Schiffbruch ist und es wagt, mit auf den Ozean zu fahren, die Kiele der Schiffe anzunagen, und damit oft Ahnungslose angreift. Und was machen die Würmer mit dem Gemüse, die Heuschrecken mit der ganzen Ernte von Feldern, die Gänse oder Sperrlinge im Garten, der Kranich, der (an den Teichen) umherzieht, oder andere lästige Vogelarten? So wundere ich mich nicht mehr über die Verse von Virgil in den „Gedichten vom Landbau“, daß man sie mit Lärm vertreiben sollte. Wer wie ich auf dem italienischen Land lebt, dem sind Vögel als unangenehme Plagegeister des Sommers bekannt. Denn ich selbst ärgere mich über den Lärm, den sie bei Einbruch der Dunkelheit machen, aber auch über das Krachen der auf sie geworfenen Steine und die Schreie der Feldhüter.

Bedenke auch, was der Igel mit den Trauben macht, der Rost mit den Pflanzen, die Raupe mit den Blättern, der Maulwurf mit den Wurzeln, und schließlich auf den Dachböden und in den Scheunen „der Rüsselkäfer und die Ameise, die sich vor der Armut des Alters fürchten“, wie Virgil sagte. Welche Entschlossenheit und Rastlosigkeit stecken in diesen winzigen Geschöpfen, die für ihren Winter sorgen, aber unseren Sommer stören! Ich glaube anderen nur zögerlich, aber ich weiß aus eigener Erfahrung, wie groß der Ärger und vor allem der Verlust ist, den diese Armee von Parasiten anrichtet, die immer in furchtbarer Eile sind und nicht nur die Felder, sondern auch Lagerräume, Truhen und Schlafgemächer verseuchen. Aus diesem Grund glaube ich mittlerweile auch die Berichte von Seefahrern, daß es bei Pisa sogar eine Burg am Meer gibt, die wegen einer massiven Ameisenflut verlassen wurde. Ähnliches wird auch von Vincenza berichtet, und ich denke, es könnte in beiden Fällen zutreffen und auch an jedem anderen Ort passieren. Denn in letzter Zeit haben mich die Ameisen fast vertrieben, nicht aus einem Landhaus, sondern aus meinem Zuhause in der Stadt, so daß ich mit Mitteln wie Feuer und Kalk kämpfen mußte, um nicht ganz fliehen zu müssen. Das ließ mich auch Apuleius glauben, der erzählt, daß ein (mit Honig eingeschmierter) Mann von Ameisen verschlungen wurde, obwohl in meinem Fall natürlich der Honig fehlte. Ich kann also nicht leugnen, daß ich verblüfft bin, warum einige die Ameise als ein Muster von „Sorgsamkeit“ hinstellen, und andere lange Aufsätze verfassen, in denen ihre Sparsamkeit und ihr Fleiß gelobt werden. Bei Jupiter, wenn jede sorgfältige Sorgsamkeit lobenswert ist, können Ameisen durchaus als ein gutes Vorbild für Räuber gelten, aber nicht für Menschen, die darauf bedacht sind, von ihrem eigenen zu leben, ohne andere zu verletzen. Wie jeder weiß, ist die Ameise wirklich ein fürsorgliches Insekt, aber faul, ungerecht und räuberisch lebend, nur fleißig in der Verwüstung und gut für viel Ärger und Ermüdung. Warum dieses Insekt gepriesen wird, ich wiederhole es, ist mir ein Rätsel. Sie hätten doch besser die Biene benutzen können, ein fleißiges und äußerst vorausschauendes Geschöpf, das wenig schadet, vielen nützlich und hilfreich ist, und das auch für sich selbst durch seine Natur und seine lobenswerten Bemühungen.

Und was soll ich über die verderbliche Fülle und den üppigen Wucher von Unkraut sagen, dem der Bauer stets auflauert, bewaffnet mit harten Fingernägeln und seiner zornig gebogenen Sichel? Und was über die Kletten und Disteln und dem alljährlichen Ansturm von Keimlingen und Wurzeln, eine fortwährende Quelle von Streit und Mühe, die beständig nachwächst? Was über den wilden Krieg der Regengüsse, die Schneeberge, den tödlichen Frost, die harte Gewalt des Eises, die unerwarteten Überschwemmungen und den unvorhersehbaren Anstieg der Flüsse, der oft ganze Regionen und Völker verwüstet und vor allem die Felder der Bauern, die mit gebeugtem Rücken unter so vielen Schwierigkeiten ihr irdisches Dasein kaum noch fristen können?

Aber die Verwöhnten und Reichen haben nicht weniger Unannehmlichkeiten. Wer von ihnen muß nicht den nächtlichen Krieg der Vögel ertragen, das Geschrei der Eulen und Uhus, das Heulen der Hunde, die den Mond anbellen, das Gejammer der läufigen Katzen auf den Dächern mit ihrer schrecklichen Katzenmusik, das unheilvolle Piepsen der Mäuse, und all die anderen Geräusche, die quälend die Nacht erfüllen? Dazu das Quaken der Frösche im Dunkeln und die Schreie der Schwalben am Morgen, ihr Jammern und Drohen, als wären Itys und Tereus persönlich anwesend. Und tagsüber, wenn die meisten Vögel schweigen, hört man das nervige Zirpen der Grillen, das unverschämte Krächzen der Krähen, das Schreien der Esel, das Blöken der Schafe, das Brüllen der Ochsen und das wirre Gegacker von Hühnern, die dann nur kleine Eier legen, die für einen hohen Preis verkauft werden. Aber das Schlimmste ist das Grunzen der Schweine, das Geschrei der vulgären Leute und ihr idiotisches Gelächter - so absurd, daß es nichts Absurderes gibt, wie Catull sagt. Dazu kommen die Lieder und Gelage der Betrunkenen, trauriger als alles andere, die Schreie der Streitenden, die Beleidigungen und das Geschwätz alter Frauen, das Streiten und Gebrüll der Kinder, die Hochzeiten mit ihrer lärmenden Geselligkeit und ihren Tänzen, die zweifelhaften Tränen von Ehefrauen, die ihre verstorbenen Ehemänner betrauern, und auch das aufrichtige Jammern von Eltern, die ihre toten Kinder beklagen. Dazu kommt das Gedränge und der Lärm auf den Märkten, das Feilschen der Kaufleute und Kunden, die verächtlichen Fragen der Käufer und die feierlichen Versicherungen der Verkäufer, sowie auch die monotonen Lieder der Arbeiter, um die Arbeit zu erleichtern, die unangenehme Trommelmusik von denen, die Wolle und Pelze klopfen, das Schlagen der Webstühle und das Schnauben der Blasebälge und helle Hämmern in den Schmieden. Und das alles, bis wieder die kühle Nacht hereinbricht, so daß es keine Zeit für Frieden und Ruhe gibt, keine Zeit ohne Streit.

So kann man auch von unbelebten Dingen sprechen: Was hat der Magnet mit dem Eisen und der Diamant mit dem Magnet zu tun? Obwohl der Grund ihres Streites verborgen ist, ist doch die Wirkung offensichtlich. Der Magnetstein zieht Eisen an. Aber legt man einen Diamanten in seine Nähe, dann wird er es nicht mehr anziehen und sogar loslassen (nach Augustinus, De Civitate Dei, Liber 21, 4). Die Kraft in beiden ist erstaunlich. Es ist, als ob die Natur einem gefühllosen Stein starke Hände und Klauen verliehen hätte, um das Metall zu ergreifen, welche durch einen anderen Stein wieder geschwächt werden. Dies stellt aber nicht das Ende des ersten Streits dar, sondern ein neuer beginnt, obwohl viele die Wahrheit des zweiten Phänomens bezweifeln. Ich selbst hatte bisher weder Gelegenheit noch Lust, dies experimentell zu prüfen, und kann also nichts sicher behaupten. Aber was die erste Verwandtschaft zwischen Magnetstein und Eisen betrifft, die ist so gut bekannt, daß sie nicht bestätigt werden muß.

Aber ich merke schon: Ich habe in allzu kurzer Zeit und auf zu engem Raum ein ungeheures Werk mit solchem Ungestüm in Angriff genommen, daß ich dazu mehr guten Willen mitbringe als die nötigen Kräfte. So wird es mir oder anderen nicht leichtfallen, alle offensichtlichen Tatsachen zusammenzutragen, die klar belegen, daß alles durch Streit existiert. Denn all diese Details sind doch im Großen und Kleinen tatsächlich ein großes Wunder. Ich muß jedoch zugeben, daß ich das tiefste und erstaunlichste unter den größten Wundern der Natur noch gar nicht berührt habe. So will ich kurz darauf eingehen: Der „Schiffshalter“ ist ein kleiner Fisch, etwa einen halben Fuß lang, der aber trotz Wind, Wellen, Rudern und Segeln ein großes Schiff festhalten kann. Es ist der einzige Fisch, der der Kraft des Menschen und der Elemente in einfacher Weise trotzen kann, indem er sich ohne große Anstrengung an die Planken des Schiffes klammert, nur durch seine eigene Natur. So steht es zwar bei berühmten Autoren zu lesen, doch man würde es zu all den vielen Mythen zählen, wenn es nur ein Bericht vom Indischen Ozean oder vom skythischen Nordmeer wäre. Aber diese Ungeheuerlichkeit ist auch in unserem Mittelmeer römischen Kaisern zugestoßen. Und als die Ursache untersucht wurde, was dieses Schiff wie ein Anker festhielt, während der Rest der Flotte weitersegelte, fanden die Matrosen im Wasser die Wahrheit, nämlich einen kleinen Fisch, der sich wie eine Schnecke am Steuerruder festklammerte. Als er dem Kaiser gezeigt wurde, ärgerte er sich darüber, daß ein so winziges Wesen solche Macht hat, aber stellte überrascht fest, daß der Fisch im Inneren des Schiffes seine Macht verloren hatte. (nach Plinius Naturgeschichte, 32.1)

Es gibt noch eine andere Art von erstaunlichem Monster, über das ich wirklich lieber schweigen würde, als es in irgendeiner Weise zu bestätigen. Ich weiß nicht, wie wahr die Geschichte ist, die uns erreicht hat. Jedenfalls ist es neu und kommt mir schon deswegen sehr suspekt vor. In der Nähe des Indischen Ozeans soll ein Vogel von unerhörter Größe leben, den unsere Matrosen „Roch“ nennen, der angeblich mit seinem Schnabel nicht nur einzelne Menschen, sondern ein ganzes Schiff anheben und in die Wolken tragen kann und die armen Matrosen mit diesem Flug in die Luft einem schrecklichen Tod ausliefert. Doch die Macht der menschlichen Begierde ist so groß, daß solche und viele andere große Gefahren nicht vor der Seefahrt abschrecken. Es sind die Menschen nun einmal so beutegierig, daß sie selbst zur Beute werden.

Nun will ich auch vom Unsichtbaren einige Argumente heranziehen. Welche Mischung von Gegensätzen braucht es für das wünschenswerte gemäßigte Klima! Durch welchen Gegensatz feindlicher Extreme wird die ausgleichende Tugend erreicht! Durch welche Differenzen und Dissonanzen kommen wir zur Harmonie in der Musik! Kurz gesagt, untersuche und durchquere in Gedanken Erde, Himmel und Meere: Überall gibt es Streit, sei es hoch oben am Himmel, tief unten im Ozean, in den Abgründen der Erde und ebenso in den Wäldern und Feldern, in einsamen Wüsten und in den Straßen der Städte. Doch damit ich wegen der Vielfalt der Dinge nicht zu weit vom Thema abweiche, will ich über den Kampf seit Anbeginn der Welt zwischen den ätherischen Geistern innerhalb der großen Festung des Himmels schweigen, von dem angenommen wird, daß er im düsteren Nebel der Luft noch weitergeht. Ich werde auch darüber schweigen, daß die Engel, die in diesem himmlischen Kampf besiegt wurden und den Siegern ungleich wurden, sich an uns sterblichen Kreaturen auf der Erde rächen wollen, und nun einen ewigen Krieg mit verschiedenen Versuchungen gegen uns führen, der uns viel Mühe und harte Arbeit macht. Ich werde auch darüber schweigen, daß alles Belebte und Unbelebte, von der höchsten Spitze des Himmels bis zum niedrigsten Mittelpunkt der Erde, von den größten Engeln bis zu den kleinsten Würmern, wie bereits gesagt, in einem unaufhörlichen und unerbittlichen Kampf steht.

Auch der Mensch selbst, der Herr der Erde und Beherrscher der Lebewesen, der Einzige, der mit dem Ruder seiner Vernunft die wirbelnden und aufgewühlten Meere im Lauf des Lebens ruhig beherrschen könnte, befindet sich in einem ständigen Kampf, nicht nur mit anderen, sondern vor allem mit sich selbst, davon ich weiter unten noch sprechen werde. Zuvor möchte ich ansprechen, daß es wohl kein Übel gibt, das der Mensch dem Menschen nicht zufügen will. Im Vergleich dazu scheinen alle anderen Probleme, die dem Menschen von der Natur oder dem Schicksal auferlegt werden, nur geringfügige Übel zu sein. Wollte ich dies ausführlich erörtern, was ich nicht gedenke, weil es zu weit führt, müßte ich alle Ebenen des menschlichen Handelns durchlaufen und die Geschichte aller Zeiten vorführen. Aber es reicht aus, dies zu sagen: Wenn es auf der ganzen Welt keine anderen Kriege gegeben hätte als die des alten Roms, hätte es genug Krieg und Streit gegeben, um meinen Standpunkt zu beweisen. Dazu kommen noch die gegensätzlichen Überzeugungen und all die unentwirrbaren Verstrickung der Dinge. Denn wer könnte die Vielfalt der Sekten (mit ihren unterschiedlichen Weltanschauungen) und die Streitigkeiten der Philosophen aufzählen? Die Kriege der Nationen und der Könige kommen vielleicht zur Ruhe, aber nicht die zwischen Philosophen. Die ersteren kämpfen um Besitztümer, die der eine verlieren muß, wenn sie ein anderer gewinnen will. Aber die Philosophen streiten um die Wahrheit, die doch gleichzeitig allen gehören kann. Und diesen Streit konnte weder das Licht der Wahrheit noch das Licht der Gelehrten jemals beenden. Carneades bemühte sich zwar als Vermittler um den Frieden in der Philosophie, aber man hörte so wenig auf ihn, daß ich den Scherz recht geistreich finde, den Annaeus Seneca darüber machte, indem er die Philosophen mit Uhren vergleicht, die zwar alle die Zeit anzeigen, aber unterschiedlich ticken. Und wie wahr das ist, kann jeder erkennen, sobald er Philosophen seinen Verstand und Uhren seine Ohren leiht.

Aber auch die anderen Wissenschaften sind nicht friedlicher. Denke an all die Streitigkeiten der Grammatiker, die noch „vor Gericht stehen“, die Konflikte der Rhetoriklehrer, die Streitereien der Meister der Dialektik, und auch die allgemeine Zwietracht in allen anderen Künsten. Betrachte die Spitzfindigkeiten der Anwälte, die sich nur darin einig sind, ihre Fälle ewig hinzuziehen. So können die Patienten auch von der „Eintracht“ unter den Ärzten ein Liedchen singen, denn obwohl das Leben schon kurz genug ist, verkürzen sie es noch durch ihre Streitigkeiten. Und wie viele Meinungsverschiedenheiten gibt es über das Heilige in den Religionen, die viel öfter mit Waffengewalt von ganzen Nationen verfolgt und auf dem Schlachtfeld geführt werden als von den Lehrern in den Schulen! Obwohl es in allen Dingen nur eine Wahrheit gibt und nur eine, mit der alles in harmonischer Übereinstimmung steht, wie Aristoteles sagt, sind doch die Meinungen über diese Wahrheit gegensätzlich genug, daß sich die Wahrheitslehrer im Streit verlieren. Was soll ich hier erst zum gewöhnlichen Leben und Handeln der Sterblichen sagen?! Selbst in einer großen Stadt gibt es kaum zwei Menschen, die sich wirklich einig sind. Das beweist vor allem die große Vielfalt an Häusern und Kleidung. Wer ist schon in ein Haus eingezogen, ohne gleich vieles zu verändern, egal wie gut der Vorbesitzer es eingerichtet und gepflegt hat? Was der eine hart aufgebaut hat, will der andere niederreißen. Davon zeugen die oft renovierten Fenster, die zugemauerten Türen und die alten Narben an den Wänden. Und dies tun wir nicht nur mit den äußerlichen Häusern, sondern auch in uns selbst, wo so viele Meinungen gegeneinander streiten. Wie auch Horaz geschrieben hat: „Es wird aufgebaut und eingerissen, und Quadrate werden in Kreise verwandelt (im ewigen Wandel aller Formen).“ Was deutlich macht, daß wir, wenn wir anderen gegenüber handeln, auch uns selbst gegenüber handeln.

In unseren Städten dauert die Kleider-Mode genau drei Tage. Und was die Gemeindebeschlüsse betrifft, leben sie oft nicht länger als jene, von denen sie beschlossen wurden. Seien es Heerführer beim Aufstellen von Truppen, Beamte beim Einbringen von Gesetzen oder Seeleute beim Festlegen der Route, überall gibt es Meinungsverschiedenheiten und Streit. Letzteres habe ich oft unter eigener großer Gefahr selbst erlebt: Während Meer und Himmel mit Tod drohten, Nacht und Wolken den Anblick von Land und Sternen verhüllten, das Schiff auseinanderzubrechen drohte und Wasser eindrang, wie da die Seeleute mitten in der höchsten Not und im Angesicht des Todes den Streit ihrer entgegengesetzten Neigungen und Meinungen mit größter Hartnäckigkeit führten. Dazu denke auch an den Streit ohne menschliche Gegner: Die Kämpfe der Schreiber mit Pergament, Tinte, Stiften und Papier, der Schmiede mit Hämmern, Zangen und Amboß, die Pflüger mit Pflugschar, Ochsen und Erdschollen, oder wie die Soldaten nicht mit dem Feind, sondern mit ihren eigenen Pferden und Rüstungen kämpfen, wenn die Tiere sich aufbäumen, weil die Rüstung sie bedrückt und quält. Denke auch an die Schwierigkeiten der Diktierenden und Schreiber von Texten. Während der erstere beim Behandeln eines Themas immer mehr und ausschweifender redet, werden die Schreiber daran gehindert, das Gesagte zu begreifen, zum einen aufgrund begrenzter Intelligenz und zum anderen wegen des abschweifenden und eigensinnigen Verstandes, dem immer etwas anderes einfällt, als was gerade zu tun ist. Aber was gehe ich ins Detail! Keine der handwerklichen Künste ist frei von Schwierigkeiten. Die anderen (geistigen) Künste haben zwar eine gewisse Süße, enthalten aber dennoch viel versteckte Bitterkeit. Und so wird keine der erfreulichen Künste ohne Streit praktiziert.

Schon die Kleinkinder kämpfen mit dem Hinfallen und die Schulkinder mit den Buchstaben, so daß sie in Bitterkeit säen, was so süß zu ernten ist. Und vor allem die Jugendlichen, was haben sie mit ihren Begierden und Lüsten zu kämpfen! Ich sollte besser sagen, welchen Streit sie mit sich selbst und ihren widersprüchlichen Trieben haben! Das Begehren selbst ist zwar kein Streit, sondern ein Verlangen, was aber oft leidvoller wird als jeder Streit. Ich spreche aus eigener Erfahrung und glaube, daß es kein Lebensalter gibt, das mehr dem Streit und unentwirrbaren und schmerzhaften Leiden ausgesetzt ist, und daß es keine anderen Menschen gibt, die so sorglos erscheinen und doch so elend und traurig sind. Und schließlich gibt es auch die Schwierigkeiten und Gefahren der Frauen während der Schwangerschaft und Geburt, sowie der Männer, die mit Armut und Ehrgeiz ringen, nämlich die Gier, mehr zu ergreifen, als für das tägliche Leben benötigt wird. Und dann der Kampf der Alten gegen Alter und Krankheit im Nahen des Todes, und der Kampf von uns allen gegen die Vergänglichkeit und, was noch schlimmer ist als der Tod, gegen die allgegenwärtige Angst vor dem Tod.

Ich könnte diese Darlegung noch mit Tausenden Argumenten fortsetzen. Doch wenn du wie im ersten Buch zulassen möchtest, daß dieser Brief als Einleitung dient und Teil dieses Werkes ist, dann bemerke ich an dieser Stelle, wie sehr dieses Vorwort den Rahmen des Buches überschreitet und daß ich nun meinen Eifer zügeln und die Feder zurückhalten muß.

Kurzum, so besteht das ganze Menschenleben mehr als alles andere aus Streit. Abgesehen von äußeren Streitigkeiten, von denen ich gerade gesprochen habe und die, wie ich wünschte, bei uns allen weniger weitverbreitet und vertraut wären, gibt es auch viel inneren Kampf, den wir nicht gegen andere führen, sondern gegen unsere eigene Art, wie ich bereits sagte, nicht gegen andere Personen, sondern gegen uns selbst. So ist dies ein ständiger Kampf, nicht nur äußerlich mit dem Körper, welcher der unterste und geringste Teil des Menschen ist, sondern vor allem im Innersten und Geheimsten der Seele. Damit befindet sich jeder ständig im Krieg mit sich selbst. Über diesen Körper, der von brodelnden und gegensätzlichen Säften geplagt wird, kannst du dich bei den gelehrten Ärzten und Naturwissenschaftlern erkundigen. Aber aus welchem Grund der Geist mit verschiedenen widersprüchlichen Leidenschaften gegen sich selbst kämpft, dazu muß sich jeder von uns selbst befragen und sich selbst antworten. Denn vielfältig und unbeständig sind die Neigungen des Geistes, die dich mal hierhin und mal dahin ziehen. Wir sind niemals ein Ganzes und Einheitliches, sondern im Widerspruch zu uns selbst, und zertrennen uns auch selbst. Wollen und nicht wollen, lieben und hassen, schmeicheln und bedrohen, verspotten, betrügen und täuschen, scherzen und weinen, bemitleiden, verschonen und wüten, freuen, ausrutschen, fallen und aufstehen, schwanken und standhaft bleiben, vorwärts und rückwärts gehen, anfangen und aufhören, zweifeln und irren, unwissend sein, lernen und vergessen, sich erinnern, beneiden, verachten und bewundern, hochmütig herabblicken oder demütig aufblicken und viele andere Emotionen, die ich hier verschweige, reißen uns zwischen unsicheren Geisteszuständen hin und her. Und so schwankt das sterbliche Leben der Menschen ununterbrochen vom Anfang bis zum Ende.

Welch stürmische Raserei liegt allein in den vier Leidenschaften von begieriger Hoffnung, Freude, Angst und Schmerz, die deinen Geist mit wirbelnden Stürmen quälen, zwischen den Riffen der Dinge und weit weg vom sicheren Hafen! Einige haben dies zweifellos anders ausgedrückt als Virgil, der es auf eine kurze Zeile von bemerkenswerter Bedeutung zusammenfaßte, wie Augustinus betont hat. (Vermutlich: „Daher ihr Fürchten und Sehnen, ihr Trauern und Freuen.“ / Hinc metuunt cupiuntque, dolent gaudentque.) Ich weiß, daß dies Dinge sind, über die man so oder so mehr oder weniger sagen kann. Ich selbst habe nicht besonders auf Kürze oder Vollständigkeit geachtet, sondern habe einige Themen des praktischen Lebens in der Reihenfolge niedergeschrieben, in der sie sich mir boten, in der Hoffnung, daß ich den Leser nicht durch unzureichende Behandlung oder zu viele Details verärgere. Laß dich auch nicht davon beirren, daß das Wort „Glück“ („Fortuna“) nicht nur im Titel, sondern auch im gesamten Werk wiederholt vorkommt. Du hast ja schon oft gehört, was ich über das Glück denke. Dennoch halte ich es für notwendig, besonders für die weniger Gelehrten, daß ich ein einfaches Wort verwende, das ihnen vertraut ist, obwohl mir bewußt ist, was andere darüber gesagt haben, am treffendsten Hieronymus, wenn er schreibt: „Es gibt weder Schicksal noch Glück.“ So wird sowohl das einfache Volk seine eigene Sprache wiedererkennen, als auch die Gelehrten, die sehr rar sind, werden verstehen, was ich meine, und sich nicht von meiner Umgangssprache stören lassen.

Damit besteht dieses Werk aus zwei Teilen über das Glück und das Unglück. Über die eine Seite habe ich meine Gedanken bereits dargelegt, und nun bleibt noch die andere Seite zu erklären.

Petrarcameister - Glück und Unglück
(linkes Bild, die Welt der Bauern)

Petrarcameister - Glück und Unglück
(rechtes Bild, die Welt der Reichen)

In diesen beiden wunderbaren Holzschnitten zeigt der Petrarca-Meister zum Thema des Vorwortes „Alles existiert im Streit“ links das einfache Bauernleben und rechts das reiche Bürgerleben. Beide sind in die Natur mit ihren Gegensätzen eingebunden, die sich überall bekämpfen und auch über das menschliche Leben erstrecken, so daß die Natur in vielfältiger Hinsicht feindlich erscheint, was hier auch an vielfältigen Beispielen aus dem Vorwort illustriert wurde. Im Bauernleben sieht man vor allem Nutztiere, die sich bekämpfen, aber auch streitende Menschen, Kinder und Erwachsene, die mit sich selbst und den Tieren kämpfen, gutes und schlechtes Wetter, Knechte und Herren, jagen und gejagt werden, bis zu den Gefahren der Schiffahrt, aber auch eine kleine strohgedeckte Kirche, wo vielleicht die allumfassende Liebe und Zufriedenheit gepredigt wird, obwohl auch die Kirche gern mit sich selbst und anderen Religionen im Streit liegt. Auf dem rechten Bild der Reichen sieht man mehr wilde Tiere, die sich gegenseitig fressen, den Tod, der den Geliebten von der Geliebten trennt, Einbrecher, die den Reichtum rauben und natürlich auch gutes und schlechtes Wetter. In beiden Bildern steht der Baum des Lebens symbolisch im Zentrum, der bei den Reichen etwas kräftiger und höher erscheint. Dazu sieht man aber auch rechts unten den Baumstumpf, der andeutet, wie schnell so ein kräftiger Baum gefällt werden kann. Deutlich ist auch die göttliche Sonne, die zwar im rechten Bild scheint, aber freundlich auf das linke schaut.

2.1. Von der Häßlichkeit des Körpers

Schmerz: Ich beklage, daß mich die Natur ungerecht behandelt hat, weil sie mich so häßlich machte.

Vernunft: Oh, wie viele Feuer hat sie damit gelöscht, und wie viele Brände verhindert!

Schmerz: Die Natur hat mich aber häßlich gemacht.

Vernunft: Sie hat dir zwar nicht gegeben, was dich erfreut, aber sie hat dir alles gegeben, was gut für dich ist. Das ist doch genug. Also hör auf, dich zu beschweren!

Schmerz: Die Natur hat mir keine anmutige Gestalt gegeben.

Vernunft: Sie hat sich geweigert, dir etwas zu geben, was Krankheit verunstalten und das Alter dir nehmen könnte. Aber vielleicht hat sie dir etwas gegeben, was selbst der Tod nicht zu berühren wagt.

Schmerz: Die Natur hat mir einen schönen Körper verweigert.

Vernunft: Solange sie dir einen schönen Geist beschert hat, bist du ihr zu großem Dank verpflichtet. Ignoriere diese kleine Enttäuschung mutig und begegne der Beleidigung des Spiegels mit einem guten Gewissen!

Schmerz: Die Natur hat mir einen schönen Körper genommen.

Vernunft: Sie hat dich nicht beraubt, sondern sich geschämt, dir zu geben, was mit jedem Tag schwindet und vergeht. Wahre Großzügigkeit zeigt sich durch eine dauerhafte Gabe, während trügerische und verderbliche Dinge gern von Geizhälsen verschenkt werden. Schönheit ist ein flüchtiges und zerbrechliches Geschenk der Natur, das wenigen nützt, viele ruiniert und niemanden zu seinem Heil und wahrer Herrlichkeit führt.

Schmerz: Ein schöner Körper ist mir verwehrt geblieben.

Vernunft: Nur selten wohnen große körperliche Schönheit und Ehrlichkeit unter einem Dach. Es ist gut für dich, wenn der schlechtere Gast ausgeschlossen wird und der bessere bleibt.

Schmerz: Ich bin traurig, weil mich keine Schönheit ziert.

Vernunft: Warum bist du darüber traurig? Welchen heiligen und frommen Geist hegst du, wenn du glaubst, daß körperliche Schönheit für dich notwendig und insgesamt mehr nützlich als hinderlich wäre? Schönheit verführt viele zu Unzucht und Ehebruch, aber niemanden zur Keuschheit. Es hat viele zu gefährlichen Vergnügungen und zu einem schändlichen Ende geführt, die ohne Gefahr und Schande gelebt hätten, wenn sie häßlich gewesen wären. Was soll ich noch sagen? Sie hat unzählige Menschen in größte Gefahr gebracht und viele Gutaussehende ins Unheil gestürzt.

Schmerz: Warum hat mich die Natur so häßlich gemacht?

Vernunft: Damit du dich schmücken und verschönern kannst mit einer Schönheit, die dir sogar im Alter, auf dem Krankenbett, der Bahre und im Grab bleibt. Eine Schönheit, die dein Verdienst ist, und nicht der Natur oder deiner Eltern. Es ist schöner, schön zu werden, als so geboren zu sein. Denn die Geburt fällt dir zu, das andere ist dein Verdienst.

Schmerz: Die grobe Häßlichkeit dieses Körpers bedrückt mich.

Vernunft: In der Tat ist eine solche Häßlichkeit für manche eine unglückliche Belastung. Aber du solltest denen glauben, die sagen: „Der Geist wird nicht durch die Häßlichkeit des Körpers entstellt, sondern der Körper wird durch die Anmut des Geistes verschönert.“ Dann erniedrigt dich nicht, was dich bedrückt, sondern bietet einen Anreiz, deinen Geist zu ehren und durch Tugend zu erheben.

Schmerz: Mutter Natur hat mich so häßlich gemacht.

Vernunft: Hätte sie Helena oder, um von Männern zu sprechen, auch Paris häßlich gemacht, wäre vielleicht Troja nicht untergegangen.

Schmerz: Ich bin traurig, so häßlich auf die Welt gekommen zu sein.

Vernunft: Nur wenige gute Männer haben körperliche Schönheit geliebt, keiner hat sie begehrt, und manche haben sie sogar abgelehnt, wofür jener toskanische Jüngling (Spurinna) gelobt wird, der aus eigenem Antrieb die verführerische Schönheit seines strahlenden Gesichts mit selbst zugefügten Wunden entstellte, weil er gesehen hatte, daß er die Begierde erregte und riskierte, seinen Ruf zu schädigen und die Keuschheit anderer zu verletzen. Ganz anders als du, der genau das betrauert, was jener loswerden wollte und nur wenige jemals unbeschadet genießen konnten.

Schmerz: Mir fehlt aber die Schönheit.

Vernunft: Es ist besser, auf das zu verzichten, was im Leben nur gefährlich und lästig ist. Schönheit hat schon vielen geschadet und plagt alle, die sie besitzen. Sie hat schon manchen Starken nach vielen Angriffen schwach und leicht besiegbar gemacht und die Ehre der Besiegten in Schuld gewandelt.

Schmerz: Ich bin wirklich häßlich und viel zu klein.

Vernunft: Hier gibt es nichts zu beklagen. Eine große Statur ist ein echter Nachteil, und eine kleinere ist nützlicher und flinker.

Schmerz: Ich bin aber sehr klein.

Vernunft: Wer beklagt das? So wie ein großer Mann in einem kleinen Haus wohnen kann, so kann ein großer Geist in einem kleinen Körper wohnen.

Schmerz: Ich bin aber wirklich sehr klein.

Vernunft: Du beklagst das, was dir keine Last ist, aber dich leicht, beweglich und vielseitig macht.

Schmerz: Mein Körper ist so winzig.

Vernunft: Wer würde über eine Winzigkeit klagen? Beim Jupiter, du hast Grund zur Klage, weil dich kein großer Körper niedergedrückt, dich nicht ermüdet, sondern wie ein einfaches Kleid nützlich ist!

Schmerz: Ich bin von verächtlicher Statur.

Vernunft: Wie es nichts Herrlicheres gibt als die Tugend, so gibt es nichts Verächtlicheres als das Laster. Aber Tugend hängt nicht von der Statur ab.

Schmerz: Ich bin aber zu klein.

Vernunft: Tugend erfordert Größe des Geistes, nicht des Körpers. Solange dein Geist groß und aufrichtig, stark, prächtig und gutaussehend ist, spielt es keine Rolle, wie dein Körper aussieht, nicht zu Hause und nicht einmal beim Militär, wo man es vermuten könnte. Du weißt ja, daß der große Kommandant Marius für seine Soldaten kräftige und zähe Männer auswählte, die nicht groß waren, und damit weise und erfolgreich handelte, wie seine vielen großen Siege beweisen. Die Größe verleiht dem Körper vielleicht Stattlichkeit, aber keine Kraft.

Schmerz: Ich bin so kleinwüchsig.

Vernunft: Das sollte dich nicht davon abhalten, ein guter und großer Mann zu werden, vielleicht sogar ein König oder ein Kaiser, wenn es dein Schicksal ist. Scipio Africanus war hoch aufragend und Julius Cäsar von großer Statur. Aber sowohl Alexander von Mazedonien als auch Augustus Cäsar waren klein, was ihre Größe nicht verhinderte oder ihren Ruhm schmälerte.

Schmerz: Ich möchte größer und stärker werden.

Vernunft: Erhebe dich im Geist, wachse in der Tugend, und du wirst größer und stärker, was eine nützlichere Erhöhung ist und leichter zu erreichen!

Schmerz: Ich möchte aber gut aussehen.

Vernunft: Lerne doch, etwas Besseres zu lieben und zu schätzen! Es ist dumm, die Gefahr zu lieben, und auch dumm zu wollen, was um keinen Preis zu haben ist. Und wenn du versuchst, gegen deine Natur gutaussehend zu sein, erreichst du nicht mehr, als noch häßlicher zu erscheinen.

Schmerz: Ach, ich bemühe mich vergebens, schön auszusehen.

Vernunft: Strebe danach, gut zu sein! Dies wird nicht umsonst sein, denn neben anderen Vorteilen ist das Streben nach Gutheit ein Ziel, das du wirklich erreichen kannst, und dir nicht mehr genommen werden kann. Andere Dinge werden vom schicksalhaften Glück beherrscht und können ohne Glück weder erreicht noch behalten werden. Nur die Tugend ist frei von den Gesetzen des Glücks und leuchtet um so herrlicher, je mehr sie errungen wird.

Petrarcameister - Von der Häßlichkeit des Körpers

Die Betrachtungen zum Glück und Unglück laufen im ersten und zweiten Buch im ganzen gesehen ungefähr parallel. So beginnt also auch der Schmerz mit Klagen über die Häßlichkeit des Körpers, wie die Freude mit ihrer Schönheit eingangs geprahlt hatte. Im Bild sitzt ein Paar unförmiger Menschen vor einer Strohhütte. Der Mann ist sehr dick und hat kurze Beinchen, die Frau ist kröpfig und überaus häßlich. Vor ihnen spielt ihr Kind, buckelig und mit krummen Beinen. Zu ihnen tritt aus dem Wald ein menschenunähnliches Geschöpf, zwar in gewählter Kleidung, doch ohne Kopf, mit Augen an den Schultern. Es tritt im Bild nicht als Schreckgestalt auf, sondern belehrt die häßlichen Menschen, daß ihre Mißbildung noch nicht die schlimmste sei, es hätte noch schlimmer kommen können.

Phantastische Geschöpfe dieser Art waren damals verschiedentlich beschrieben und abgebildet worden. In den „Gesta Romanorum“ wird von lybischen Frauenzimmern berichtet, die keinen Kopf, dafür aber Mund und Augen auf der Brust haben. Die von Brant besorgte Baseler Ausgabe der Dichtungen des sogenannten Aesop bringt eine ähnliche Abbildung, und auch die 1481 bei Anton Sorg in Augsburg erschienene „Reise nach Jerusalem“ hat einen Holzschnitt zu dem Bericht: „Da ist eine andere Insel, da sind unsaubere Leute drinnen, die haben keine Häupter. Und stehen ihnen die Augen an der Achsel.“ Petrarca sagt nichts von solchen Fabelwesen, sein Trost ist auf den Ton gestimmt: „Wäre Helena nicht schön gewesen, wäre vielleicht Troja nicht untergegangen.“ - Auf die Unklarheit in der Darstellung der Hände der sitzenden Frau muß wieder hingewiesen werden. Sie hat offensichtlich zwei linke Hände, von denen eine die andere faßt.

Soweit beschreibt der Kunsthistoriker Walther Scheidig dieses Bild. Aus geistiger Sicht können wir hier Vater und Mutter als Geist und Natur mit ihrem Menschenkind in ihrer häuslichen Welt der Körperlichkeit sehen. Der Geist ist dickgefuttert, mit Zwergen-Händen in seiner Allmacht eingeschränkt und in die Trägheit gefallen. Die Natur ist von dieser geistigen Gier ausgehungert und hat ihre harmonische Schönheit verloren. Ihr Menschenkind ist entsprechend zwergenwüchsig und hat keinen harmonisch-gesunden Körper empfangen. Das seltsame Wesen auf der rechten Seite erinnert uns an das Körperbewußtsein, das von der ganzheitlichen Vernunft über das stolze Ichbewußtsein völlig in die Körperlichkeit gesunken ist und sich nur noch mit dem äußerlichen Körper identifiziert. Darüber hinaus kennen wir heutzutage sogar ein Maschinenbewußtsein, das noch tiefer in die Materie sinkt, indem der Mensch immer mehr Fähigkeiten an Maschinen abgibt, bis zur sogenannten „künstlichen Intelligenz“, und davon abhängig und beherrscht wird. Doch dieses Wesen weist mit der rechten Hand auf die Ursachen, die im Spiel von Geist und Natur zu finden sind. Entsprechend sieht man vorn im Bild auch den Gegensatz von einer lebendig blühenden Pflanze und einem toten Stein.

2.2. Von der Schwäche des Körpers

Schmerz: Die Natur hat mich schwach geschaffen.

Vernunft: Wie eine harte Stahlklinge in einer weichen Leder-Scheide, so versteckt sich oft ein starker Geist in einem schwachen Körper.

Schmerz: Ich wurde schon schwach geboren.

Vernunft: Du bist vielleicht nicht fähig, schwere Lasten zu tragen oder nach Gold zu graben, aber du kannst dich an ehrlicher Wissenschaft und gerechter Verwaltung beteiligen. So wie in einem Boot der Stärkere rudert, während der Klügere das Steuer führt. So hat auch das Leben wie ein Schiff in den Wellen der Ereignisse auf dem Meer der Welt seine Ruder und sein Steuer. So erhebe dich vom Ruderer zum Steuermann!

Schmerz: Die Natur hat mir nur Schwäche gegeben.

Vernunft: Was wäre, wenn sie dich übermäßig stark gemacht hätte? Wäre es eine dauerhafte Stärke? Alter und Krankheit sind doch stärker, ganz abgesehen von den zahllosen Unfällen, die einen Menschen unerwartet schwächen und entkräften können. So wäre doch die geistige Stärke wünschenswert, die weder Zeit noch Unglück mindern kann.

Schmerz: Ich habe wirklich einen schwachen Körper.

Vernunft: Schätze deinen Geist, übe ihn in seinen Fähigkeiten und zweifle nicht daran, daß er überlegen und langlebiger ist als körperliche Kraft. So überlasse die körperliche Arbeit den Bauern, Seeleuten und Handwerkern.

Schmerz: Ich habe seit meiner Geburt keine große Kraft.

Vernunft: Es ist erträglicher, etwas nie gehabt zu haben, als es zu verlieren. Denn hättest du große Kraft gehabt, hätte sie doch nicht gehalten und wäre gealtert wie die (körperlichen) Kräfte von Milo oder Herkules, im Gegensatz zu den (geistigen) Kräften von Sokrates, Solon, Nestor oder Cato. Nutze deine höheren Kräfte! Ein großer Geist kann sich nur an dem erfreuen, was von Dauer ist.

Schmerz: Mein armer Körper ist so schwach.

Vernunft: Wenn er als Organismus funktioniert, in dem ein Geist wohnen kann, dann ist er stark genug. Die Natur hat den Körper geschaffen, damit er dem Geist dient. Niemand ist dem Körper so sehr versklavt, daß er nicht weiß, daß die Natur den Körper für den Dienst des Geistes geschaffen hat. Worüber beschwerst du dich also, solange er seine Funktion erfüllt? Was verlangst du noch? Diejenigen, die einen schwachen Geist und einen starken Körper haben, leben mehr wie Tiere, was für Menschen erbärmlich ist, so daß sie oft anderen dienen müssen. Aber noch erbärmlicher ist es und in der Tat die tiefste menschliche Erniedrigung, wenn du deinen Geist zwingst, ein Sklave deines Körpers zu sein, was die unwürdigste Art der Knechtschaft ist.

Schmerz: Ich habe einen schwachen Körper.

Vernunft: Die wahre und größte Stärke des Menschen liegt in seinem Geist. Der Körper ist sozusagen das Haus des Geistes, dessen Stärke oder Schwäche keinen Einfluß auf den Gast hat, der sich dort aufhält, besonders wenn es nur eine kurze Zeit ist. Es sei denn, daß es zusammenbricht, und dann muß der Gast wieder in seinen ewigen Wohnsitz zurückkehren. Davon würde ich mehr sprechen, wenn du mehr begreifen könntest und nicht so betäubt wärst von dem allgemeinen Geschwätz. Denn der Körper ist mehr ein Gefängnis als ein Wohnhaus für den Geist, und weit davon entfernt, sein Freund zu sein, sondern ein häuslicher Feind. Du solltest dir daher seine Zerbrechlichkeit wünschen, um dich schneller davon zu befreien und diesen Kampf zu gewinnen.

Schmerz: Ich habe wirklich keine Kraft.

Vernunft: Solange es dir gut geht, brauchst du nicht mehr Kraft. Und wenn es dir nicht gut geht, hast du vermutlich andere Beschwerden. Sage also nicht „Ich habe keine Kraft“, sondern „Ich habe wenig Kraft“. Du bist nicht so kräftig wie dieser oder jener Altersgenosse von dir, noch ist er so stark wie ein anderer, der wiederum nicht so stark wie ein Ochse oder ein Elefant ist. Die Kraft eines jeden Menschen hat eine Grenze. Doch Mutter Natur, die es am besten weiß, hat großzügig jedem das gegeben, was ihm genug ist, denn sie liebt ihre Kinder mehr als der Mensch seine eigenen. In dieser Hinsicht beklagst du nicht deinen Mangel an Kraft, sondern die Ungleichheit gegenüber anderen. Ach, was für eine dumme Klage! Wenn die Ungleichheit in der Natur verschwinden würde, dann würde die Schönheit dieser Welt zugrunde gehen. So erträgst du das Beste in allen Dingen mit so viel Widerwillen.

Petrarcameister - Von der Schwäche des Körpers

Die Klage des Schmerzes „Die Natur hat mich schwach geschaffen“ ist im Bild eher komisch als tragisch dargestellt. Ein langer dürrer Mann mit bekümmertem Gesicht tritt rechts aus dem Wald. Links kämpfen die Pygmäen gegen Kraniche. Es ist dem Petrarca-Meister nicht gelungen, die von Sebastian Brant zur Illustrierung vorgeschlagenen Pygmäen mit der Darstellung des Schwächlings in Zusammenhang zu bringen. Vielleicht konnte er nicht einsehen, was die Pygmäen mit körperlicher Schwachheit zu tun haben sollten. Sie waren Zwerge, aber sie waren nicht schwach. Petrarca nennt sie nicht. Brant hat sie von sich aus angeführt, womit er nur auf volkstümliches Gut zurückgriff, das in den „Gesta Romanorum“ ebenso vermittelt worden war wie im Baseler Aesop, den Brant 1502 herausgegeben hatte. Auch die weitverbreiteten Geschichten vom Herzog Ernst kannten die Kranich-Menschen.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht kann man links das Pygmäen-Volk mit ihren Burgen als Symbol für das Menschen-Volk sehen, das sich zwar körperlich stark fühlt und mit Waffenkraft und Rüstungen noch stärker, aber im körperlichen Kampf gegen die Natur immer unterlegen sein wird, welche hier durch den Angriff der Kraniche symbolisiert ist. Denn körperlich ist der Mensch nur ein winziger Zwerg in dieser riesigen Welt der Natur und kämpft wie ein Tier gegen andere Tiere. Auf der rechten Seite sieht man einen körperlich starken und mächtigen Baum und einen körperlich schwachen und barfüßigen Menschen, der aber friedlich und gelassen vor dem dunklen Wald der Natur steht und nachdenklich das Treiben auf der linken Seite beobachtet. Er steht an der Stelle, wo im vorherigen Bild das Körperbewußtsein stand und könnte nun ein geschwächtes und verhungerndes Ichbewußtsein symbolisieren, das sich von seiner schwachen Körperlichkeit nur noch wenig ernähren kann. Und das ist eigentlich ein Segen, denn mit geschwächtem Ich- und Körperbewußtsein hat die höhere Vernunft im Menschen eine bessere Chance, um sich zu erheben und die Prinzipien von Natur und Geist zu durchschauen. Und wie es die Vernunft im Text von Petrarca empfiehlt, läßt sich damit der Geist stärken und mit seiner Macht das Bewußtsein aus der Abhängigkeit vom materiellen Körper befreien.

2.3. Von schlechter Gesundheit

Schmerz: Aber auch meine Gesundheit ist schlecht.

Vernunft: Ich höre, was ich erwartet habe. Schwäche und schlechte Gesundheit sind verwandte Beschwerden. Wenn aber das Fleisch des Geistes Feind ist, und die beiden gegeneinander kämpfen (was jener große Freund der Wahrheit, der in jeder Hinsicht die Wahrheit sprach, in sich selbst erfahren hat*), dann folgt daraus: Was dem einen schadet, das hilft dem anderen. Und weil der Geist edler und der Bessere von beiden ist, kannst du selbst erkennen, welcher von beiden bevorzugt werden sollte, und vielleicht verstehen, daß dein Gesundheitszustand, den du schlecht nennst, in Wirklichkeit das Beste ist.

(* Vermutlich St. Paulus: »Denn das Fleisch begehrt auf gegen den Geist und der Geist gegen das Fleisch; die sind gegeneinander, so daß ihr nicht tut, was ihr wollt. (Gal. 5.17)«)

Schmerz: Meine Gesundheit ist wirklich schwach.

Vernunft: Aber sie ist eine starke Ermahnerin zu Genügsamkeit und Zügelung der Begierde, also eine gute Lehrerin für die Mäßigung.

Schmerz: Mein Körper ist in einem schlechten Gesundheitszustand.

Vernunft: Solange dein Geist bei guter Gesundheit ist, mußt du dir keine Sorgen machen. Egal was mit deinem Körper passiert, es geht dir gut!

Schmerz: Mein Körper ist sehr krank und schwach.

Vernunft: Die Krankheit des Körpers hat vielen geholfen, einen gesunden Geist zu erlangen. Als der große Mann von bescheidener Herkunft (Petrus), der aus dem Wasser (über das er gehen wollte) und zu den Sternen erhoben wurde, der die Schlüssel zum Himmel hält und der die Krankheiten und Leiden des Körpers durch seinen bloßen Schatten verjagte, einmal gefragt wurde, warum er es erlaubte, daß seine Tochter (Petronilla) an einer schweren Krankheit leiden mußte, antwortete er: „Weil es gut für sie ist.“ So weißt du vielleicht nur nicht, daß es auch gut für dich ist.

Schmerz: Ich werde schon lange von meinem Körper so gequält.

Vernunft: Als der Mann, von dem ich gerade sprach, erkannte, daß es für seine Tochter gut war, wieder gesund zu werden, da heilte er sie und gab ihr die Macht, auch andere zu heilen. Auch du solltest fest daran glauben, daß dein jetziger Zustand gut für dich ist. Und vielleicht wirst du dann auch geheilt werden. Kurz gesagt: Kümmere dich um deinen Geist, der dir gehört, und vertraue dich dem himmlischen Heiler an. Darüber hinaus sage ich kühn: Wenn du nicht bekommst, was dir gefällt, dann hoffe auf das, was heilsam ist!

Schmerz: Meine Gesundheit ist sehr beeinträchtigt.

Vernunft: Das soll Vergeßlichkeit und Träumerei beseitigen und dumpfe (materielle) Trägheit vertreiben.

Schmerz: Meine Gesundheit ist so schwach.

Vernunft: Erhebe dich in deiner Schwäche und bringe damit deine Tugend zur Vollendung: Das hast du aus dem Mund desselben Meisters gelernt. (»Und er hat zu mir gesagt: Laß dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf daß die Kraft Christi bei mir wohne. Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Mißhandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark. (2.Kor. 12.9)«)

Schmerz: Ich habe wirklich eine schlechte Gesundheit.

Vernunft: Damit hast du zwar einen unangenehmen Begleiter, aber einen treuen und fähigen, der dir unermüdlich den rechten Weg weist und dich an deinen Zustand erinnert. Es ist doch das Beste in der Gefahr, einen wachsamen und treuen Begleiter zu haben.

Schmerz: Mein körperlicher Zustand ist kritisch, und ich finde kein Heilmittel.

Vernunft: Sei ruhig und gelassen, dann wirst du dem schmerzlichen Gefängnis, das dich jetzt bindet, leichter und schneller entkommen.

Petrarcameister - Von schlechter Gesundheit

Im Krankenzimmer liegt links eine Frau auf dem Bett, zu ihr tritt ein Heiliger und spricht ihr Trost zu. Da der Text des Petrarca von Paulus erzählt, so ist dieser Apostel gemeint, der die Frau belehrt, daß Krankheit des Leibes oft Gesundheit der Seele bringe und körperliche Schwäche vielen Menschen zur ewigen Seligkeit verholfen habe. Von sich aus hat der Petrarca-Meister wohl den Hinweis auf Menschenhilfe bei Krankheit ins Bild hineingenommen. Er hat den Arzt dargestellt, wie er den Urin besieht und seine Diagnose dem Mann der Kranken, der besorgt mit herbeigeholten Speisen oder Medikamenten vor ihm steht, dozierend vorträgt. In der Krankheit nicht zu resignieren, sondern die ärztliche Kunst der Menschen anzurufen, dürfte der Sinn der Darstellung des Künstlers sein.

Soweit beschreibt Walther Scheidig dieses Bild. Aus geistiger Sicht können wir Ehemann und Ehefrau als Geist und Natur sehen. Der Heilige Petrus kann durch sein Licht die Natur heilen, wie auch seine Tochter, die im Text erwähnt wurde. Und für den Geist sehen wir hier aufbauend auf die beiden vorhergehenden Bilder die nächste Stufe des Bewußtseins, nämlich eine erwachende Vernunft als heilsamen bzw. heiligen Geist, der als Heiler die Krankheit erkennt und durchschaut, seinen Blick durch die Diagnose hindurch nach oben zum Licht richtet und den gealterten und gereiften Geist berät, der immer noch mit weltlicher Nahrung daherkommt, aber nun vielleicht zu Höherem bereit ist. Das heißt, wir sollen uns mehr um die geistige Welt kümmern als um die natürliche. Dann werden sich die Heiligen um die körperliche Natur kümmern. Denn am Ende sind Geist und Natur ein Ehepaar, das nicht getrennt werden sollte, sondern ewig vereint, geheilt und geheiligt im Ganzen bzw. Göttlichen.

2.4. Von unedler Heimat

Schmerz: Ich bin ein Bürger eines unedlen Landes.

Vernunft: Dann sei selbst edel! Dem steht nichts entgegen, denn dein Adel hat nichts mit dem Adel deines Landes zu tun.

Schmerz: Ich wohne nur in einer kleinen Stadt.

Vernunft: Auch große Städte haben kleinliche Bewohner und bestehen zum größten Teil aus solchen, während kleine Städte oft großartige Bürger hatten. Es war Romulus, welcher ausgesetzt wurde und in den Wäldern aufgewachsen war, der die Stadt Rom gründete, die Königin aller Städte. Aber Catilina, der in dieser Größten aller Städte geboren wurde, handelte vor allem zerstörend.

Schmerz: Ich wurde in dieser kleinen Stadt geboren.

Vernunft: Dann versuche, sie groß zu machen! Nichts bereichert eine Stadt mehr als die Tugend und das Ansehen ihrer Bewohner. Wer aber denkt, daß dies mit Bauwerken, vielen Bewohnern und Reichtümern besser zu erreichen ist, der irrt. Wie mit Menschen, so ist es auch mit Städten, Königreichen und Imperien: Sie alle werden nicht durch langes Bestehen geadelt, nicht durch Türme und Mauern, nicht durch Prachtstraßen, Paläste und Tempel aus Marmor, nicht durch Statuen und Gemälde, nicht durch Gold und Edelsteine, nicht durch Garnisonen voller Soldaten und Häfen voller Kriegsschiffe, nicht durch Lager voll exotischer Waren, die aus Profitgier aus allen Ozeanen herangeholt wurden, und auch nicht durch Aussehen und Anzahl ihrer Bürger, nicht durch den Überfluß an materiellen Gütern und die überquellenden Märkte, nicht durch die purpurnen Gewänder der Menschen, die mit kostspieliger Eleganz beladen sind, nicht durch Stolz, Luxus oder Lustbarkeiten, sondern nur durch Tugend und den Ruhm wahrhaft großer Taten, die von (lebendigen) Menschen vollbracht werden und nicht von (toten) Mauern.

Schmerz: Ich bin aber Bürger einer Kleinstadt.

Vernunft: Weißt du nicht, daß Bias aus Priene, Pythagoras aus Samos, Anacharsis aus Skythen, Demokrit aus Abdera, Aristoteles aus Stageira, Theophrastus aus Lesbos und Cicero aus Arpinum stammten? Kos, eine winzige Insel in der Ägäis, brachte den berühmten Dichter Philitas hervor, sowie den Vater der Medizin, Hippokrates, und die vollendeten Meister der Bildhauerei und Malerei, Phidias und Apelles. Das zeigt dir doch, daß die Kleinheit eines Ortes der Größe (ihrer Bewohner) nicht im Weg steht.

Schmerz: Meine Heimatstadt ist so unwürdig.

Vernunft: Es liegt in deiner Macht als Mensch, sie würdiger zu machen. Aber dich sollte sie nicht entwürdigen. Eine niedere Herkunft hielt Numa Pompilius nicht davon ab, König von Rom zu werden. So wurde auch Septimius Severus ein Kaiser. Und Kaiser Augustus, der Größte aller Männer, stammte zwar direkt von römischen Eltern ab und wurde in einem Palast geboren, stammte aber auch aus einer alten Familie, die ihren Ursprung in Velitrae hatte. So wurden auch Gaius Caligula in Antium, und Vespasian in einem unbedeutenden Dorf hinter Reate geboren, wie auch Aeacides die Stadt Larissa berühmt machte. Und wer hätte etwas von Pella gehört, dessen Name seit Jahrhunderten im Dunkeln verborgen lag, wenn ihn Philip nicht hervorgehoben und Alexander ans Licht gebracht hätt? Die Glanzlosigkeit einer Stadt sollte nicht dem Ansehen ihrer Bürger schaden, sondern die glorreichen Heldentaten ihrer Bewohner sollten das Ansehen der Stadt fördern. Rom war eine ärmliche Hirtensiedlung und wurde erst berühmt, als es durch die großen Taten und die hervorragende Tugend seiner Bürger erglänzte.

Schmerz: Ich bin an eine dunkle und glanzlose Heimat gebunden.

Vernunft: Dann zünde das Licht der Tugend an, damit sie in der Dunkelheit leuchtet, was den Vorteil hat, daß du viel heller scheinst, obwohl du vielleicht nur ein kleines Licht hast, und daß du deine Heimat erhellst, die dich gerade durch ihre Dunkelheit so strahlend hell leuchten läßt.

Schmerz: Ich lebe in einem sehr bescheidenen Heimatland.

Vernunft: Dann solltest du auch demütig und der Geist, der in dir wohnt, ein demütiger Bewohner sein. Nach dem Vorbild deines Landes, das wie deine Mutter ist, strecke dich nicht über dein Nest hinaus, es sei denn, die Tugend hat dir Flügel verliehen. Denn diese darfst du verwenden, und ich habe dir bereits gesagt, daß schon einige sie erfolgreich genutzt haben. Aber vergesse nicht deinen Zustand als Sterblicher und zügle deinen überheblichen Stolz! Manche sind nur stolz auf den Adel ihrer Heimat, aber das ist eine dumme Art von Leuten.

Petrarcameister - Von unedler Heimat

Links ist die „unadelige“ Heimat zu sehen, über die sich der junge Stutzer bei dem „Weisen“ beklagt. Ein Dörfchen mit Strohhütten ist dargestellt, das in der Zeichnung des Künstlers gar nicht verächtlich erscheint. Die Häuser haben Glasfenster; muntere und gesellige Bauern, mit dem kurzen Schwert an der Seite, gehen umher oder sitzen vor der Schenke. Der Bach ist überbrückt. Ein Steinkreuz am Bach zeugt von einer Mordtat. Die sonderbare Darstellung auf der rechten Seite des Bildes, wo ein Jüngling wie eine Eule aus einer Baumhöhle hervorschaut, ist von Sebastian Brant nach Petrarcas Text dem Künstler angegeben worden. Es soll Romulus sein, der seine Kindheit im wilden Wald verbracht hat und der später trotz dieses geringen Vaterlandes Rom, die Königin der Städte, erbaut hat.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht können wir zwei Welten erkennen, die durch den Fluß des Lebens getrennt werden und zwischen denen es natürlich auch eine Brücke gibt. Links die gewöhnliche Menschen-Welt in ihren selbstgebauten Häusern zwischen Geburt und Grab in einem Dorf oder einer kleinen unbedeutenden Stadt, wie es oben im Text heißt. Rechts sieht man die Welt der Natur, und der alte verknöcherte Baum mit dem Menschenkopf ist ein schönes Symbol, wie auch die ganze Natur ein Bewußtsein hat, nicht viel anders als der Mensch. Und beide Welten sind im Grunde unsere körperliche Heimat, die aber dem aufstrebenden Geist nicht besonders edel erscheint. So sieht man im Vordergrund den „Weisen“ als weitere Stufe bezüglich der drei vorhergehenden Bilder, wie nun die höhere Vernunft mit dem stolzen Ego als Edelmann spricht, der angesichts dieser beiden „unedlen“ Welten nach dem Adel oder Edlen sucht, um sich zu erheben. Die große Frage ist nur: In welche Richtung, mit der ganzheitlich sehenden Vernunft zur Wahrheit oder mit dem überheblichen Stolz in die Illusion?

2.5. Von unedler Abstammung

Schmerz: Ich bin von unedler Abstammung.

Vernunft: Vielleicht ist dieser Umstand weniger anstößig als du denkst. Ich weiß nicht, ob es sogar wünschenswert ist, unedel geboren zu werden, denn man kann es so oder so auf dem Weg des Lebens betrachten. Wenn du dich entschließt, der vielbegangenen Straße der Vergnügungen des gemeinen Volkes zu folgen, dann wird dein Fehler eher zu entschuldigen sein, weil dir zu Hause die Führung fehlte, was sogar die Schwerste aller Schulden mildert, nämlich den verderblichen Mißbrauch der edlen Abstammung, weil es keinen Adel in deiner Familie gibt, den du auf diese Weise verderben würdest. Und wenn du den selten beschrittenen Weg der Tugend wählst, wirst du um so mehr geadelt, je tiefer du aus der Dunkelheit deiner Abstammung hervorkommst. Der Verdienst dieses Lichtes wird allein dir gehören, und niemand kann dir diese Leistung nehmen, weder deine Nachkommen, noch deine Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern, noch deine Ratgeber und Lehrer. Du allein wirst die Früchte deiner guten Taten ernten, du allein wirst gepriesen werden, und du allein wirst als Vater und Gründer deiner Familie berühmt. Was alles nicht der Fall wäre, wenn du bereits edel geboren wärst. Siehst du jetzt, welche Gelegenheit du hast, einen neuen Ruhm zu erlangen und durch dein Verdienst edel und berühmt zu werden, ohne es geerbt zu haben? Damit kannst du es deinen Nachkommen ermöglichen, edel geboren zu werden, eine Gabe, die deine Eltern nicht hatten. Denn es ist viel besser, den Adel zu begründen, als geschenkt zu bekommen, was andere erreicht haben.

Schmerz: Ich komme aus einer unbekannten und unedlen Familie.

Vernunft: Dafür wurde dieser Hirte, der die Stadt Rom gründete, überaus geschätzt, der eine kleine Festung in den Wald baute und seinen winzigen und ärmlichen Palast mit einfachem Stroh bedeckte. Und er war edler als alle Fürsten, die ihm nachfolgten und riesige Mauern und Paläste mit gewölbten Dächern aus Marmor und Gold errichteten. So hoch ist die Wertschätzung für tapfere Initiative und große Anfänge.

Schmerz: Ach, ich stamme aus so unedlen Anfängen.

Vernunft: Dann strebe nach einem edlen Ende! Denn das Werk ist der Anfang, die Frucht das Ende. Und wenn sie vor der Reife gepflückt wird, hält sie nicht lange.

Schmerz: Meine niedere Abstammung schneidet die Wurzeln jeglichen Ruhms ab.

Vernunft: Sie schneidet diese nicht ab, sondern wurzelt nur tiefer, so daß dein Ruhm auch stärker wachsen kann, auch wenn es länger dauert, bis er auftaucht. Ich kann dir Männer aus allen Gesellschaftsschichten nennen, die nicht nur von niederer Abstammung waren, sondern auch völlig unbekannt, aber aufgrund ihrer Tugend und ihres Fleißes zu den Berühmtesten aufstiegen. Und solange die Tugend wahren Adel schafft, verstehe ich wirklich nicht, was jemanden behindert, der edel sein will, oder warum es so viel leichter erscheint, andere zu adeln als sich selbst.

Schmerz: Ich bin wirklich von niederer Abstammung.

Vernunft: Was ist mit Sokrates, Euripides oder Demosthenes? Der erste hatte einen Marmorschneider als Vater und eine Hebamme als Mutter. Und die Abstammung der beiden anderen war nicht edlerer und im Fall des letzten sogar ungewiß. Ihr Landsmann Virgil kam aus bäuerlicher Abstammung, und auch Horaz schämte sich nicht, daß er der Sohn eines Freigelassenen war, der als Herold diente. Doch beide Männer erlangten beträchtlichen Ruhm und verdienten sich die Gunst ihres Kaisers. Und so kam es, daß dieser Kaiser, vor dem alle Könige ihre Häupter neigten und aus dessen Händen große Gunst kam, auf den die Hoffnungen fast aller Sterblichen ruhten, insbesondere aber die Hoffnungen des Adels, und dessen Aufmerksamkeit selbst von den vornehmsten Männern als kostbare Wohltat betrachtet wurde, diesen beiden Bürgerlichen, die aus den Feldern von Mantua und Venusia nach Rom gekommen waren, seine Freundschaft anbot und ihre Gesellschaft mit schmeichelhaften Briefen suchte, als wäre es eine große Gunst. Wie viele Adlige müssen damals im Palast gewesen sein, nutzlos und träge, wie es so oft der Fall ist, die diese beiden Männer von niedriger Geburt mit gutem Grund für edel hielten und beneideten.

Schmerz: Ich komme aber von ganz unbekannten Eltern.

Vernunft: Konnten dich meine Beispiele nicht überzeugen? Dann werde ich dir ein überzeugenderes geben. Wir lesen von Marcus Cicero, daß er zum Ritter geboren wurde. Doch seine Familie hatte bescheidene Anfänge. Nur durch hervorragende Leistungen stieg Cicero auf ehrliche Weise durch die Ränge zum Konsulat auf. Und ich kenne keinen anderen Konsul, dessen Amtszeit für die Republik heilsamer gewesen wäre.

Schmerz: Ich stamme aus einer langen Reihe unbekannter Bauern.

Vernunft: Und das beschämt dich offenbar. Deshalb solltest du höhere Ziele haben. Marius war auch „ein Mann vom Land, aber zweifellos ein Mann“, wie sein Landsmann Cicero sagte. Er war lange Zeit Bauer bei den Marsianern gewesen, aber später siebenmal Konsul von Rom und gelangte zu großem Ruhm, weil er „Italien zweimal vor Belagerung und Angst vor Knechtschaft bewahrte“, wie der gleiche Landsmann wahrheitsgemäß sagte. Auch Cato, ein Mann plebejischen Ursprungs und lange Zeit ein unbedeutender Bewohner einer Kleinstadt, wurde zum angesehensten Bürger der größten Stadt, die es gibt, und wurde zum Konsul und Zensor ernannt. Und wenn das nicht genug ist, und du vielleicht an das Königtum denkst, dann muß deine niedrige Abstammung die Hoffnung nicht ausschließen, sich dieses mit Hilfe eigener Heldentaten zu verdienen. Erinnere dich an den dritten, fünften und sechsten König von Rom. Laut einigen zuverlässigen Historikern, obwohl andere dies nicht über ihn berichten, wuchs Tullus Hostilius als Kind in einer Bauernhütte auf und war als junger Mann Hirte. Der Vater von Tarquinius Priscus war ein ausländischer Kaufmann, und selbst er, Tarquinius, war nicht italienischer Herkunft. Die Mutter von Servius Tullius war eine Sklavin, obwohl einige sagen, daß sie eine Gefangene und von edler Herkunft war. Er erwarb sich das römische Königtum durch Tugend, was dich nicht überraschen sollte, wenn du den Ausspruch von Plato verstehst: „Es gibt keinen König, der nicht von Sklaven abstammt, und keinen Sklaven, der nicht von Königen abstammt.“ So sehr haben sich im Laufe der Jahrhunderte menschliche Angelegenheiten und Vermögen vermischt und verwandelt. Ich werde hier nicht die vielen Könige anderer Nationen aufzählen, die sich plötzlich von der Schafzucht oder üblen Wirtshausspielen zu einer unerwarteten Krone erhoben haben. Wie auch Alexander von Mazedonien einen Gärtner zum König in Asien machte, was nicht die Geringste seiner lobenswerten Taten war. Ich werde auch nicht all jene nennen, die von der Höhe der königlichen Macht in die Tiefe der Knechtschaft gefallen sind. Denn so lenkt die Glücksgöttin den Lauf der Welt. Tugend vollbringt viele Dinge und sorgt für einen sicheren Aufstieg in die höchsten Höhen. Aber sobald dieser Weg verlassen wird, sollten alle Könige wissen, daß ihre Macht schwindet und ihr Untergang bevorsteht, wenn nicht sogar ihr Ruin. Und um zu dir zurückzukehren: Was für eine unheilvolle Geburt könnte es sein, die dich daran hindert, sogar auf ein Königreich zu hoffen oder noch Höheres zu erreichen?

Schmerz: Ich habe sehr dunkle Wurzeln.

Vernunft: Jede Wurzel ist dunkel und unansehnlich, aber grüne und blühende Zweige wachsen aus ihr. Man sollte hier nicht beklagen, woraus etwas wächst, sondern was wächst.

Schmerz: Ich habe wirklich die niedersten Eltern.

Vernunft: Ich denke, das verlangt nach den höchsten Beispielen. Septimius Severus, den ich bereits erwähnt habe, wurde als Ritter geboren, und Helvius Pertinax war der Sohn eines Freigelassenen, eines einfachen Krämers im Holzgeschäft, aber beide führten das römische Reich, das auch von Philipp, dem Araber, und seinem Sohn, die von niedrigster Herkunft waren, sowie von Maximin und Maximus regiert wurde. Maximins Eltern waren unedle Barbaren, für die er sich schämte, nachdem er das Reich erobert hatte. Es ist ungewiß, ob Maximus der Sohn eines Schmieds oder eines Zimmermanns war. Vespasian ist sicherlich zu den guten Herrschern zu zählen. Aber es war nicht die glorreiche Herkunft, die ihn wirklich am glorreichsten machte. Er regierte das Reich sehr gut und hatte zwei Söhne, die ihm nacheinander folgten, von denen einer ihm an Tugend ebenbürtig war. Aber was noch bedeutender ist, es gibt sogar erhebliche Zweifel an der Herkunft von Augustus Cäsar selbst. Die Hauptsache ist, daß der Lauf des menschlichen Schicksals nicht von der eigenen Abstammung festgelegt wird. Egal woher ein Mensch kommt, er kann sich zum Höchsten erheben, geführt von der helfenden Hand des Glücks und der Tugend.

Schmerz: Ich bin von äußerst niedriger und gemeiner Abstammung.

Vernunft: Was die menschliche Macht der Heldentaten betrifft, habe ich dir die höchsten Beispiele gegeben. Aber eins bleibt noch übrig, das sich nicht auf Imperium und Königtum bezieht, sondern auf eine andere Art von Majestät, die auch der Erinnerung wert ist. Als Jugendlicher gehörte Ventidius Bassus von Aesculum, Sohn einer niedergeborenen Mutter und eines unbekannten Vaters, zu den Gefangenen nach dem Triumph von Gnaeus Pompeius Strabo, dem Vater des großen Pompeius, der dessen Heimatstadt erobert hatte. Aber das Schicksal änderte sich. Während des Krieges gegen die Parther wurde Ventidius General der römischen Armee, besiegte glänzend den König der Parther, der wegen seiner großen Macht und dem kürzlich errungenen Sieg überaus stolz geworden war, tötete seinen Sohn und vernichtete das feindliche Heer, was das Schicksal den römischen Feldherren bisher verweigert hatte. Nachdem er die römische Niederlage und den Tod von Crassus so großartig gerächt hatte, ehrte er, der einst unter den gefesselten und besiegten Fremden gewesen war, die hinter dem Triumphwagen in die Gefangenschaft gingen, nun das Kapitol mit seinen eigenen Streitwagen als triumphierender Sieger und füllte die römischen Gefängnisse mit Scharen gefangener Feinde. Und was dieses Ereignis noch willkommener und seinen Sieg bemerkenswerter macht, es geschah am selben Tag, an dem im Jahr zuvor jene schreckliche Niederlage bei Carrhae war. Wer wäre so eifrig und hungrig nach einem Königreich, daß er solchen majestätischen Ruhm ohne Königtum nicht einem Königtum ohne solchen Ruhm vorzieht? Was also hielt Ventidius von diesem Glück und den größten Ehren ab, obwohl er von niedriger Geburt war und in seiner Jugend Unglück und Elend erlebt hatte? Rom schätzte den niederen Mann aus Aesculum und fügte seinen unbekannten und fremden Namen der Liste seiner großen Bürger hinzu. Dies sind die Sprossen zum Hochklettern, die Stufen der Tugend, die dich durch Anstrengung, Mühe und Wachsamkeit nicht nur zu Ruhm und höherem Glück führen, sondern sogar in den Himmel. Weil du niedrig geboren wurdest, mußt du dich erheben, indem du vom ersten bis zum letzten Schritt der Tugend folgst, ohne jemals davon abzuweichen oder irgendwo stehenzubleiben.

Schmerz: Meine Anfänge sind wirklich sehr bescheiden.

Vernunft: Diese Anfänge sind vorbei, nun betrachte, was daraus folgt. Ich weiß wohl, daß einige den ersten und den letzten Tag des Lebens als sehr einflußreich ansehen, weil sie den menschlichen Zustand bestimmen oder, wie diese Leute sagen, ihn festlegen. In Bezug auf die Bedeutung des letzten Lebenstages stimme ich sicherlich zu, doch nicht beim ersten. Obwohl, wie diese Leute betonen, viel von den Vorzeichen abhängt, unter denen etwas beginnt, und auch der satirische Dichter auf diese Weise argumentiert, wenn er über Ventidius schreibt: „Alles hängt von den Sternen ab, die dich begrüßen, wenn du den ersten Schrei ausstößt und noch rot vom Mutterleib bist.“ Ich lehne diese Ansicht trotzdem ab und leugne die Übermacht von Vorzeichen oder Sternen. Denn wer vom guten Gott geschaffen wurde, der auch die Sterne gemacht hat, sollte niemals vom Weg zu Tugend und Ruhm ausgeschlossen werden!

Schmerz: Meine ganze Familie ist sehr bescheiden.

Vernunft: Möchtest du sie lieber überheblich stolz haben? Was meinst du, was dir gerade fehlt? Möchtest du, daß deine Galerie voller verblichener Porträts und zerbrechlicher Büsten deiner Vorfahren ist und dein Familienschrein voller Titel, um die Besucher zu verblüffen? Bist du so verrückt, um voller Stolz mit erhobenen Augen durch die Straßen zu gehen und mit deinen Ahnen zu prahlen, die du nie kennengelernt hast?

Schmerz: Ich bin nun einmal von niederer Geburt.

Vernunft: Nicht nur niedrig geboren zu sein, sondern auch niedrig (bzw. demütig) zu leben, war für manche ihr Glück. Hast du nicht den Spruch gelesen, den Cicero in seinen Tusculanes aufgegriffen hat, jenen berühmten Versen, in denen ein sehr mächtiger König einem alten Mann gratuliert und ihn für glücklich erklärt, weil er seine letzten Tage ohne hohen Ruhm und große Bekanntheit erreicht hat?

(Der König ist vermutlich Agamemnon, der im Werk „Iphigenie“ sagt: „Oh ihr seid glücklich, glücklich, alle demütigen Männer, unbekannt, ungeehrt und von Angst befreit!“)

Petrarcameister - Von unedler Abstammung

Das Beispiel von Romulus und Remus wird im Text wie auch im Bild beibehalten. Die Brüder stehen als Hirten in bäuerlicher Tracht und mit derben Knüppeln in der Mitte der Darstellung. Sie haben die bescheidenen Hütten gebaut, die rechts im Bild sichtbar werden, und sind damit weit berühmter geworden als die Könige, die später Schlösser und Prachtbauten errichten ließen. Von diesen Bauten wird im Hintergrund des Bildes erzählt, wo Maurer, Dachdecker, Brückenbauer mit vielen Handlangern bei der Arbeit sind. Die beiden Männer, die in der Kleidung von Philosophen und Doktoren vor den beiden Hütten diskutieren, sind Menschen, die es trotz geringer Herkunft zu hohen Ehren gebracht haben. Petrarca nennt ihrer viele, doch läßt sich nicht entscheiden, ob nun Sokrates, Euripides, Demosthenes, Horaz, Cicero oder andere gemeint sein sollen.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht können wir im Hintergrund die stolzen Häuser der Menschen sehen, die immer höher erbaut werden, und der Petrarca-Meister spielt auch hier mit den sieben Bauleuten, die mehr oder weniger verstreut mit großen und kleinen Bausteinen unseren menschlichen Körper errichten, und zwar mit dem Mörtel, den wir bereits aus Kapitel 1.118 kennen. Darüber hinaus gibt es noch einige Paare, die symbolisch als „Dualität“ im Spiel der Gegensätze zusammenarbeiten. Ein Paar, das an unseren Ego-Verstand erinnert, deckt das Dach und ein anderes baut vor dem Hintergrund der „wilden und unedlen“ Natur mehrere Brückenbögen, vielleicht zwischen dem Stadtleben und der Natur oder auch über den Fluß des Lebens zwischen Geburt und Tod. Den beiden Weisen als höhere Vernunft, die miteinander disputieren, genügt eine niedrige Hütte, denn ihre Größe zeigt sich im Geist. Und im Zentrum könnte man in den Hirten den gedanklich-begrifflichen Verstand sehen, der sozusagen aus der „unedlen Natur“ stammt und sich entweder zum stolzen Ego entwickelt, das sich in dieser körperlichen Welt einen prächtigen Palast bauen will, um damit andere zu überragen, oder sich zu den Weisen neigt, die hier vernünftig und bescheiden leben und ihren edlen Reichtum in der geistigen Welt suchen.

2.6. Von schändlicher Geburt

Schmerz: Meine Geburt ist nicht nur unedel, sondern auch schändlich (und unehelich).

Vernunft: Die einzig wirkliche Schande ist in deinem Geist. Wenn du diese auflöst, ist alles edel und gut.

Schmerz: Ich bin wirklich schlecht geboren.

Vernunft: Wer gut lebt, war gut geboren und stirbt gut. Wer aber schlecht lebt, dem nützt auch eine gute Geburt nichts. Was hilft es, wenn ein Blinder einen hell erleuchteten Weg geht? Und welche Rolle spielt es, woher du kommst, wenn du in Elend und Schuld läufst?

Schmerz: Ich wurde aber in Sünde gezeugt.

Vernunft: Einer der größten Männer beklagte den gleichen Umstand (vermutlich König David, der in den Psalmen schreibt: »Siehe, ich bin in sündlichem Wesen geboren, und meine Mutter hat mich in Sünden empfangen. (Psalm 51.7)«). Doch tatsächlich wird jeder Mensch in Sünde gezeugt und geboren. Hüte dich daher davor, noch schlimmere Sünde hinzuzufügen und die Reinigung zu verlieren, die mit der heiligen Taufe diesen ersten Makel abgewaschen hat, als du in dieses Leben eingetreten bist und deine Seele so weiß wie Schnee wurde.

Schmerz: Meine Eltern haben mich auf schändliche Weise gezeugt.

Vernunft: Was macht es aus, daß dich jemand schändlich gezeugt hat? Du bist gut geboren, solange du nicht deine eigene Schande zu ihrer Schande hinzufügst.

Schmerz: Ich schäme mich meiner schändlichen Geburt.

Vernunft: Nun wundere ich mich nicht mehr, daß du mit dem prahlst, was anderen gehört, denn du schämst dich auch für andere und schreibst deine Vor- und Nachteile anderen zu und nicht dir selbst, obwohl sie unmöglich anderswo als in dir sein können. Wenn du nicht selbst etwas getan hast, dessen du dich schämen müßtest, welche Schuld oder Schande erwächst dir daraus, einen schamlosen Vater gehabt zu haben? Ja, du mußt gut darauf achten, dein schändliches Erbe nicht zu vergrößern, und dich bemühen, ihm in dieser Hinsicht so wenig wie möglich ähnlich zu werden. Aber der dich gezeugt hat, als du nichts wußtest, kann dir seine Unreinheit nicht gegen deinen Willen aufzwingen. Was auch immer es braucht, um dich schändlich oder ehrlich zu machen, liegt in dir und kommt allein von dir.

Schmerz: Ich erblickte das Licht der Welt als ein Kind unehrenhafter Eltern.

Vernunft: Natürlich sollten die Eltern vom Kind in Ehren gehalten werden. Aber trotz dieser Verehrung muß das Kind nicht jedem Beispiel seiner Eltern folgen. In deinem Fall lautet mein Rat, nicht zu folgen und sich schnell abzuwenden. Und wenn sie wahre Eltern sind, werden sie wollen, daß du ihre Abwege vermeidest, weil sie hoffen, daß du sie selbst liebst und nicht ihre Fehler. Dies ist ein Fall, in dem es für ein Kind rühmlich und aufrichtig ist, seine Eltern herabzusetzen und zu verwerfen, um keuscher und anständiger zu leben. Kinder sollten über unehrenhafte Eltern schweigen, aber die Unterschiedlichkeit von Leben, Moral und Taten der Kinder sollte nicht schweigen. Es ist doch ein schönes Lob für einen Sohn, wenn man hinter seinem Rücken spricht: „Oh, wieviel anständiger ist der Junge im Vergleich zu seinem alten Vater!“ Umgekehrt gibt es keinen härteren Vorwurf gegen die Ausschweifungen eines alten Vaters, als diese der Mäßigung seines jugendlichen Sohnes gegenüberzustellen. Wenn der Ruf ausschweifender Eltern für Kinder lästig ist, um wieviel mehr lastet das ehrenhafte Verhalten von guten Kindern auf der Schande von Eltern, die in Schlechtigkeit leben!

Schmerz: Ich wurde in unehrenhafter Lust gezeugt.

Vernunft: Trotzdem solltest du lieber ein ehrbares Kind schamloser Eltern sein und dafür bekannt, als ein schamloses Kind ehrbarer Eltern. Denn wenn es um Lob oder Tadel geht, wird zuerst das eigene Verhalten berücksichtigt. Niemand kann für die Taten eines anderen getadelt oder gelobt werden, auch wenn, wie gesagt, alle deine Taten im Vergleich zu ihren Gegensätzen besser zu erkennen sind. So wie Lob und Schande jeder Person einzeln zuteil werden, so ruhen auch die Ursachen für Lob und Schande in jedem. Wenn auch ein Mann durch das Schwert eines anderen umkommt oder das Eigentum eines Menschen durch das Feuer eines anderen in Flammen aufgeht, so geht doch der Ruf eines Menschen nicht durch die Schuld eines anderen zugrunde, weil die Güter des Geistes dauerhafter sind als die des Körpers oder des Glücks, so daß sie nicht gegen den Willen des Eigentümers zerstört werden können.

Schmerz: Ich wurde gegen alle Gebote von Anstand und Gesetz gezeugt.

Vernunft: Doch du hast nichts gegen das Gesetz getan, nur deine Eltern. In der Tat mußt du immer nach dem Gesetz handeln, aber du hast kein Verbrechen begangen, als du geboren wurdest. Andere sind für die Umstände deiner Herkunft verantwortlich, und du bist für dein eigenes Verhalten verantwortlich. Wenn auch das weltliche Recht die unschuldigen Nachkommen bestraft, die in unerlaubter Vereinigung ungezügelter Liebe gezeugt wurden, so mißt doch Gott jeden nach seinen eigenen Verdiensten und rechnet weder die Bosheit des Kindes dem Vater noch die des Vaters dem Kind zu. Du kannst sogar von den Philosophen lernen, daß die Weisheit hier anders urteilt als unsere weltlichen Gesetze. Wenn also das Urteil Gottes und der menschlichen Weisheit zu deinen Gunsten ausfällt, dann hast du doch genug, um dich trotz der Verurteilung durch das weltliche Gesetz zu trösten. Du bist auch nicht davon ausgeschlossen, ein persönliches Erbe oder öffentliche Anerkennung zu gewinnen, weil das erste durch die Ordnungen der Menschen gewährt wird und das zweite in Übereinstimmung mit deinem Verdienst. Und wenn du auch mit deiner Geburt keinen Ruhm gewonnen hast, so hast du damit doch keine Schande verdient.

Schmerz: Meine Geburt war unehelich und befleckt.

Vernunft: Romulus und Herkules zeigen deutlich, was aus Befleckung und Ehebruch entstehen kann. So wurde auch Perseus zum König von Mazedonien und Jugurtha von Numidien, und diese beiden Bastarde vertrieben sogar ihre rechtmäßigen Brüder vom Thron, zweifellos mit den schlimmsten Mitteln, aber schließlich vertrieben sie sie. Alexander von Makedonien war angeblich ein Sohn Philipps, aber du hast ja gehört was von dieser Vaterschaft zu halten ist. Historiker erzählen uns, daß Philipp am Ende seines Lebens zugab, daß Alexander nicht sein Sohn war und daß er sich von seiner Frau Olympias getrennt hatte, als sie es ihm beichtete. Auch Konstantin wurde von einer Konkubine geboren, obwohl sie von hohem Rang war, und wurde vor seinen rechtmäßigen Brüdern als neuer Kaiser vorgezogen. Ich würde diesen Beispielen auch gerne das von König Artus hinzufügen, wenn die Verwirrung von Fabel und Geschichte nicht Gefahr laufen würde, die Glaubwürdigkeit der Wahrheit durch Lüge zu mindern. Kurz gesagt, was dich zurückhält, ist nicht deine Herkunft. Ganz gleich, unter welchen Umständen du geboren wurdest, wenn die Tugend dich erhebt, wirst du genügend Ruhm finden.

Schmerz: Ich wurde wirklich schlecht geboren.

Vernunft: Dann lebe gut und sterbe gut! Wie du geboren wurdest, hängt nicht von dir ab, und du kannst dich nicht einmal daran erinnern. Frage nicht so viel nach dem, was nicht dein ist, es sei denn, um dich demütiger und freundlicher zu machen, aber nicht, um dich zu betrüben.

Schmerz: Ich wurde aber mit Schande geboren.

Vernunft: Wahrhaftes Verhalten und ehrenhaftes Leben tilgen nicht nur einen solchen Makel, sondern auch jede Erinnerung schändlicher Herkunft. Nutze diese Mittel, solange du kannst! Glaube mir, es gibt keine anderen.

Schmerz: Ich schäme mich so sehr für die Schande meines Vaters und meiner Mutter.

Vernunft: Laß diese Schande ruhen, denn Gott ist der eine Vater von allem, und die Erde ist die eine Mutter von allem.

Petrarcameister - Von schändlicher Geburt

„Meine Geburt ist nicht nur unedel, sondern auch schändlich“, klagt der Schmerz. Die Vernunft weiß zu trösten, daß nicht viel an der Geburt, sondern das Meiste am Leben gelegen sei: „Wer wohl und recht lebt, ist wohlgeboren.“ Demgegenüber hat der Holzschnitt des Petrarca-Meisters eine gesellschaftskritische Tendenz. Er stellt links Edelleute mit ihren Geliebten dar. Sie ergehen sich im Freien, sitzen am Waldrand und suchen das Waldesdunkel. Rechts aber zeigt eine strohgedeckte Hütte das Findelhaus, wo die ausgesetzten unwillkommenen Kinder ihre kümmerliche Zuflucht finden. In der Mitte des Bildes steht ein Junge allein und rauft sich verzweifelt das Haar. Er steht in der Reihe der vornehmen Liebespaare, zu denen er seinem Blut nach gehört, aber er schaut zurück nach dem Findelhaus, das in Wirklichkeit sein Ursprung gewesen ist.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Es wird auch berichtet, daß Petrarca selbst zwei uneheliche Kinder hatte, Giovanni (1337-61) und Francesca (1343-84), welche 1362 Francescuolo da Brossano heiratete und Petrarca zwei Enkelkinder schenkte. Aus geistiger Sicht können wir links im Bild fünf verliebte Paare sehen, die uns an die fünf Sinne im gegensätzlichen Spiel von Männlich und Weiblich, Geist und Natur bzw. Subjekt und Objekt erinnern. Eine ähnliche Symbolik findet man auch in Bild 1.119. Auf der rechten Seite können wir unsere Geburt von Mutter Natur sehen, daß wir alle in Sünde gezeugt und geboren werden, wie man im Christentum sagt, verursacht durch das Greifen nach den Früchten vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen unserer Vorfahren. In Indien spricht man von angesammeltem Karma, durch das wir geboren werden, und die modernere Wissenschaft kennt hier das Meer der Ursachen bzw. Möglichkeiten, so daß der Geist bzw. das Bewußtsein nach einem materiellen Körper in dieser Welt greift. So wird der Geist in der Natur „ausgesetzt“, um entsprechende Erfahrungen zu machen. Dazwischen im Zentrum des Bildes könnte man den erwachenden Verstand erkennen, wie er angesichts seiner Geburt und den Verführungen der Sinne umherirrt, zweifelt und sich die Haare der Gedanken rauft. Dann denkt er „Das bin Ich!“, und schon ist das Ichbewußtsein in dieser Welt geboren und verkörpert.

2.7. Von der Knechtschaft und Leibeigenschaft

Schmerz: Ich bin als Leibeigener in dieses Leben getreten.

Vernunft: Gräme dich nicht darüber. Wenn du wirklich willst, kannst du als Freier aus dem Leben gehen. Und viele, die im Gegensatz zu dir als Freie in dieses Leben getreten sind, werden es als Leibeigene verlassen.

Schmerz: Ich wurde in die Knechtschaft hineingeboren.

Vernunft: Dann lebe in Freiheit! Nichts hindert den besseren Teil von dir daran, frei zu sein. Die Sünde ist die schwerste Art der Knechtschaft, aber sie kann niemanden gegen seinen Willen unterwerfen. So schüttle sie ab, und du wirst frei sein!

Schmerz: Die Schicksalsgöttin Fortuna wollte, daß ich ein Leibeigener bin.

Vernunft: Und du kannst das Gegenteil wollen. Auch wenn sie ihrer Gewohnheit folgt, so weißt du doch, worauf du hoffen kannst. Du kennst dieses Monster und ihre Spiele und Tricks. Du kannst nicht nur frei werden, sondern sogar der Herr deines Herrn sein. Was Fortuna will oder nicht will, ist nicht entscheidend, auch nicht, daß sie oft unerbittlich erscheint. Sie hat keine (unbesiegbare) Macht über deinen Geist. In jedem Kampf gegen sie kannst du ihren Feind um Hilfe bitten: Das ist die Tugend, die oft schon jene befreite, die das Schicksal zu Leibeigenen gemacht hat.

Schmerz: Ich werde von schwerer Knechtschaft bedrückt.

Vernunft: Wer sein Joch willig trägt, macht es sich leicht. Ich werde dir eine einzigartige Erleichterung zeigen, ein unvergängliches Gut, das nicht der Kontrolle deines Herrn unterliegt, wie mächtig er auch sein mag, und das dich frei und sogar reicher als dein Herr machen kann: Widme dich dem Erreichen von Weisheit, und die Weisheit wird dich befreien! Es gibt ein Sprichwort von Cato, das auch Cicero bestätigt: „Nur der Weise ist frei!“ Das heißt, durch die Kraft dieser Art von Freiheit, die sicherer ist als jede andere.

Schmerz: Ich verbringe mein Leben unter den härtesten Herren.

Vernunft: Nichts kann sie mehr erweichen als Treue und Gehorsam. Und vielleicht kommt dann deine Freiheit, so wie es viele erlebt haben, aus einer anderen Quelle, als aus deinem Kummer, ein Sklave zu sein. Denn einige werden von ihren zeitlichen Herren befreit und einige vom ewigen. Du kennst ja die Gefahren, denen Malchus ausgesetzt war, um der wütenden Verfolgung seines Herrn zu entkommen, und doch entkam er schließlich. Bis dahin denke so über deinen Herrn: Er ernährt dich und übernimmt die Sorge für dich. Ist das nicht auch ein nützlicher Schaden, die Sorge um die freie Verfügung über sich selbst verloren zu haben? Denn für viele ist ihre Freiheit nur eine Leibeigenschaft, während für andere die Leibeigenschaft eine Freiheit sein kann. Denn das Joch des Menschenleibes ist nicht so schwer wie das Joch der persönlichen Sorgen. Wer also letzteres abschüttelt, kann ersteres geduldig ertragen. Du bist der Leibeigene dieses Mannes und an ihn gebunden, aber in Wirklichkeit ist er an dich gebunden. Er ist dein Herr, aber in Wirklichkeit ist er dein Versorger. Du mußt dich nicht um öffentliche Ehren und Pflichten der Ämter kümmern. Du wirst auch nicht von zweifelhaften Plänen, gerichtlichen Schlachten und wankelmütigen Ratschlägen hin und her geworfen, noch werden dich überfällige Handelsschiffe, unfruchtbare Felder und hohe Preise quälen. Du überläßt all diese Probleme deinem Herrn und wirst oft schlafen, während er sorgenvoll wachliegt.

Schmerz: Mein Herr ist aber schwierig und tyrannisch.

Vernunft: Dann bedenke, daß es nicht ohne Grund dein Los ist, gerade ihn zum Herrn zu haben. Wenn er dir also befiehlt, Gutes zu tun, dann verhalte dich so, als hätte Gott selbst es dir befohlen. Aber wenn er dir befiehlt, Schlechtes zu tun, ist es noch wichtiger, an den höheren Herrn zu denken, der dir erlaubt, ein ehrlicher Diener zu sein, wie schwierig es auch sein mag, und ob er auch will, daß du für dieses Schlechte frei bist. So verstehe ich die Gebote der beiden glorreichen Fürsten der Erde und des wahren Glaubens (St. Paulus und Petrus), von denen der eine will, daß die Leibeigenen ihren Herren in allen Dingen gehorchen (Kol. 3.22), und der andere, daß sie ihren Herren mit aller Furcht untertan sind, und fügt hinzu: „nicht nur für die Guten und Sanften, sondern auch für die Eigensinnigen (1.Petr. 2.18)“. Denn es steht einem Diener nicht zu, über seinen Herrn zu urteilen, sondern zu ertragen, was auch immer sein Verhalten sein mag. Je strenger der Herr, desto herrlicher erglänzt die Geduld des Dieners, und das ist auch der Grund, warum das zweite Gebot so lautet. Aber das bedeutet nicht, daß du alle ihre Befehle ausführen mußt, ähnlich deinen eigenen Launen. Vor allem die Befehle, die den Geboten des Allmächtigen widersprechen, denn im Vergleich zu Ihm ist dein Herr nicht mehr als Herr zu betrachten, sondern als ein Diener wie du selbst. Darum sollen Diener ihren Herren in allem gehorchen, wenn die erhaltenen Befehle (vor Gott) gerecht sind. Laß dich nicht davon abbringen, weder durch Schwierigkeiten, noch durch Mühsal, Mangel an Freundlichkeit oder Belohnung oder auch auferlegte Strafen, was das Bitterste für euch ist. So sollst du ihm in allem gehorchen, sofern Recht und Ehre gewahrt bleiben. Wenn aber diese beiden verletzt werden, ist der Geist von Unabhängigkeit und Freiheit die einzige Haltung, die man einnehmen kann. Damit muß man sich mit aller Kraft ungerechten und schändlichen Befehlen widersetzen und sich erinnern, daß zwar das erste Gebot (von St. Paulus) den Dienern auferlegt, ihren Herren in allem zu gehorchen, aber hinzufügt: „Tut es mit Einfalt des Herzens und mit Gottesfurcht.“ Das zeigt dir das Wesen deines Zustandes: Du bist kein völliger Leibeigener, solange du nicht gezwungen werden kannst, schändliche Befehle zu befolgen.

Schmerz: Ich diene einem sehr stolzen Herrn.

Vernunft: Weißt du, ob er nicht einem anderen Herrn untertan ist? Vielleicht seiner Frau oder einer Hure oder vielleicht genau denen, denen er befiehlt. Wie viele sehen wir überall, die Sklaven ihrer Diener sind? Und vielleicht - was die Härteste aller Knechtschaften ist - ist er auch ein Sklave seiner selbst, seiner Laster, seiner Begierden und seiner gewalttätigen Wut. Was soll ich dir sagen? Nur wenige sind wirklich frei, und diejenigen, die es sind, finden das Leben immer schwerer, je höher ihre Stufe ist. So lassen sich die Aufgaben eines treuen Dieners viel schneller und leichter erledigen als die eines rechtschaffenen Königs. Dazu gibt es eine denkwürdige Bemerkung von Diokletian, als er wieder Privatmann wurde und die Vergangenheit auf der Grundlage seiner eigenen Erfahrung betrachtete: „Nichts ist schwerer, als gut zu regieren.“ Weshalb man versteht, warum er seine Herrschaft über das Imperium aufgegeben hat. Daher solltest du deinen Zustand, der zugegebenermaßen trist und bescheiden ist, aber auch leicht und friedlich sein kann, freudig annehmen. Es sei denn, du glaubst, daß jemand, der unter der Anstrengung der Öffentlichkeit stöhnt, glücklicher ist als derjenige, der in seiner Kammer ruht.

Schmerz: Das Schicksal hat mich in die Sklaverei geworfen.

Vernunft: Dann tue bereitwillig, was getan werden muß. So ist auch der altbekannte Ratschlag, der den menschlichen Bedürfnissen am besten entspricht: „Liebe alles, was notwendig ist!“ Auf diese Weise besiegst du die zwingende Kraft der Notwendigkeit selbst. Trage geduldig die Last deines Schicksals, wie diejenigen, die solches bereitwillig auf sich nahmen und Sklaven wurden, um andere von der Sklaverei zu befreien. Unter ihnen strahlt Bischof Paulinus von Nola mit ganz besonderem Glanz, dessen freiwillige Knechtschaft jenen glücklichen Ausgang hatte, den sie haben sollte. Manche hatten sich auch in die Sklaverei verkauft, um als Sklaven ihre Herren von den Fesseln der Sünde zu befreien und ihnen die wahre Freiheit zurückzugeben, unter denen Serapion, ein ägyptischer Einsiedler, hoch verehrt wird. Mögen dir diese Beispiele mehr als deine Klagen helfen! Du kannst etwas ähnliches versuchen, was deine Knechtschaft anderen nützlicher und für dich einfacher machen würde. Verlange nicht danach, was du nicht hast, sondern nutze zum Guten, was du hast: Das ist der Weg des Weisen. Ersteres (das Beklagen) tun alle Menschen, aber das Zweite ist nur wenigen vorbehalten.

Schmerz: Ich bin ein Sterblicher, der gezwungen ist, einem sterblichen Herrn zu dienen.

Vernunft: Dann beginne, dem unsterblichen Herrn zu dienen. Nur der kann dir Freiheit und Königreich geben, denn auch in deinem gegenwärtigen Zustand ist es dir nicht verboten, sich ehrenhaften Künsten zu widmen und auf das Beste zu hoffen. Terenz war auch ein Sklave, aber er ließ sich nicht von der Trägheit unterwerfen, sondern lernte und schrieb Komödien, die nicht unterwürfig waren, wodurch er sich die Freiheit und einen Platz unter den führenden Dichtern verdiente. Wie könnte dann Knechtschaft die Tugend verhindern, dieses hervorragende Gut des Geistes, wenn sie nicht einmal gewinnbringende Studien oder öffentlichen Beifall verhindern kann? Plato selbst wurde in die Sklaverei verkauft, doch wir lesen, daß der Philosoph denjenigen überstrahlte, der ihn kaufte. Ist dies nicht ein hoher Beruf, der den Diener über seinen Herrn erhebt? Es kann auch keinen Zweifel daran geben, daß ein gelehrter Diener größer ist als ein ungelehrter Herr, denn der Geist ist größer als jedes Vermögen, egal wie groß es sein mag. Wie der Geist eines Sklaven oft im Körper eines Freien wohnt, so kann auch ein freier Geist im Körper eines Sklaven wohnen. Die Knechtschaft mag wohl ein Hindernis bei weltlichen Geschäften sein, aber nicht im Wirken des Geistes. So wird zwar ein Sklave von weltlichen Gerichten abgelehnt, aber nicht, wenn es um Tugend, Fleiß oder Treue geht.

Zum Beispiel war Tiro ein Sklave Ciceros, aber er verdiente sich seine Freiheit durch seine Gelehrsamkeit und hinterließ der Nachwelt eine wunderschöne Sammlung der Witze seines Herrn. So kann ein Sklave zwar kein Armeegeneral oder Senator sein, aber ein Philosoph, Redner und guter Mann, und manchmal, nachdem er die Sklaverei überwunden hat, kann er sogar ein Kaiser oder ein König werden. Wir kennen nicht nur Sklaven, die Königtum und Reich erlangten, sondern auch einige, die das Himmelreich selbst gewannen. Denn ein Sklave kann nicht nur wie ein Soldat im Dienst der Menschen kämpfen, sondern auch für Gott, der als Lohn das Königtum gewähren kann. So ein Diener Gottes ist ein König der Menschen, ein Gefährte der Engel und ein Schrecken der Teufel. Damit kann er ein Diener Gottes und ein Diener der Menschen sein, und diese irdische Dienerschaft ist kein Hindernis für das himmlische Glück.

Schmerz: Ich bin aber ein Leibeigener.

Vernunft: Wenn du schon immer einer warst, wird deine Trauer durch Gewohnheit gemildert. Wenn nicht, dann hoffe, daß du bald wieder sein kannst, was du ursprünglich warst.

Schmerz: Ich bin wirklich ein Leibeigener.

Vernunft: Wenn du auf ein Ende deines Elends hoffst, dann laß diese Hoffnung deinen Schmerz lindern. Wenn du verzweifelst, sei geduldig und füge deinem Elend kein weiteres hinzu, noch quäle dich unnötig mit deinem Wollen und Wissen, was der Gipfel menschlichen Wahnsinns ist. Denn in Wahrheit gibt es keinen Grund zur Verzweiflung: Wenn alles andere scheitert, ist doch der Tod da und wird dich auch gegen den Willen deines irdischen Herrn erlösen und frei machen.

Petrarcameister - Von der Knechtschaft und Leibeigenschaft

Den schwachen Trost, den die Vernunft hier gibt, sieht der Petrarca-Meister nicht. Er stellt dar, wie der Leibeigene seinem Herrn mit Leib und Leben verfallen ist, wie er zur Strafe nackend vor den Augen des Herrn ausgepeitscht wird, wie er sein Leben für den Herrn wagen muß, um als Bote schwimmend Flüsse zu überqueren, und wie er in fernen Landen von Löwen zerrissen wird, indes sein Herr auf dem Kamel sich in Sicherheit bringt.

Soweit beschreibt Walther Scheidig dieses Bild. Aus geistiger Sicht ist bereits das Wort „Leibeigenschaft“ eines der vielen tiefsinnigen Bergriffe der deutschen Sprache. Denn „Leibeigenschaft“ entsteht auch, wenn der Geist zu einer „Eigenschaft“ des Leibes wird, was uns auch die moderne Wissenschaft und Medizin einreden will. Warum betreibt sie das mit so großer Anstrengung und will gar nichts anderes sehen? So erkennen wir in diesem Bild links im Körper-Haus den Herrn als Ego zusammen mit dem gedanklichen Verstand, der einen anderen „Leibeigenen“ außerhalb seines Hauses zu seinem Dienst mit der Peitsche antreiben und herabwürdigen will. Gleichzeitig sieht man auch wie der „Leibeigene“ von seinem eigenen Verstand mit der Peitsche von Begierde und Haß getrieben, gequält und gestraft wird. Und es ist schön gezeichnet wie sich diese beiden Egos mit erhobenen Gesichtern anschauen, der eine vor Stolz und der andere vor Schmerz. Und man fragt sich, in wem eher die Vernunft erwacht und sich der Blick ins Göttliche öffnet? Rechts im Hintergrund kann man den Menschen in der Natur sehen, wie er entweder vom gierigen Hunger überwältigt und verzehrt wird, oder seinen Geist erheben kann und mit dem Schwert der Erkenntnis sein natürliches Tierwesen zügeln und beherrschen kann. Entsprechend sehen wir dann rechts, wie Mann und Frau, Geist und Natur oder auch Leib und Seele als gemeinsames Paar auf dem Fluß des Lebens dieses Bild bzw. diese Bildung der Knecht- und Leibeigenschaft verlassen können, und zwar nackt, ohne Eigentum und Eigenschaft in die Freiheit. Dabei werden sie von Schwimmhilfen getragen, wie sie früher in Form von aufgeblasenen Tierhäuten verwendet wurden, die uns symbolisch vielleicht an die Leichtigkeit erinnern sollen, die nötig ist, um in diesem Fluß nicht unterzugehen.

2.8. Von der Armut

Schmerz: Ich werde von Armut bedrückt und kann mich nicht erheben.

Vernunft: Armut hat dem widerstrebenden Geist schon oft gelehrt, sich in Mäßigung zu üben, und damit erreicht, was all die Philosophie nicht konnte.

Schmerz: Armut belagert meine Türschwelle.

Vernunft: Sie belagert diese nicht, sondern bewacht sie. Das ist nichts Neues oder Seltsames. Schon vor Jahrhunderten wurde Rom durch die Armut bewahrt, weil üppige Verschwendung, träger Müßiggang und üble Degeneration nicht in die Zelte einer nüchternen und ehrfürchtigen Armut eindringen können.

Schmerz: Armut ist aber in mein Haus eingedrungen.

Vernunft: Wann immer du ihr gegenüberstehst, wenn sie kommt, dann empfehle ich, daß du deine Tür weit öffnest und sie freudig mit offenen Armen empfängst. Auf den ersten Blick mag sie ein wenig schroff und etwas traurig erscheinen. Doch nicht ohne Grund wurde sie mit einer Reisenden und auch einem bewaffneten Mann verglichen, denn ihre Ankunft kommt plötzlich und auch bedrohlich. Aber wenn man sie kennenlernt, ist sie ein ganz bescheidener, ruhiger und gutmütiger Gast.

Schmerz: Armut klopft an meine Tür.

Vernunft: Dann öffne sie schnell, bevor sie mit einem plötzlichen Kraftstoß die Riegel zerbricht, die Tür zerschmettert und wie eine Erobererin eindringt, denn sie ist sehr lästig mit denen, die sich ihr widersetzen, aber angenehm mit denen, die sich ihr hingeben.

Schmerz: Armut ist in mein Haus eingebrochen.

Vernunft: Dann ist sie eine stets wachsame Wächterin gegen Einbrecher und gierige Gelüste, die noch schlimmere als Einbrecher sind. Sie wird dich vor den bösartigen Zähnen des Mobs und seinen absurden Urteilen bewahren, wie auch vor der Schande durch Gier oder Verschwendung, die vor allem in den Häusern der Reichen wohnt. Gegen all diese Übel kann niemand dein Haus besser beschützen als die Armut. Wenn ein reicher Mann, obwohl er großzügig ist, etwas für sich behält, dann wird er schon als Geizhals bezeichnet. Doch ein Armer, (der ein wenig gibt,) auch wenn er gierig ist, wird als großzügig angesehen. Nachbarn beneiden den Reichtum und beklagen die Armut, denn sie begehren den Reichtum und verachten ihn bei anderen, und sie fürchten die Armut und loben sie bei anderen.

Schmerz: Armut besetzt mein Haus.

Vernunft: Dann wird darin kein Platz mehr sein für Stolz, Neid, Verlustängste, schreckliche Verluste oder für tausend Arten von Mißtrauen, noch für Betrug, Übelkeit (durch zu viel Essen) oder Gicht, welche die ständigen Gäste im Haus der Reichen sind. Anstatt ihrer sollten Ruhe, Gelassenheit und Tugend in deinem Haus ihren Platz finden, und um so mehr, je weniger dich die Glücksgöttin Fortuna begünstigt.

Schmerz: Wirklich bittere Armut ist in mein Haus eingedrungen.

Vernunft: Ich verstehe, worüber du dich beschwerst. Es wäre dir angenehmer gewesen, wenn Reichtümer eingedrungen wären. Aber Armut ist sicherer! Es gibt keinerlei Besitztümer, denen die Sicherheit nicht vorzuziehen wäre, solange alles, was die Menschen tun und begehren, auf das Glück ausgerichtet ist. Denn beständiges Glück kann nur mit Sicherheit erreicht werden, und das sogar ohne Reichtum.

Schmerz: Ich bin seit langem ein Opfer unerträglicher Armut.

Vernunft: Etwas Unerträgliches kann man nicht lange ertragen, und was von kurzer Dauer ist, kann nicht schwierig sein. Aber du sagst, daß es sehr schwierig ist. Dann überwinde diese Schwierigkeit mit dem Reichtum des Geistes! Oder schätzt du Gold auch höher als Tugend? Oder hast du in der Paradoxa Stoicorum noch nie gelesen, daß „nur der Weise reich ist“? Oder vielleicht gelesen, aber nicht darüber nachgedacht? Was viele Leser tun, die lesen, um kunstvoll darüber zu schwätzen, aber nicht um besser zu leben, weil es nicht um Wahrhaftigkeit geht, sondern um viel Wissen und Beredsamkeit, die doch fruchtlos bleiben.

Petrarcameister - Von der Armut

Für die Illustration des Themas hat Sebastian Brant dem Petrarca-Meister wieder einen Holzschnitt des jungen Albrecht Dürer in seinem „Narrenschiff“ vorweisen können, der dort bei dem Kapitel „Von Bettelern“ steht. Doch hat der Petrarca-Meister wenig genug aus der Vorlage entnommen. Vielleicht hat ihn der Esel mit den Seitentaschen zum Transport der Kinder, wie ihn Dürer gezeichnet hatte, zu seiner ähnlichen Darstellung angeregt. Der Gehalt der Darstellung aber ist völlig anders geworden. Die Armen sind beim Petrarca-Meister keine verächtlichen Betrüger, wie es Brants Text im „Narrenschiff“ und Dürers Narrenkappe darzutun suchen, sondern es ist armes, notleidendes Volk, wie es damals in Scharen die Lande durchzog und die Städte überschwemmte. Der Verzweifelte an der Tür, die Frau, die den Esel führt, die Krüppelfamilie an der Spitze des kläglichen Zuges sind Erscheinungen, wie sie aus den Stadtchroniken des frühen 16. Jahrhunderts oder aus Butzbachs „Wanderbüchlein“ von 1505 literarisch überliefert sind, aber von der abendländischen Kunst noch nicht in dieser eindringlichen Weise dargestellt worden waren. Man wird indes die Verdienste des Künstlers nicht in der Tatsache allein sehen, daß er diese Entwurzelten und unverschuldet Unglücklichen dargestellt hat, sondern wird hervorzuheben haben, daß er die Bettler in seinem Querschnitt durch das Leben seiner Zeit nicht vergessen hat, daß er mit Recht der Meinung war, ohne sie sei das Bild seiner Zeit nicht vollständig. Er stellt die Bettler in seinem Bild in Gegensatz zu denen, die freiwillig auf irdisches Gut verzichtet haben. Das sind die bettelnden Nonnen, Mönche und Pilger im Hintergrund des Marktplatzes, zu denen sich noch Büßer gesellen, die Dokumente vorzuweisen haben, mit denen sie auf Mildtätigkeit Anspruch erheben können.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht könnte dieses Bild auf die vorhergehenden aufbauen, in denen der Mensch noch in einer lebendigen Natur steht, sie aber als unedel und schändlich betrachtet. Deshalb sucht er nach dem Edlen und versucht, sich aus der Natur zu erheben. Was daraus werden kann, wenn sich der Geist von der lebendigen Natur und ihrer Vielfalt abwendet, sieht man nun in diesem Bild der Armut. Er beginnt, sich Häuser aus toten Steinen zu bauen, um sich darin einzuschließen und materiellen Reichtum anzusammeln. Das ist der Hunger und die unersättliche Gier des Ichbewußtseins, so daß sich der Mensch aus der Natur in künstliche Städte zurückzieht, die eintönig von toten Steinen gepflastert und von dicken Mauern umgeben sind, wie im Bild zu sehen ist. Damit nimmt sich der Geist mehr, als die Natur gibt, degeneriert und fällt in die Armut, wie man im Vordergrund sieht, daß die Männer krank werden, hinken und am Stock gehen. Mutter Natur gibt zwar immer weiter Leben, aber der Geist wendet sich ab, läßt Ehefrau mit Kind bettelnd am Wegesrand sitzen und klopft lieber an die Türen der Stadtmenschen. So führt nun Mutter Natur die Zügel unseres Tierwesens, das ihre Kinder trägt, welche Zügel eigentlich ihr Ehemann als Geist und vor allem als Vernunft ergreifen sollte. Dagegen sieht man im Hintergrund Pilger, in deren Mitte eine Frau sitzt, vielleicht sogar eine Heilige, abgemagert und mit geflicktem Kleid, die uns an Maria erinnert, die als natürliche Mutter das Göttliche geboren hat. Sie ist auf dem linken Auge blind, wie auch die beiden Pilger auf der rechten Seite mit der Bettelschale, und sozusagen nur auf dem „rechten“ Auge sehend, so daß sie weltliche Armut, natürliche Entbehrung und körperliche Krankheit mit dem inneren Blick zum Göttlichen gerichtet ertragen können. Das ist ein ganz anderer Weg der Armut, welche uns Menschen zu diesem Edlen führen kann, das wir in der Welt suchen. Aber nicht mit den toten Steinen der Städte, in die wir uns einmauern, sondern mit dem edlen „Stein der Weisen“, an dem die Armen im Vordergrund achtlos vorbeigehen.

2.9. Von erlittenen Verlusten

Schmerz: Die Glücksgöttin Fortuna hat mir allen Reichtum geraubt.

Vernunft: Sie hat dir kein Unrecht getan, sondern nur genommen, was ihr gehört. Es ist eine altbekannte Art von Undankbarkeit, zu vergessen, was du empfangen hast, und nur daran zu denken, was dir genommen wurde. Daher ist dein Dank so klein und kalt, aber deine Klagen sind groß und heiß.

Schmerz: Heftiges Unglück hat mir sogar das Lebensnotwendige geraubt.

Vernunft: Niemand kann das Lebensnotwendige vorenthalten, denn es gibt kaum etwas, ohne das man nicht gut leben kann. Aber ich sage „gut leben“, nicht wollüstig, überheblich und ungezügelt, sondern vernünftig, nüchtern und ehrenhaft. Denn das sind Eigenschaften, über welche die Glücksgöttin keine Macht hat, so übermächtig sie auch erscheinen mag. Zweifellos kann die menschliche Gier weder durch alles Gold der Erde befriedigt werden, noch durch allen Glanz der Edelsteine oder den Überfluß aller vorstellbaren Dinge. Dagegen braucht es aber nur sehr wenig, um die natürlichen Bedürfnisse des Menschen zu befriedigen, die bei Bedarf durch leichte Arbeit mit der Zunge oder den Händen erreicht werden können. Denn die Tugend wird durch wenig befriedigt, aber nichts genügt dem Laster.

Schmerz: Das habgierige Schicksal verweigert mir sogar die notwendige Nahrung und Kleidung.

Vernunft: Dann mußt du diese woanders finden. Tugend ist treuer als Glück und verweigert nur das, was dir schaden würde, wenn du es erhältst, so daß es dir nützlich ist, das Schädliche verloren zu haben. Die Tugend zögert nie, aber übereilt auch nichts, zieht nie ihre helfende Hand zurück, runzelt nie die Stirn, zieht nie hochmütig eine Augenbraue hoch, verachtet niemanden, verläßt niemanden, betrügt niemanden, wütet nicht und wird nicht ärgerlich, ändert sich nie, ist immer eins und damit überall. Sie wird angenehmer mit jedem Tag, an dem man sie schmeckt, und schöner, je näher man sie betrachtet. Um wirklich reich zu werden, bitte ich dich darum, sie nicht zu meiden oder abzulehnen, so sehr sie dich auch übt. Denn die erste Bekanntschaft mit der Tugend ist schwer, aber dann wird sie leicht, angenehm und sanft. Und sobald du diese Tugend erreicht hast, wirst du keine Armut mehr spüren.

Schmerz: Das Unglück hat mich aber all meiner Güter beraubt.

Vernunft: Deine Meinung täuscht dich, was ein allgemeiner Mangel der Menschen ist. Dies sind nicht „deine Güter“, und selbst wenn wir sie so nennen, sind sie nicht dein, sondern das, was du nach der Gewohnheit des Volkes für dein Eigentum hieltest. Ich bin überrascht, daß du immer noch nicht verstanden hast, daß sie jemand anderem gehören!

Schmerz: Das Unglück hat mich nackt und bedürftig zurückgelassen.

Vernunft: Dann wird dich die Tugend kleiden, wenn du dich nicht weigerst, und wird dich reich machen, es sei denn, du ziehst goldene und purpurne Roben dem Kleid eines edlen Geistes vor. Wenn das der Fall ist, dann würde ich sagen, daß du tatsächlich nackt und bedürftig bist.

Schmerz: Ich bin niemals sicher vor den Angriffen des Unglücks und den Problemen der Armut, egal was ich versuche.

Vernunft: Überrascht dich das? Alle deine Kunstgriffe und Waffen, mit denen du denkst, dich verteidigen zu können, sind doch in den Händen deines Feindes. Er hält den Speer, und die Spitze ist auf dich gerichtet. Wenn du meinen Rat willst, dann kümmere dich nicht darum, tue etwas anderes und wende deinen Geist auf das, was nicht vom Schicksal bestimmt wird. Tugend wird nicht durch Reichtum erlangt, sondern Reichtum durch Tugend. Tugend ist die beste Verteidigung gegen jede Art von Unglück und auch gegen Armut.

Hast du nicht die Geschichte von Aristippus gelesen? Er erlitt vor der Küste von Rhodos Schiffbruch, nackt und ohne all die Dinge, die das Glück geben oder das Unglück nehmen kann. Als er sich umsah, beeindruckt von der Fremdartigkeit des Ortes, fielen seine Augen auf einige Spuren im Sand. Er rief seinen Gefährten zu und sprach tröstend: „Seid guten Mutes! Wir sind nicht in einer verlassenen Gegend, denn ich sehe die Spuren von Menschen.“ Nachdem er die Stadt betreten hatte, eilte er direkt zur Schule der Gelehrten, erntete Bewunderung für seine Debatten mit den Philosophen und später die Freundschaft der Adligen, die ihm Geschenke machten und auch Essen, Kleidung und notwendige Lebensmittel für ihn und seine Gefährten bereitstellten. Als sie (die Gefährten) Rhodos verlassen wollten, fragten sie ihn, was sie den Leuten zu Hause sagen sollten. Und er bat sie, genau dies zu sagen: „Versorgt eure Kinder mit Gütern, die bei einem Schiffbruch nicht zugrunde gehen und auch von den Stürmen, die ihr jetzt auf See, an Land oder in Kriegen erlebt, niemals genommen werden.“

Schmerz: Mit meinem Besitz verlor ich auch allen Mut.

Vernunft: Das erste macht dich nur leichter, aber das zweite macht dich völlig hilflos und elend. Wie den Rat des Aristippus hast du wohl auch gelesen, was Theophrastus gesagt hat. Aber was nützt das Lesen, wenn man sich nicht erinnert und es in die Tat umsetzt!

Schmerz: Ich wurde meines Hauses, meiner Familie, aller Notwendigkeiten und allen Schmuckes beraubt. Was soll ich tun? Wohin soll ich mich wenden?

Vernunft: Wende dich den Reichtümern zu, die dir nicht genommen werden können, die dich überallhin begleiten und dich wahrhaft reich und edel machen! Hier, so scheint es mir, muß ich deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Die Aussage von Theophrastus, die ich meinte, lautet so: „Der Weise ist als einziger kein Fremder in fremden Ländern, und nachdem er Verwandte und Vertraute verloren hat, findet er immer noch Freunde. Er ist ein Bürger in jedem Staat und verachtet furchtlos die unangenehmen Seiten des Unglücks. Anderseits betritt der Mann, der glaubt, eher durch Glück als durch Weisheit gestärkt und beschützt zu sein, sehr schlüpfrige Pfade und kämpft mit einem vergänglichen und machtlosen Leben.“

Schmerz: Ich habe auch alles verloren, was mein Vater mir hinterlassen hat. Welchen Rat sollte ich annehmen?

Vernunft: Dein Erbe ist doch zweifach: Eines, das aus verderblichen Gütern besteht und vom Vermögen regiert wird. Und das andere, das aus Tugend und Weisheit besteht und soweit vom Reich der Glücksgöttin entfernt ist, daß sie ihm nichts anhaben kann. Dies ist das Erbe, das die liebevollsten aller Väter ihren Kindern hinterlassen, ein Erbe, das, wenn es nicht verweigert wird, diejenigen, die es besitzen, bis an ihr Lebensende und darüber hinaus schmückt, nicht nur so gut wie das Erbe der Glücksgöttin, sondern viel lebendiger und dauerhafter. Als ausnahmslos alle griechischen Städte die Kinder gesetzlich zum Unterhalt ihrer Eltern verpflichteten, verfügte die Stadt Athen, diese edle Mutter der edlen Moral, Beredsamkeit und Gesetze, daß nur diejenigen Eltern dieses Recht erhalten sollen, die ihre Kinder zu freien (weisen und tugendhaften) Menschen erzogen hatten, denn nur sie haben ihren Kindern ein verläßliches Erbe hinterlassen.

Schmerz: Mir fehlt aber so vieles, was ich zum Leben brauche.

Vernunft: Wer nur wenig braucht, wie kann dem vieles fehlen? Wie soll ich das verstehen, daß dir „vieles fehlt“? Es fehlt wohl deiner (unersättlichen) Begierde, und das bedeutet, daß dir nicht nur viel fehlt, sondern alles, denn du kannst weder behalten, was du hast, noch ergreifen, was du begehrst. Und das bedeutet in beiden Fällen Elend und Mangel.

Schmerz: Ich lebe wirklich in bitterer Armut.

Vernunft: Dann tröste dich mit so großen und strahlenden Gefährten wie Valerius Publicola, einem Begründer der römischen Freiheit, oder Menenius Agrippa, diesem Verfechter des Friedens. Keiner von ihnen hatte so viel Geld, um auch nur beerdigt zu werden, so daß die Kosten aus öffentlichen Mitteln gedeckt werden mußten. Aemilius Paulus, der Sieger über den mazedonischen König, der eines der ältesten und berühmtesten Königreiche besiegte, war reich an Ruhm, aber so arm an Geld, daß sein Besitz nicht ausgereicht hätte, wenn nicht das kleine Ackerland dieses großen Mannes verkauft worden wäre, um die Mitgift seiner Frau zurückzuzahlen (als er verstorben war). Atilius Regulus, Gnaeus Scipio und Quintius Cincinnatus, die allesamt Verteidiger des Römischen Reiches waren, hatten so wenig persönliche Mittel, daß der erste, der am Feldzug in Afrika beteiligt war, und der zweite, der in Spanien kämpfte, gezwungen waren, im Senat ein Gesuch für ihre Entlassung einzureichen, weil der einzige Bedienstete von Regulus gestorben war und Scipios Tochter eine Mitgift brauchte. Und sie wären entlassen worden, wenn die Senatoren nicht entschieden hätten, daß der Republik besser gedient wäre, wenn sie die Armut dieser herausragenden Bürger lindern würden. In einer Zeit extremer Gefahr beschlossen der Senat und das Volk von Rom dem Quintius, der nun seine vier Morgen Land pflügte, sogar kaiserliche Befugnisse zu übertragen. Zu diesen kannst du auch Curius hinzufügen, der so reich war, daß er einen kleinen Garten besaß, und Fabricius, ein Potentat mit noch weniger. Beide verschmähten reiche Bestechungsgelder und waren nur reich an Schwert, Händen und Verstand, mit denen sie einen griechischen König und den mächtigsten Stamm Italiens besiegten und sich als unangreifbar und unbesiegbar erwiesen, sowohl durch Gold als auch durch Stahl.

Aber warum von einzelnen sprechen, wenn das ganze römische Gemeinwesen, dieser bemerkenswerte Urquell und das Muster aller Geschichte, nur so lange gut war, wie es arm war, was ich bereits gesagt habe. Aber Nero, überwältigt von Zügellosigkeit und Verdorbenheit, konnte seine Besitztümer nicht mehr messen oder zählen. Und Varius Elagabalus, der degenerierteste und verdorbenste aller Menschen und eine Schande seines Reiches, konnte sich nicht einmal herablassen, den Kot seiner Gedärme in etwas anderes als einen goldenen Topf zu entleeren. Über ihn zu erzählen oder zu hören ist ganz und gar abstoßend, aber wegen der abscheulichen Gier der Sterblichen sollte er nicht stillschweigend ignoriert werden. Er tat dies sogar im vollen Bewußtsein der Tatsache, daß nicht nur die Mahlzeiten der oben erwähnten großartigen Männer, sondern sogar die Opfergaben für die Götter auf irdenen Schalen serviert wurden. Oh elende Stadt, deren Schicksal es war, in solch verdorbene Hände zu fallen! Oh Gold, du erniedrigende Begierde des Geistes, welche die letzte Hoffnung und das Ziel des menschlichen Leidens ist, befleckt durch Mißbrauch, der Augen und Verstand betäubt! Ich würde seine Tat wohl loben und sie zumindest nicht anprangern, wenn sie von einer vernünftigen Person begangen worden wäre, da es unmöglich einen passenderen Spott über diese obszöne menschliche Verirrung geben kann. Aber wer wagt es heutzutage noch zu leugnen, daß Reichtümer wunderbar und äußerst begehrenswert sind, wenn jeder mit Stahl und List um sie wetteifert und das Beste vernachlässigt, während er versucht, das Schlimmste im Überfluß zu haben?

Schmerz: Ich führe aber ein Leben in Armut und Mühsal.

Vernunft: Auch Cleanthes sah sich durch quälende Armut gezwungen, an einem Brunnen zu arbeiten und Pflanzen zu wässern. Und Plautus drehte mit seinen Händen die schwere Mühle. Wie groß war der Erstere als Philosoph, und wie groß der Zweite als Dichter! Und doch war der eine ein armer Gärtner und der andere ein armer Müller. Aber bei beiden war die Kraft des Geistes so groß, daß sie ihre Freizeit nicht dem Müßiggang widmeten, sondern philosophischer Überlegungen und dem Schreiben von Komödien, mit denen sie sogar noch etwas Geld verdienen konnten. Auch Lactantius Firmianus war ein Mann von großer Gelehrsamkeit und Beredsamkeit unter seinesgleichen, diente sogar als Lehrer für den Sohn des Kaisers, aber fristete seinen Lebensunterhalt in erbärmlicher Armut, ohne alles, selbst die einfachsten Besitztümer. Auch Horaz wurde arm geboren, Pacuvius lebte mittellos, sowie Statius, und jeder von ihnen verkaufte seine Gedichte, um etwas zu essen zu haben. Sogar Virgil war eine Zeitlang mittellos, bis ihm sein Talent im Gegensatz zu den anderen viel Geld einbrachte. Und es gibt noch viele solcher Beispiele in allen Lebensbereichen, welche ich hier nicht alle nennen kann, die in ihrem Wunsch nach himmlischer Belohnung irdische Armut und sogar Hunger, Durst, Nacktheit und extreme Entbehrungen auf sich nahmen, und dies nicht nur gelassen, sondern in einem Geist großer Freude. Und wenn dich diese Beispiele der bescheidenen Erdlinge nicht beeindrucken, dann gibt es auch den Herrn des Himmels selbst (Christus). Er lebte arm, um durch sein Beispiel zu lehren, daß solche Armut der Weg ist, um wahren Reichtum zu erlangen. Er, der den Königen ihre Königreiche gibt, wurde arm geboren, lebte arm und starb nackt, und doch beugen sich alle Elemente vor ihm. Und du, oh elendes Geschöpf, hast so große Mühe, das Los zu ertragen, das dir dein Herr zuweist! Schämst du dich nicht deiner törichten Unverschämtheit? Wer an Ihn denkt und sich mit Tugend stärkt, wird auch in der Armut überaus reich sein, nichts begehren und vor allem niemals den weltlichen Reichtum eines Königs.

Schmerz: Ich habe aber keinerlei Reichtum.

Vernunft: Wie ein niederer und engstirniger Geist keinerlei Reichtum hat, so ist einem edlen und weiten Geist keinerlei Armut lästig. Der erste verläßt sich auf Fremdes, der zweite vertraut auf sich selbst (auf sein wahres Selbst). Auf dem Land eines anderen zu bauen, ist ein Verlust, aber auf sich selbst zu bauen, ist ein Gewinn.

Schmerz: Ich bin so schrecklich arm.

Vernunft: Wer sich an das Nötigste hält, kann niemals arm sein. Wenn du aber deinen Begierden nachgibst, kannst du niemals reich sein.

Schmerz: Erst wurde ich arm, und jetzt bin ich ein Bettler.

Vernunft: Das Glücksrad der Menschen zögert nicht, sondern wechselt schnell von größten Reichtümern zu extremer Armut, wie auch von extremer Entbehrung zu größtem Reichtum. Du hast vielleicht das Werk des Historikers Quintus Curtius über einen gewissen Abdalonymos gelesen, der auf Befehl oder vielmehr mit Erlaubnis Alexanders vom Gärtner zum König von Sidon erhoben wurde, und seine Verachtung für den königlichen Besitz machte ihn größer als das ganze Königreich. So hast du sicherlich auch von Romulus gelesen, der aus einer Bauernhütte stammte, um eine so große Stadt zu gründen und als erster die römische Krone erhielt. Und auch über den sechsten König, der auf denselben hohen Thron stieg, wie er aus den bescheidensten Verhältnissen kam und, wie einige glauben, sogar von Sklaven abstammte. Auch Alexander, Sohn des Königs Priamos, und Cyrus, der berühmteste der persischen Könige, mit etwas reicheren Anfängen unterschieden sich nicht wesentlich von Romulus. Bevor Gaius Marius, der viele Male römischer Konsul werden sollte, zu einem angesehenen Rang aufstieg, war er ein angeheuerter Pflüger und verbrachte seine frühen Jahre auf den Feldern. Und dann, nach so vielen Siegen und Triumphen und sieben Amtszeiten als Konsul, mußte er sich in den Sümpfen verstecken, wurde eingesperrt und mußte um ein kleines Stück Brot betteln. Auch Julius Cäsar, der ein Herr der ganzen Welt werden sollte und diese Herrschaft in seinem Testament an seine Nachfolger vererbte: War er nicht arm in seiner Jugend? Kannst du dich angesichts solcher Männer immer noch nicht entscheiden, ob du Reichtum begehren oder verachten solltest?

Schmerz: Ich bin so arm wie nie zuvor.

Vernunft: Das ist gut, dann kannst du auch demütiger, bereitwilliger und freier sein wie nie zuvor. Wer eine schwierige Reise vor sich hat, geht doch gern mit leichtem Gepäck. Mit dem Verlust der üblichen Besitztümer verlierst du auch die üblichen Ratten und Diebe, die unverschämten Diener und alles andere, was im Überfluß vorhanden ist, wo es Reichtümer gibt: die falschen Freundschaften, die hartnäckigen Parasiten und die große häusliche Horde, die dir ins Gesicht lächelt, aber dich hinter deinem Rücken verspottet und verleumdet. Kurz gesagt, wenn du die verlorenen Reichtümer mit den Ärgernissen vergleichst, die du damit verloren hast, mußt du doch zugeben, daß der Verlust dieses Reichtums in Wirklichkeit ein Gewinn war, ganz zu schweigen von der Sicherheit, Demut, Nüchternheit, Ruhe und Bescheidenheit, die mit der Armut einhergehen. Selbst wenn die Armut keinen anderen Vorteil bot, als dich vor dem Schwarm schmeichlerischer Lügner und der Tyrannei arroganter Diener zu befreien, ist dies Grund genug zur Erkenntnis, daß Armut kein Leiden, sondern so gewinnbringend ist, daß man versuchen sollte, sie zu finden.

Doch nun genug davon, denn deine Klagen sind übertrieben, was mich vielleicht wundern würde, wenn ich nicht längst bemerkt hätte, daß die meisten Menschen nichts bitterer und öfters beklagen. So ist für Menschen die Armut zwar das Beste, aber sie hassen sie am meisten.

Schmerz: Ich gehöre wirklich zu den Ärmsten in diesem Leben.

Vernunft: Dann wirst du im Tod um so glücklicher sein. Denn niemand war in diesem Leben jemals so arm, daß er sich im Sterben nicht wünschte, noch ärmer gelebt zu haben (weil das Loslassen sooo schwer ist).

Petrarcameister - Von erlittenen Verlusten

Bei der Illustration ist gar nicht einzusehen, warum die Besatzung des Schiffes die Hände ringt und ihre Habe über Bord wirft. Eine gefährliche Situation scheint in keiner Weise gegeben zu sein. Hier wird wieder vermerkt werden dürfen, daß der Petrarca-Meister mit der Schiffahrt nicht besonders Bescheid wußte. Das Bild des Schiffbruches als Illustration zu diesem Kapitel geht auf Angaben Sebastian Brants zurück, der ein Beispiel des Petrarca aufgenommen hat. Der weise Aristippus von Rhodos hatte Schiffbruch erlitten und Hab und Gut verloren. Während seine Gefährten ihr Unglück bejammerten, ging er in die Stadt Rhodos und erwarb dort durch seine geistigen Fähigkeiten wiederum Ehre und Gut. Seinen Gefährten aber, die er neu ausgestattet heimsandte, gab er den Rat, als Väter ihren Kindern solche Güter zu verschaffen, die weder durch Unglück noch durch Schiffbruch oder Krieg zerstört werden könnten. Dann wären im Schiff also die verzweifelten Gefährten, und Aristippos wäre in dem Ritter zu erkennen, der links auf dem Weg zu einer Stadt ist.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht kann man hier wieder das Körperschiff mit seiner Besatzung der Sinne, des Denkens usw. sehen, das wohl nun auf Grund gelaufen ist, also nicht mehr auf dem Meer oder Fluß des Lebens schwimmt, sondern trotz voller Segel an der Materie der Natur hängt. Da heißt es nun, Ballast abzuwerfen, und zwar alles, was zu entbehren ist, um das reine Leben zu retten, und das ist gewöhnlich sehr viel. Dann werden die Hände zum Gebet gefaltet oder zum Himmel erhoben, um sich dem Ewigen zuzuwenden, jenem höchsten Gut, das unvergänglich ist. Am Mast oder am Herz des Schiffes scheinen zwei zu diskutieren, vielleicht der ichhafte Verstand mit der ganzheitlichen Vernunft, ob diese Art der Entsagung wirklich zum Höchsten führt. Denn auch Christus sagt: „Selig sind die Armen, denn ihnen gehört das Himmelreich. (Matth. 5.3)“ Und all dieser „Ballast“ fällt zurück in das Meer des Lebens oder der Ursachen und wandelt sich wieder in eine lebendige Natur, wie rechts unten zu sehen ist. Der bewaffnete Ritter geht einen „anderen Weg“ nach links oben zu seinem materiellen Körperhaus, das in der grünen Natur erbaut wurde. Doch man sieht an der Rückseite, wie zwei Räuber das „Eigentum“ wegtragen, das wohl keine Waffe beschützen kann. Diese beiden Diebe erinnern uns an die weltlichen Gegensätze, die überall wirken. Das heißt, wo ein Plus ist, muß auch ein Minus sein, wo ein Gewinn ist, muß auch ein Verlust sein. Deshalb ist es wohl gut, das Plus abzubauen, damit auch das Minus schwindet und eine gewisse Ausgeglichenheit bzw. Harmonie entsteht wie ein Himmelreich.


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