Heilung von beiderlei Glück - Francesco Petrarca

2.40. Vom unwissenden Lehrer

Schmerz: Ich habe einen unwissenden Lehrer.

Vernunft: Obwohl eine unwissende Person niemanden wissend machen kann, aber es zweifellos das Kennzeichen eines gebildeten Mannes ist, daß er lehren kann, so kannst du doch unter einem unwissenden Lehrer entweder allein oder viel mehr noch mit Anleitung und Erleuchtung vom Himmel durch göttliche Eingebung lernen, um Ciceros Ausdruck zu gebrauchen. Es ist sogar unvorstellbar, wie jemand ohne diese ein weiser und guter Mensch werden könnte. Nicht nur die wahrhafte Religion sieht es so, sondern auch die Autoritäten der heidnischen Philosophie.

Schmerz: Ich höre widerwillig auf einen unwissenden Lehrer.

Vernunft: Dann höre um so bereitwilliger auf den himmlischen Lehrer, der dir die Ohren gegeben hat, aber nicht nur die äußerlichen, die du sehen kannst, sondern auch die unsichtbaren in deinem Geist. Höre auf Ihn, der den Menschen Wissen lehrt, wie es geschrieben steht (in Psalm 94.10). Wenn Er (im Inneren) schweigt, wird jeder sterbliche Lehrer, egal wie gelehrt, vergebens arbeiten.

Schmerz: Ich bin es leid, einen unwissenden Lehrer ertragen zu müssen.

Vernunft: Entweder du verläßt ihn und suchst dir einen anderen, oder du wendest dich dir selbst zu, eingedenk Epikurs, der zwar von Cicero oft verspottet, aber von Seneca für einen großen Mann gehalten wurde, welcher keinen unfähigen Lehrer hatte, sondern gar keinen, wie er selbst stolz erzählt. Denke auch daran, was Augustinus über sich selbst schreibt, dem zu mißtrauen Sünde wäre. Er sagt, daß er die Kategorien des Aristoteles, eines der schwierigsten Bücher, und alle freien Künste ohne Anleitung durch irgend jemanden verstanden hat, obwohl bereits das Erlernen einer einzigen Kunst als große Leistung für jeden Lehrer angesehen wird. Denke schließlich auch an Bernhard, einen Mann, der für seine Gelehrsamkeit und Heiligkeit berühmt war und alles Wissen, darin er jeden Gelehrten seiner Zeit übertraf, in den Wäldern und auf den Feldern erwarb, nicht durch menschliche Schulung, sondern durch Meditation und Gebet. Er sagte selbst, daß er niemals andere Lehrer als Eichen und Buchen hatte. Wenn so etwas geschehen war, warum sollte es nicht wieder geschehen? Und selbst wenn es nicht geschehen wäre, was haben die ersten Menschen getan, die keinen Lehrer hatten und auch keinen finden konnten? Durch konzentriertes Staunen, Nachdenken, Erheben und Vertiefen fanden sie Dinge, die wir heute trotz all unserer großartigen Lehrer kaum noch begreifen können. Trau dich und öffne dich dem Großen und Ganzen! Wenn dir ein sterblicher Lehrer fehlt, wende dich an den Ewigen, von dem alles kommt und der alles erschaffen hat, Schüler, Wissen und Lehrer.

Petrarcameister - Von einem unwissenden Lehrer

In einem schön gezeichneten Innenraum mit Butzenscheiben in den Fenstern belehrt der Narr als Magister vom Katheder herab aus einem Buch seine Schüler. Sein Magisterhut trägt Eselsohren mit Schellen, wie sie als Narrentracht seit langem bekannt und in den Illustrationen zu Brants „Narrenschiff“ ein für allemal festgelegt worden war. Die Schüler verspotten den Lehrer mit Handgesten, sie machen „Hörnchen“, indem sie Zeigefinger und kleinen Finger gegen ihn ausstrecken. Hier, wo sich Petrarcas Text mit dem des „Narrenschiffs“ eng berührt, sucht man unwillkürlich auch nach direkten Berührungen in der Illustration. Und doch gibt es keine. Obwohl dem Petrarca-Meister mit großer Wahrscheinlichkeit ein Exemplar des „Narrenschiffs“ zur Verfügung stand, hat ihn keine der Darstellungen eines dozierenden Narren oder Engels beeinflußt. Die Gruppe der lebhaften und klugen Schüler ist ebenso sein Eigentum wie die Gestalt des stur und mit lauter Stimme und stereotypen Handbewegungen vortragenden Narren, der den Spott der Schüler gar nicht bemerkt.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht geht es hier um das Problem der „weltlichen Unwissenheit“, das heißt, das begriffliche Verstandeswissen des Ichbewußtseins, das als trennendes Bewußtsein jegliches Wissen nur im Spiel der Gegensätze erfassen oder begreifen kann. Daher wir es „Verstandeswissen“ genannt, weil es bestimmte „Standpunkte“ des Betrachters gegenüber den Objekten vertritt und entsprechend abhängig ist. Es kann also nie etwas Ganzheitliches sein und damit nichts vollkommen Wahres, so daß man es auch „Unwissen“ nennt, also eine Unkenntnis über das Ganze und Wahre. Entsprechend sieht man auf dem Bild den unwissenden Verstand mit der Narrenkappe in seinem Körperhaus bzw. Mauerloch, wo „selbst das liebe Himmelslicht trüb durch bemalte Scheiben bricht (Goethe, Faust I)“. Dieser begriffliche Verstand hat sich durch das Ichbewußtsein stolz als Lehrer erhöht und schaut nun auf die körperlich-geistigen Prinzipien herab, die er unterscheidet und gegensätzlich betrachtet, von denen wir sieben im Bild sehen können, wie zum Beispiel die fünf Sinne mit dem Denken und der Vernunft. Hinter all denen steht natürlich eine ganzheitliche Geist-Natur als Quelle von allem Wissen, die sich nun offenbar über den begrenzten Verstand lustig macht, der mit vielen Worten und Buchstaben versucht, das wieder künstlich zusammenzusetzen, was er durch seine „gedanklichen Begriffe“ zuvor künstlich getrennt, verstanden und begriffen hat. Doch schon Aristoteles sagte: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ Auf dieses Spiel der Gegensätze könnten auch die Handgesten der „Teufels-Hörnchen“ hinweisen, von denen sich nur ein Schüler zurückhält, was die Vernunft sein sollte, die ohne Bücher oder zum Verstand aufzuschauen nur mit einem Finger deutet.

Zwar ist's mit der Gedankenfabrik
Wie mit einem Weber-Meisterstück,
Wo ein Tritt tausend Fäden regt,
Die Schifflein herüber hinüber schießen,
Die Fäden ungesehen fließen,
Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt.
Der Philosoph, der tritt herein
Und beweist Euch, es müßt so sein:
Das Erst wär so, das Zweite so,
Und drum das Dritt und Vierte so;
Und wenn das Erst und Zweit nicht wär,
Das Dritt und Viert wär nimmermehr.
Das preisen die Schüler allerorten,
Sind aber keine Weber geworden.
Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist heraus zu treiben,
Dann hat er die Teile in seiner Hand,
Fehlt, leider! nur das geistige Band.
Encheiresin naturae* nennt's die Chemie,
Spottet ihrer selbst und weiß nicht wie.
(Goethe, Faust I / *Ergreifen der Natur)

2.41. Vom unbelehrbaren und stolzen Schüler

Schmerz: Ich habe einen unbelehrbaren Schüler.

Vernunft: Damit verschwendest du deine Mühe, pflügst unfruchtbaren Sand und säst umsonst deine Samen aus: Die Natur wird nie besiegt.

Schmerz: Das Schicksal gab mir diesen unbelehrbaren Schüler.

Vernunft: Du bebaust unfruchtbaren Boden! Spann deine Ochsen aus, warum quälst du dich? Verschone ihn und dich selbst, denn es gibt so viele andere notwendige und unvermeidliche Aufgaben. Es ist Torheit, sich um Unnötiges zu sorgen.

Schmerz: Ich habe einen Schüler, der mit Büchern nicht belehrbar ist.

Vernunft: Wenn er nach Tugend strebt, dann hilf ihm dazu, und du wirst ihn besser als mit allen Künsten bereichert haben. Aber wenn er beides nicht kann, dann laß ihn in Ruhe, ansonsten versuchst du nur, Wasser in einen undichten Krug zu gießen, das darin nicht bleiben wird und dich in ständiger Bemühung erschöpft. Stell es dir so vor: Alle, die in Tugend oder Gelehrsamkeit herausragend sind, es waren oder jemals sein werden, könnten nicht einen einzigen Menschen inspirieren, wenn nicht irgendwo in seiner Seele Funken wären, die durch den Geist des Lehrers erweckt und genährt werden können, so daß sie Feuer fangen, wenn sie durch edle Disziplin angefacht werden. Ansonsten bläst du nur in kalte Asche.

Schmerz: Ich habe einen widerspenstigen und stolzen Schüler.

Vernunft: Stolz ist ein Feind der Intelligenz (als wachsende Vernunft), weil sich ein stolzer Schüler weigert, sich unterzuordnen und nicht lernen will. Es widerstrebt ihm, seine Hand dem Herrscher zu unterwerfen, seinen Verstand der Belehrung, seine Ohren der Zurechtweisung und seinen Hals dem Joch.

Schmerz: Ich habe einen Schüler, der durch seinen Reichtum angeschwollen ist.

Vernunft: Wie eine Schwellung in der Nähe des Auges das Sehvermögen beeinträchtigt, so schadet ein angeschwollener Geist der Intelligenz. Um die nötige Disziplin zu erreichen, muß jede Ablenkung beruhigt werden. Du weißt ja, wie Alexander der Große, als er Mathematik studierte und auf einige komplizierte geometrische Theoreme stieß, über die Schwierigkeiten verärgert war und seinem Lehrer befahl, es einfacher zu erklären. Worauf der Lehrer antwortete „Diese Angelegenheiten sind für alle gleich schwierig!“, um jede stolze Hoffnung auf königliche Privilegien auszuschließen. Und das ist sicherlich so! Eigener Reichtum spielt bei der Entwicklung der Intelligenz (zur Vernunft) keine Rolle. Wer gelehrt und weise werden will, der vergißt besser seine eigene Macht.

Schmerz: Ich habe einen unhöflichen und arroganten Schüler.

Vernunft: Du segelst gegen die Strömung bei ungünstigem Wind. Wende die Segel und versuche, Land zu erreichen!

Schmerz: Ich habe einen stolzen und unverschämten Schüler.

Vernunft: Du bebaust nicht nur unfruchtbares Land, sondern nährst auch eine Schlange, züchtest giftigen Eisenhut und unterrichtest den Feind.

Schmerz: Ich belehre einen Schüler, der nicht auf mich hört.

Vernunft: Dann singst du für taube Ohren. Aber so ist es: Manche mögen lauten Lärm, andere mehr die Stille. In allen Dingen ist die Gewohnheit die stärkste Kraft. Schau nur, wie leise der Fischer und wie laut der Jäger (auf der Treibjagd) ist! Und der Lehrer in der Schule muß oft noch etwas lauter als (der Jäger) im Wald sein.

Schmerz: Ich habe einen wirklich sturen Schüler.

Vernunft: Die Sturheit eines Bären ist oft leichter zu überwinden als die eines Menschen. Es gibt Fabeln, in denen Wolf und Fuchs die Künste studieren. Aber die Gelehrigkeit des Elefanten ist keine erfundene Fabel, sondern eine Tatsache der Naturgeschichte. So könnte vielleicht die Sturheit deines Schülers durch behütetes Studieren gelöst werden. Denn für mich sind die Aufgaben eines Hirten und die eines Lehrers ungefähr die gleichen, und es wäre überraschend, wenn nicht beide davon profitieren könnten: Der eine hütet Tiere, der andere Kinder.

Petrarcameister - Vom unbelehrbaren und stolzen Schüler

Geschickt wechselt der Petrarca-Meister das Bühnenbild, wenn er nach dem törichten Lehrer nun den dummen und stolzen Schüler darstellt. Diesmal ist der Lehrer achtunggebietend: Ein kreisförmiger Baldachin gibt seinem Katheder fast den Rang eines Thrones. Er trägt die Mütze, die im „Glücksbuch“ stets die Tracht der „Weisen“ ist. Seine Schüler sitzen auf einer hufeisenförmigen Bank vor ihm. Sie sind aufmerksam, der eine schreibt, ein anderer memoriert, zwei aber schauen unwillig zu dem viel älteren Mitschüler auf, der mit verdrossener Miene vor dem Magister steht und von ihm direkt und eindringlich belehrt wird. Dieser Schüler ist mit seiner Schulterkette als Patriziersohn bezeichnet, seine Eitelkeit spricht aus dem Kranz auf seinem Haupt. Einem Zepter gleich hält er einen Fliegenwedel in den Händen, die Narrenkappe hat er auf den Schultern. - Die dargestellte Schule ist die Lateinschule der deutschen Städte. Hier empfingen Bürger- und Patriziersöhne die Vorbereitung für die Universität. Aber wie der Petrarca-Meister es darstellt, wurden dort Mühen auf unfähige und anmaßende Schüler um ihres Standes willen verschwendet, während die klugen Kinder darüber vernachlässigt wurden. Der Künstler zeigt eine Wirklichkeit, die Petrarcas Ratschlag, die faulen und eitlen Schüler laufen zu lassen, nicht entsprach.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht könnte man nun das stolze Ichbewußtsein sehen, das sich als Schüler im Kreis der sieben inneren Gestaltungen vor allem aus dem begrifflichen Denken erhoben hat, und das nun die Kette der eigensinnigen Anhaftung, die Narrenkappe des eigenwilligen Verstandes, den Lorbeerkranz der Eitelkeit und den Fliegenwedel wie einen Herrscherstab trägt, um alles Unangenehme fernzuhalten. Das ist das Wesen des Ichbewußtseins, das zwischen Mein und Dein sowie Gut und Böse unterscheidet. Der Lehrer wäre nun die ganzheitliche Vernunft mit der Weisheit vor dem großen Buch des Lebens. Aber dagegen wehrt sich das Ichbewußtsein bekanntlich wie ein „unbelehrbarer und sturer Schüler“, weil es sein „Eigentum“ und seine „Eigenschaft“ nicht verlieren will. Und doch ist wohl dieses ganze große Universum nur dazu geschaffen, um als unendlich geduldiger Lehrer dem Bewußtsein über Milliarden von Jahren für diese große Belehrung zu dienen, welche über das kleine und begrenzte Bücherwissen des begrifflichen Verstandes weit hinausgeht…

2.42. Von einer stolzen Stiefmutter

Schmerz: Ich habe eine Stiefmutter.

Vernunft: Du hast aber auch einen Vater. So sind nun einmal die menschlichen Angelegenheiten: Trauriges ist mit Erfreulichem und Bitteres mit Süßem verbunden, und ich wünschte, sie wären so ausgeglichen, daß nicht eines über das andere herrschen würde. Doch hier unten ist das Süße immer mit dem Bitteren verbunden.

Schmerz: Ich habe eine ungerechte Stiefmutter.

Vernunft: Du verwendest den Beinamen, den Virgil ihr gibt, keineswegs unpassend. Aber je ungerechter sie zu dir ist, desto gerechter solltest du ihr gegenüber sein.

Schmerz: Meine Stiefmutter ist überaus stolz.

Vernunft: Stolz ist eine Eigenschaft von Frauen und damit auch von Stiefmüttern. Doch wenn auch eine zweifache Ursache diese Wirkung hervorbringt, solltest du dich nicht allzusehr darüber wundern. Ertrage es lieber und erweise dich gleichzeitig als guter Sohn und guter Stiefsohn.

Schmerz: Sie ist aber sehr stolz.

Vernunft: Nichts überwindet Stolz besser als Demut.

Schmerz: Ich kann meine Stiefmutter nicht ausstehen.

Vernunft: Aber du kannst deinen Vater ausstehen. Und wenn du ihn wirklich liebst, wird es dir leichter fallen, sie zu ertragen.

Schmerz: Ich habe eine rücksichtslose und grausame Stiefmutter.

Vernunft: Sei freundlich und geduldig. Du schuldest deinem Vater kindliche Liebe, einer Frau Geduld und einer Stiefmutter Respekt.

Schmerz: Meine Stiefmutter ist wirklich unverschämt.

Vernunft: Dann solltest du nicht zulassen, daß ihre Unverschämtheit deine Freundlichkeit überwältigt. Für Freundlichkeit ist nichts zu schwer. Sie erhebt die Menschen zu Gott und neigt Gott den Menschen zu. Jedes Mal, wenn deine Stiefmutter schimpft, denke an deinen Vater und nicht an sie.

Schmerz: Meine Stiefmutter ist aber so ungerecht.

Vernunft: Weiblicher Ungerechtigkeit begegnet man besser mit Verachtung als mit Rache.

Schmerz: Ich muß eine grausame Stiefmutter ertragen.

Vernunft: Du sagst richtig „ertragen“, denn aufzugeben und eine schwache Frau nicht ertragen zu können, ist eines starken Mannes nicht würdig.

Schmerz: Meine Stiefmutter haßt mich.

Vernunft: Dann liebe sie! Seine Feinde zu lieben ist Gottes Gebot, und zu lieben, um geliebt zu werden, ist ein vernünftiger philosophischer Rat.

Schmerz: Diese Stiefmutter haßt mich so sehr.

Vernunft: Dann laß es dir genügen, daß sie deinen Vater liebt, denn der Sohn soll die Frau, die seinen Vater liebt, nicht hassen. Und wenn sie auch ihn haßt: Wen liebt sie dann? Wenn sie einen anderen Mann mehr liebt als ihren Ehemann, dann paß auf (und sei froh), daß du nicht dieser Mann bist!

Schmerz: Meine Stiefmutter haßt mich über alle Maßen.

Vernunft: Vielleicht ist der Haß deiner Stiefmutter ein geringeres Übel als eine übertriebene Liebe. Du hast ja sicherlich die Geschichte von Phaedra und Hippolytus gehört. Wahrlich, ein Haß, der nicht erwidert werden soll, sollte besänftig, geflohen oder ertragen werden. Es gibt keine vierte Alternative. Deine Beschwerden dienen nur dazu, den Haß zu schüren.

Petrarcameister - Von einer stolzen Stiefmutter

Bei der bildlichen Darstellung der Klage über eine Stiefmutter hat wieder Sebastian Brant Hilfe geleistet und Anregungen, die Petrarca in seinem Text gab, dem Künstler für das Bild erläutert. Da ist ein junger Edelmann dargestellt, der in pathetischer Verzweiflung vor seiner Stiefmutter die Hände ringt. Sie empfängt ihn, mit ihren eigenen beiden Kindern zur Seite, vor einer mit einem Baldachin überdeckten Sitzbank und hat zum Zeichen ihrer Herrschaft einen Stab in der Hand. Im Hintergrund reitet ein jugendliches Paar auf einem gewaltigen Widder an einer breiten Wasserfläche entlang. Petrarca hat im Text Phaedra genannt, die ihren Stiefsohn Hippolytos aus verschmähter Liebe verleumdete und zu Tode brachte. Der Petrarca-Meister hatte diese Sage schon einmal illustriert (Buch I, Kap. 72). Ob nun deshalb hier eine andere Szene aus der Argonautensage von Brant gewählt wurde, läßt sich nicht sagen. Dargestellt sind die Geschwister Phrixos und Helle. Der Sohn Phrixos sollte auf Rat seiner Stiefmutter Zeus geopfert werden. Er konnte jedoch mit seiner Schwester Helle auf einem Widder mit goldenem Vlies entfliehen, den ihre natürliche Mutter Nephele zu Hilfe gesandt hatte. Auf der Flucht stürzte Helle in die See und ertrank. Im Namen „Hellespont“ klingt noch heute diese Sage nach. In der Darstellung trägt das antike Sagenmotiv nicht zur Klarheit bei, weil der Betrachter die vordere und die rückwärtige Erzählung vergeblich in inhaltliche Verbindung zu bringen sucht.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht wird hier das altbekannte Problem der Stiefmutter angesprochen, wie es auch in vielen alten deutschen Märchen behandelt wird. Unsere wahre Mutter ist gestorben, und nun stehen wir einer Stiefmutter gegenüber, einer äußerlichen Natur, die ihre eigenen Kinder mitbringt, nämlich die äußerlichen Gegensätze von Männlich und Weiblich, wie im Bild als Bruder und Schwester dargestellt, und auch Gut und Böse sowie Liebe und Haß, wie der Schmerz von Petrarca berichtet. Dazu sehen wir den jungen Edelmann als heranwachsendes Ego mit dem begrifflichen Verstand, der nur in Gegensätzen denken kann, wie er um die Gunst der äußerlichen Natur fleht und ihre Feindlichkeit nicht ertragen kann. Im Hintergrund könnte der Lösungsweg des Problems angedeutet sein: Die Gegensätze von Männlich und Weiblich bzw. Geist und Natur sollten wieder vereint werden. Doch solange sie auf dem Tierwesen reiten, war es noch nicht die wahre Natur. Die äußerliche Natur muß erst wieder in ihren Ursprung zurückkehren, ins Wasser des ewigen Lebens bzw. Meer der Ursachen. Und erst, wenn der Geist seine wahre Natur findet und mit ihr verheiratet bzw. vereint wird, kann der Widder als eigenwilliges Tierwesen in uns geopfert und sein reines bzw. goldenes Wesen bewahrt werden. Dieses „goldene Vlies“ erinnert an das Prinzip von Wolle als eine ganzheitliche Verfilzung kleinster Fäden, die der Verstand so gern auseinanderreißt und zu den bekannten Fäden spinnt, daraus die Stricke geflochten werden, die das Bewußtsein binden.

2.43. Von der Härte des Vaters

Schmerz: Ich muß einen harten Vater ertragen.

Vernunft: Die Härte eines Vaters ist oft heilsam für den Sohn, während Weichheit (bzw. Verwöhnung) immer schädlich ist. Die Gelehrten raten, weder mit Verweisen noch mit der Rute zu sparen. Die Pflege des Geistes eines Heranwachsenden erfordert im Wesentlichen diese beiden, und wenn sie sich als unwirksam erweisen, weil die Krankheit noch schwerer ist, müssen auch strengere Mittel wie Verbannen oder Einsperren angewendet werden. In der Tat umfaßte die altrömische Praxis solche Strafen und sogar den Tod, die, wie wir lesen, nicht nur von den Konsuln und Generälen grausam auferlegt wurden, denen von den öffentlichen Räten unbestrittene Autorität verliehen wurde, sondern auch von jenen strengen Bürgern der alten Zeiten, denen ihre Heimat solche häusliche Gewalt über ihre Kinder verlieh. Unter ihnen ist die extreme Strenge von Cassius und Fulvius am berüchtigtsten. Betrachte die Härte deines Vaters unter diesem Blickwinkel, die wohl viel sanfter ist.

Schmerz: Ich muß wirklich einen harten Vater ertragen.

Vernunft: Und was glaubst du, was für einen Sohn er ertragen mußte, als du ein Kind warst und später als Jugendlicher? Es ist schwierig, über solche Dinge mit Menschen zu sprechen, die von sich eingenommen und eingebildet sind. Aber glaube mir, es gibt nichts Schwereres, als die eigenwilligen Launen der Jugend zu ertragen.

Schmerz: Ich muß aber die Härte meines Vaters ertragen.

Vernunft: Wie wäre es, wenn du ein abgehärteter Sohn wärst? Denn Härte wird durch Härte leichter zu ertragen. Die Narbe, die ein sanfter Chirurg hinterläßt, ist oft schlimmer als jede andere.

Schmerz: Mein Vater ist wirklich hart mit mir.

Vernunft: Wenn er dein wahrer Vater ist, dann liebt er dich. Und wenn er dich liebt, betrachtet er nicht das Angenehme für dich, sondern das, was gut für dich ist.

Schmerz: Mein Vater ist besonders hart mit mir.

Vernunft: Was dir so besonders hart erscheint, mag deinem Vater ratsam erscheinen, dessen Urteil zuverlässiger und dessen Handeln umsichtiger ist. Denn die Jugend sieht nur, was direkt vor ihren Augen steht, während ein reiferer Mensch viel mehr um sich herum sieht.

Schmerz: Mein Vater ist extrem hart.

Vernunft: Dann hüte dich davor, daß du ihn nicht noch härter machst und mit deinen verdorbenen Neigungen sein Leben betrübst, während er versucht, deinen Untergang zu verhindern.

Schmerz: Ich habe wirklich einen harten Vater.

Vernunft: Nur wer das Wohl seines Sohnes vernachlässigt, ist wirklich ein harter Vater, auch wenn er ein lächelndes Gesicht hat. Wer aber seinen Sohn durch Rat und Tat auf den richtigen Weg führt, ihn bald mit Worten und bald mit Taten antreibt, ihn tadelt, wenn er träge ist, und ihn zwingt, wenn er nicht will, der ist doch der mitfühlendste Vater, auch wenn er ein ernstes Gesicht hat. So hat sich oft die Strenge eines Vaters für seinen Sohn als viel vorteilhafter erwiesen als seine Sanftheit.

Schmerz: Mein Vater ist so ernst!

Vernunft: Das ernste Stirnrunzeln eines Vaters wird durch Eifer, Sorge, Angst und Alter gerechtfertigt.

Schmerz: Ich kann ihn kaum noch ertragen!

Vernunft: Was wäre, wenn du gezwungen wärst, die Härte eines anderen zu ertragen, was vielen Betroffenen wie dir zu Recht widerfahren ist? Oder du selbst zum Vater eines widerspenstigen Sohnes wirst? Dann würdest du verstehen, welch leichtes Joch dein Vater dir auferlegt hat und wie gerechtfertigt seine Entscheidungen waren. Im Moment verstehst du nur, was dir persönlich gefällt. Das ist alles, was du im Sinn hast. Aber das gewährt keine geistige Befriedigung, weil dich der Sinneskitzel täuscht.

Schmerz: Ich habe einen so harten Vater.

Vernunft: Obwohl er so hart ist, hat ihn die Natur zu deinem Richter gemacht, und nicht umgekehrt. Diese Ordnung spiegelt sich auch in der Gesetzgebung wider, welche die Kinder verurteilt, die ihre Eltern züchtigen. Du solltest dich also schämen, als Sohn gegen dieses Gesetz zu verstoßen. Erleide es, daß er dein Richter ist, der dich gezeugt und aufgezogen hat! Überlaß anderen, über ihn zu urteilen. Und wenn dein Vater auch kein Lob verdient, dann ehre ihn wenigstens mit respektvollem Schweigen.

Schmerz: Mein Vater hat einen harten Charakter.

Vernunft: Der Charakter deines Vaters ist nicht zu tadeln, sondern auszuhalten. Nichts Schlimmeres wird von Alexander erzählt: Ich will nicht sagen, daß er seinen Vater tadelte, aber er war überaus eifersüchtig auf das Lob, das sein Vater überall empfing. Man sollte also den Vater loben oder schweigen.

Schmerz: Ich habe einen harten Vater.

Vernunft: Dann solltest du ihm deine Liebe, deine Wahrhaftigkeit, deine Geduld und deinen Gehorsam beweisen. Keine Autorität auf Erden ist gerechter als die eines Vaters, und keine Unterordnung ehrenvoller als die eines Sohnes. Nichts gehört einem Vater mehr als sein Sohn, und nichts ist bitterer für ihn, als seinen Sohn zu verlieren. Du wurdest geboren, um dich unterzuordnen, aber willst durch dein überhebliches und verderbliches Begehren immer nur alles befehlen und bestimmen. So trennst du dich von deinem Vater und willst seine Autorität an dich reißen, zwei Übel, so daß durch jugendliche Unverschämtheit die allgemeine Ordnung der Welt gestört wird. Und wenn du daran gehindert wirst, beschwerst du dich über die harte Hand deines Vaters, dem du wohl alles erlauben würdest, wenn du nicht zufällig sein Sohn wärst. Der Mensch lernt, indem er sich an seinem Spiegelbild erfreut. Und so wirst auch du lernen, wenn du begonnen hast, väterliche Autorität auszuüben, wie schändlich es ist, diese zu begehren, bevor die rechte Zeit gekommen ist.

Schmerz: Ich habe einen strengen Vater.

Vernunft: Was ist, wenn seine Strenge von seiner Wahrhaftigkeit gefordert wird? Der Vater schuldet seinem Sohn eine strenge Zuneigung, und der Sohn seinem Vater pflichtbewußten Respekt und demütigen Gehorsam. Du hast doch in den Geschichtsbüchern und bei Cicero gelesen, wie Manlius Torquatus seinem Vater gegenüber sehr nachsichtig, aber bitter streng gegenüber seinem Sohn war, und vermutlich von der öffentlichen Meinung dafür angeklagt, aber von vertrauenswürdigen Richtern für beides hochgelobt wurde. So groß ist der Unterschied zwischen Meinungen.

Schmerz: Ich habe trotzdem einen harten Vater.

Vernunft: Ihr sterblichen Geschöpfe erkennt eure Segnungen erst, wenn es zu spät ist! Und sobald ihr anfangt, es zu begreifen, überschätzt ihr es. So verabscheut ihr die Gegenwart und beklagt das Verlorene. Ersteres durch zu viel Stolz, und letzteres durch zu viel Furcht. Anstatt anzuerkennen, daß das eine nach Dankbarkeit und das andere nach Geduld verlangt, beklagt ihr euch über beides, weil es euch immer an gutem Willen mangelt. Ist dies eure Art, Gott und Menschen zu danken?

Schmerz: Ich habe aber einen harten Vater.

Vernunft: Es wird die Zeit kommen, wo du nach diesem Vater seufzen wirst, aber er wird dir nicht antworten. Und er, der jetzt härter als Stein zu sein scheint, wird weicher als Flaum erscheinen.

Schmerz: Ich habe wirklich einen harten Vater.

Vernunft: Ja, man schätzt einen Vater nicht, solange man ihn hat.

Petrarcameister - Von der Härte des Vaters

Nun aber klagt der Schmerz: „Ich muß einen harten Vater ertragen.“ Wiederum hat Sebastian Brant gelehrte Angaben gemacht, die aber dem Petrarca-Meister nicht verständlich geworden sind. Brant blieb im Umkreis der Argonautensage, die soeben schon für die böse Stiefmutter das Beispiel abgegeben hatte. Die Vögel, die im Bild die Speisen eines Zornigen und ihn selbst beschmutzen, können nur die Harpyen sein, unter denen der blinde Seher Phineus zu leiden hatte. Nach einer Version, die die eigentliche Argonautensage nicht kennt, hatte Phineus auf Anstiften seiner zweiten Frau Idaea die Söhne seiner ersten Frau Cleopatra geblendet und war für diese Schandtat mit Blindheit, ewigem Greisentum und ewigem Hunger, verursacht durch die ekelerregenden Handlungen der Harpyen, bestraft worden. - Der Petrarca-Meister hätte dann die Tötung, nicht Blendung, der Söhne durch ihren Vater Phineus gezeichnet und hätte die Strafe durch die Harpyen, gleichsam als erklärendes Attribut, vorweggenommen. Aus der mittelalterlichen Naturlehre, wie sie im „Buch der Natur“ niedergelegt ist, käme dem „Arpia (Harpia)“ noch selbst die Eigenschaft unerhörter Grausamkeit zu. Sie spielten also zugleich auch die Rolle eines Sinnbildes. Die Nebenhandlung, wo ein Diener mit ruhiger Miene die entsetzt Herbeieilenden hindert, den unglücklichen Kindern zu helfen, bleibt freilich unverständlich.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Auch aus geistiger Sicht ist dieses Bild heutzutage schwer zu verstehen. Aber es gab Zeiten, in denen das Ziel der Kindererziehung nicht darin bestand, die egoistische Gier und Sucht im Interesse einer unersättlichen Marktwirtschaft zu fördern, sondern im Sinne der höheren Vernunft ernsthaft zu zügeln. So liest man noch in einem alten Buch über Kindererziehung von 1738: „Ihre Begierden aber, welche in der Tat denen Harpyen gleichkommen und jederzeit um so viel stärker und unersättlicher werden, je mehr man sie nährt, suche man durch Entziehung der sie nährenden Lust nach und nach zu entkräften und gleichsam auszuzehren.“ Damit wird auch dieses Bild verständlicher. Und wir könnten rechts das ungezügelte und von Gier und Sucht überwältigte Ego sehen, wie es mit seinem Säbel die heranwachsende Vernunft tötet und den Verstand blind macht und damit sich selbst auch jeglichen wahren Genuß in dieser Welt verdirbt, wie man an den stolzen und gierigen Raubvögeln sieht, die alles beschmutzen und verderben, bis zu den Gedanken im Kopf, was zu einer endlosen Unzufriedenheit führt. Links wäre dann der Vater, der seine beiden Kinder mit beständiger Härte und Strenge davon abhält, auf diese Ebene der Körperlichkeit aufzusteigen, und sie die Treppe wieder hinab zu Demut und Bescheidenheit drängt.

2.44. Von einem ungehorsamen Sohn

Schmerz: Ich habe einen ungehorsamen Sohn.

Vernunft: Es ist nur gerecht: Du wolltest deinen strengen Vater nicht haben und mußt jetzt einen ungehorsamen Sohn ertragen, eine viel schwerere Last! Ein einziges Wort, das von einem unverschämten Sohn nachlässig gesprochen wird, verwirrt und schmerzt mehr als ein strenger Vater, wie hart er auch immer war. Denn Letzterer gebraucht sein Recht, während Ersterer Unrecht tut.

Schmerz: Ich habe einen rebellischen Sohn.

Vernunft: Es ist wohl unverschämt, über rebellische Kinder zu klagen, wenn man selber die gerechten Weisungen der Älteren verachtet hat.

Schmerz: Ich habe aber einen sturen Sohn.

Vernunft: Jetzt verstehst du vielleicht, warum dir dein Vater so hart vorkam.

Schmerz: Ich muß einen unverschämten Sohn ertragen.

Vernunft: Liegt es nur am Alter, dann geht es vorbei. Die wilde Jugend hat bei vielen im Laufe der Zeit noch eine wunderliche Entwicklung gemacht und sich der Tugend zugewandt.

Schmerz: Ich habe aber einen rebellischen Sohn.

Vernunft: Damit bist du nicht allein. David, Mithridates, der König von Pontus, und Kaiser Severus hatten ebenfalls rebellische Söhne. Und viele Jahrhunderte später ging das Gerücht um, daß der Frieden des Königreichs Großbritannien durch die Rebellion eines jungen Prinzen gegen seinen Vater gestört wurde. Aber jeder beklagt vor allem seine eigenen Probleme und niemand die Probleme anderer oder die Probleme ganzer Nationen.

Schmerz: Mein Sohn ist so böse und rebellisch.

Vernunft: Das nimmt dir im Dienst als Vater zumindest die Angst, den Verlust deines Sohnes fürchten zu müssen.

Schmerz: Ich habe einen faulen und nichtsnutzigen Sohn!

Vernunft: Weißt du nicht, daß der große Held Scipio Africanus einen völlig andersartigen Sohn hatte, den er trotzdem liebte, obwohl er ganz entartet war? Damit will ich nicht behaupten, daß man demjenigen, den die Natur weniger begünstigt hat, eine größere Liebe schuldet, aber zumindest Mitgefühl. Wer reich an Tugenden ist, braucht dies nicht. Aber jene, denen die Tugenden fehlen, sind elend und darum sehr auf Mitgefühl angewiesen. Was dich betrifft, wenn dein Sohn keine Tugend hat, dann liebe ihn trotzdem, weil er dein Sohn ist, und darüber hinaus, weil er ein Mensch ist. Und wenn du keinen Grund findest, ihn zu lieben, dann übe Mitgefühl. Denn so wie die Strenge, so ist auch das Mitgefühl eine Eigenschaft des Vaters.

Schmerz: Mein Sohn führt ein mutwilliges Leben.

Vernunft: Eine unglückliche Last, und um so schwerer, weil man sie nicht abwerfen will, solange sie noch zu ertragen ist. So ertrage und korrigiere es nach Möglichkeit, damit du deinen Sohn entweder heilen oder zumindest die Pflicht des Vaters erfüllen kannst. Letzteres bist du ihm schuldig, und Ersteres wäre erstrebenswert.

Schmerz: Mein Sohn ist bösartig, brutal und widerspenstig.

Vernunft: Wenn sich Verfall und Wollust in Treulosigkeit und Grausamkeit entladen, sollte das giftige Tierwesen aus deinem Haus vertrieben werden. Du solltest dann nicht bedenken, wo es geboren wurde, sondern was geboren wurde. Du fütterst ja auch die Vögel, die im Wald geboren wurden, aber tötest die Skorpione, die im Haus geboren werden.

Schmerz: Ich habe wirklich einen bösartigen Sohn.

Vernunft: Ein weiser Mann entfernt gefährliche Dinge, bevor sie Schaden anrichten. Laß dich nicht vom Schatten des Mitgefühls täuschen! Dem Bösartigen (bzw. Teuflischen) gebührt kein Mitgefühl, denn aus diesem Mitgefühl wird bald eine Form von Grausamkeit. Doch solange es noch die geringste Hoffnung gibt, neige dich zum Mitgefühl und denke daran, daß du ein Vater und kein Richter bist. Und vergiß die Worte von Terenz nicht: „Für eine große Sünde genügt dem Vater eine kleine Strafe.“

Petrarcameister - Von einem ungehorsamen Sohn

Der Petrarca-Meister kommt wieder mit einer Szene aus dem Leben seiner Zeit zu Wort, in der er das Sittenbild zum Exempel erhebt. Ein wohlhabender Bürger von bescheidenem Auftreten macht seinem Sohn Vorhaltungen. Er rechnet ihm an den Fingern vor, was seine unsinnige Lebensführung kostet. Der Sohn ist als Stutzer mit Federhut, geschlitzter modischer Kleidung und langem Schwert dargestellt. Er spuckt dem Vater ins Gesicht und macht mit der rechten Hand eine obszöne Geste gegen ihn. Hinter ihm stehen zwei reich gekleidete Frauen, die an dem Konflikt zwischen Vater und Sohn scheinbar gar keinen Anteil nehmen, aber den Sohn fest an ihren Gängelbändern haben.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht können wir Vater Geist und Mutter Natur sehen, zwischen denen der „ungehorsame Sohn“ als Ichbewußtsein mit dem Federhut steht und den väterlichen Geist verschmäht, der zur höheren Vernunft führen soll. Das ist natürlich der Weg eigenwilliger Bindung, und entsprechend hängt dieses Bewußtsein beidseitig am Gängelbad, sowohl an der äußerlichen Natur der Mutter als auch an seiner innerlichen Natur, die man hier als seine Schwester erkennen könnte. Das Ganze geschieht in einem mächtig gemauerten Körperhaus mit einer breiten Treppe, die hinter der Mutter in den Hintergrund der weiten lebendigen Natur führt. Das Haus wird von der mächtigen Säule des Geistes hinter dem Vater gestützt, am Boden liegen die herabbröckelnden Steine als Zeichen der Vergänglichkeit, hinter der Schwester stehen unsere Sinne und Gedanken, die dieses Bild betrachten, und mitten drin befindet sich das überheblich stolze Ego, das sich gegen die Vernunft wehrt und vom Vater nicht zügeln lassen will.

2.45. Von streitsüchtigen Brüdern

Schmerz: Ich habe einen streitsüchtigen Bruder.

Vernunft: Und er, findet er in dir einen einträchtigen Bruder? Die brüderliche Eintracht, die euch zwei zu einem machen soll, wurde in zwei Teile geteilt, nicht nur getrennt, sondern gegensätzlich und gegeneinander im Krieg. Dies ist ein schreckliches und altes Übel, unter dem diese Welt und ihre Oberhäupter von Anfang an gelitten haben. Denn die Schande des Brudermords ist alt, wenn man an die Stadt Rom (mit Romulus und Remus) denkt, und noch viel älter in der Welt selbst (bis zu Kain und Abel). Warum wunderst du dich also über etwas, was du in so vielen tausenden Brüderpaaren findest und sogar jene betrifft, die für das erste Brüderpaar gehalten werden?

Schmerz: Ich habe einen sehr streitsüchtigen Bruder zu Hause.

Vernunft: Bist du überrascht, in einem großen Haus zu finden, was sich sogar in der Enge des Mutterleibs abspielt? Und während dies in jenen alten Tagen ein mysteriöses Omen für bevorstehende große Ereignisse war (1.Mose 25.21), lesen wir heute nicht nur von Brüdern, die sich stritten, sondern auch schreckliche Kriege gegeneinander führten. Ist es wunderlich, daß sie dann mit (äußerlichen) Waffen das tun, was sie schon vor ihrer Geburt taten?

Schmerz: Ich finde keine Gunst bei meinem Bruder.

Vernunft: Das solltest du längst in der Schule gelernt haben, anstatt es zu Hause erleben zu müssen, dann müßtest du dich nicht darüber beklagen und wundern.

Schmerz: Ich habe einen Bruder voller Haß und Streitsucht.

Vernunft: Wie es kaum etwas gibt, das der Bruderliebe gleichkommt, so gibt es nichts Unerbittlicheres als ihren einmal entfachten Haß und nichts Bitteres als ihren Neid, denn so erregt und entzündet die Gleichheit der Geschwister ihr Gemüt. Die Scham vor dem Unterliegen und die Begierde zum Überbieten werden durch die Erinnerungen an die gemeinsame Wiege noch verstärkt. Sobald sie den rechten Weg (der Bruderliebe) verlassen haben, erzeugt alles, was eigentlich Wohlwollen bringen sollte, nur noch Haß und Verachtung.

Dagegen wird das vor rebellischer Inbrunst kochende Herz natürlich am besten durch Nachsicht und Freundlichkeit besänftigt. Nur selten finden wir ein so heftiges und wildes Temperament, daß es schließlich nicht auf wahrhaft demütige Worte der Mäßigung sowie Taten der Sanftheit und Ehrlichkeit reagiert. Wenn du aber feststellst, daß diese erfolglos und wirkungslos sind oder du nicht fähig bist, so zu handeln, um deinen Bruder ehrlich und zum gegenseitigen Nutzen zu beruhigen, dann mußt du zum letzten Mittel greifen, bevor die Situation hoffnungslos wird, und das Böse an der Wurzel erkennen und der Gesellschaft mit ihm entsagen, welche die Mutter eurer Zwietracht ist. Das solltest du tun, ohne jemanden zu beleidigen, und du wirst sehen, daß deine Tugend und Ehre in dem Maße zunehmen, wie du deinen eigenen Rechten entsagst.

So werden die Stacheln der stolzen und übermütigen Begierde am besten durch freundliche und vergebende Großzügigkeit bekämpft. Das ist ein Gold, das den häuslichen Frieden und die brüderliche Liebe zurückkauft. Und nicht weniger wahr ist das alte Sprichwort: „Der allgegenwärtige Ansporn von Zwietracht und Krieg sind die beiden Pronomen von „Mein“ und „Dein“. Wenn sie aus dem menschlichen Leben entfernt werden könnten, würde es zweifellos friedlicher gelebt werden.“

Petrarcameister - Von streitsüchtigen Brüdern

Das Beispiel von Kain und Abel lag auf der Hand. Petrarca hat es angeführt, und der Petrarca-Meister wiederholt seine Darstellung vom 84. Kapitel des 1. Buches. Auch Romulus, der in der Mitte des Bildes mit der Königskrone auf dem Haupt seinen Bruder Remus enthauptet, ist im Text genannt und ebenfalls als Gegenbeispiel schon bekannt. Ebenso steht es mit den beiden schwergepanzerten Rittern rechts im Bild, die einander umbringen. Es sind die bösen Brüder zu Theben, die im 1. Buch in Kapitel 102, als von ungewissem Ausgang jedes Kampfes die Rede war, bereits als Beispiel gedient hatten. Die lose nebeneinander gestellten Szenen verbindet der Petrarca-Meister durch eine Landschaft, deren Frieden das gräßliche Geschehen kontrastierend unterstreicht. Die Darstellung eines Hausbaues rechts im Hintergrund mag sich auf die Brüder Romulus und Remus und auf die Erbauung Roms beziehen.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Wie wir aus geistiger Sicht im vorhergehenden Bild die Schwester als innerliche Natur betrachtet haben, so können wir nun im Bruder den innerlichen Geist sehen, der sich selbst Freund oder Feind sein kann. Diese Entwicklung läßt sich im Bild von links nach recht erkennen: Links das erste Brüderpaar, zwischen denen sich die Unzufriedenheit und damit der Neid erhob, so daß Kain als „Ackermann“ seinen leiblichen Bruder Abel als Hirten erschlug, wobei der Beruf des Hirten auch an die innere Zügelung und Bezähmung des Tierwesens erinnert. Vorn sieht man dann wie Romulus seinen Hirtenstab und die Tasche niederlegt, sich selber zum Ego-König krönt und damit den Hirten in sich selbst tötet, der diesen überheblichen Stolz zügeln sollte. Und rechts sieht man schließlich, wie sich das Ego selber tötet, trotz aller Waffen und Panzer, um sich zu schützen, denn es ist sich selbst zum Feind geworden und hat sich durch sein eigenwilliges Handeln selbst den Tod geschaffen. Dazwischen steht der Baum des Lebens, der zum Baum der natürlichen Gegensätze wurde. Und das Ganze geschieht in der Natur vor dem Hintergrund der geistigen Verkörperung bis zu den Bauwerken der Ego-Burgen, die fleißig immer höher und größer gebaut werden. So siegte schließlich die Hacke von Kain als das erste symbolische Werkzeug zum Zertrennen über den Hirtenstab als Symbol der Zügelung und Zähmung des Tierwesens, und aus der Hacke wurde ein Schwert, und aus dem Schwert wurden Rüstungen und viele weitere Waffen, Maschinen und Bauwerke, um das Ichbewußtsein in seiner Illusionsblase zu beschützen, wie man im Bild gut sehen kann.

2.46. Vom Verlust des Vaters

Schmerz: Ich habe meinen Vater verloren.

Vernunft: Es geschieht dir recht, daß du ihn jetzt, wenn er verloren ist, suchen mußt und nicht finden kannst, über den du dich in seiner Gegenwart so viel beschwert hast. Es ist nur gerecht, daß du nun vergeblich nach der Autorität seufzen mußt, die du so verabscheut hast.

Schmerz: Ich habe einen guten Vater verloren.

Vernunft: So hat er einen guten Sohn hinterlassen. Du solltest deinem alten Vater gratulieren, der endlich erreicht hat, was er immer wollte, nämlich diese Welt mit dem Wissen zu verlassen, daß du gut und lebendig bist.

Schmerz: Ich mußte mich von meinem guten Vater trennen.

Vernunft: Ein guter Sohn hat nichts mehr zu fürchten, als die Launen des Schicksals und sein eigenes Unglück, welches den Geist seines Vaters mit Traurigkeit überwältigen könnte. Doch jetzt kannst du sicher und nur auf eigenes Risiko leben, denn er wird nicht mehr von Gerüchten über dich angegriffen, dein Unglück wird ihm nicht das Herz brechen, deine Krankheit wird ihn nicht schwächen, und dein Tod wird ihn nicht zerstören.

Schmerz: Ich habe den liebevollsten aller Väter verloren.

Vernunft: So mußt du jetzt anfangen, dich um andere zu kümmern, weil er, der dich gepflegt hat, nicht mehr ist. Nun gib anderen die Treue und Zuneigung zurück, die dir gegeben wurde. Denn solche Schulden werden sehr selten an den zurückgegeben, dem sie geschuldet sind.

Schmerz: Ich bin traurig, weil ich meinen guten Vater verloren habe.

Vernunft: Wenn dir das Bewußtsein von Treue und Zuneigung bleibt, dann tröste dich mit diesem hellen Licht der Erinnerung! Du hast deinen Vater verehrt und dich ihm gegenüber immer pflichtbewußt verhalten, solange es möglich war. Nun ist dein Vater tot, aber deine Vaterliebe lebt. Wäre dem nicht so, dann müßte ich zugestehen, daß du einen Grund hast, für immer trauern zu müssen.

Schmerz: Mein Vater hat mich sterbend zurückgelassen.

Vernunft: Akzeptiere die Ordnung der Natur! Wer zuerst gekommen ist, geht auch zuerst. Er hat dich nicht verlassen, er ist dir nur vorausgegangen.

Schmerz: Ich habe aber meinen Vater verloren.

Vernunft: Du weißt noch nicht, was es bedeutet, einen Vater zu verlieren, es sei denn, du hast einen Sohn bekommen.

Petrarcameister - Vom Verlust des Vaters

Als Beispiel für die Verworfenheit der Söhne oder auch für die Verehrung, die einem toten Vater entgegenzubringen ist, wählt der Petrarca-Meister eine Erzählung aus dem „Gesta Romanorum“, die schon öfters als damals allgemein bekannte Quelle für Sagen und Legenden erwähnt wurde. Es ist die Erzählung von den drei Bastardsöhnen und dem leiblichen Sohn, denen nach dem Tod des Vaters geraten wird, auf den Leichnam zu schießen. Der machtvollste Schütze sollte dann das Reich erben. Die drei unrechten Söhne führen auch die grauenhafte Tat aus, der echte Sohn aber weigert sich und wird am Ende doch von den Fürsten des Landes um seiner Ehrfurcht willen auf den Thron gehoben. - Diese Szene ist auch sonst in der Kunst des frühen 16. Jahrhunderts dargestellt worden. Sie mag anderen Künstlern um der Bewegungsstudien willen willkommen gewesen sein, wenn sie nicht mehr die Marter des hl. Sebastian als Motiv wählen wollten. Vom Meister MZ, von Hans Baldung Grien und von Melchior Lorich haben sich solche Darstellungen erhalten. - Der Petrarca-Meister hat seine Zeichnung auf drei Söhne beschränkt: zwei haben geschossen, der dritte zerbricht seinen Bogen. Hinter ihm stehen die Hohen des Landes und bezeugen ihr Entsetzen vor der Tat der unrechten Söhne. Diese beiden stehen isoliert, die Pfeile im Leib des Vaters überschneiden die Gruppe und stellen auch linear den Zusammenhang zwischen Tat und Tätern her.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht könnte es hier darum gehen, daß das Ichbewußtsein versucht, den körperlich verstorbenen Vater auch geistig zu töten. Und wer das am besten kann, soll neuer Ego-König sein, weil er sich auch geistig am weitesten vom Vater und damit von der Gottheit bzw. Ganzheit abgetrennt hat. Entsprechend sieht man im Hintergrund, wie sich die Vernunft mit der Weisheit dem wahren Sohn zuwendet, und wie sich das Ego mit dem Verstand abwendet. Man sieht auch gut, wie der Vater bzw. Geist die tragende Säule des körperlichen Hauses ist, und ohne ihn der Thron links hinten im Bild leer bleibt, was man dann als „Tod des Körpers“ bezeichnet.

2.47. Vom Verlust der Mutter

Schmerz: Ich habe meine Mutter verloren.

Vernunft: Du hast immer noch eine andere Mutter, die du nicht verlieren kannst, selbst wenn du es wolltest. Du kommst von der Ersten, aber gehst nun weiter in der Zweiten. Die eine hat dir für ein paar Monate ein Haus gegeben, und die andere gibt es für viele Jahre. So hat dir die Erste deinen Körper gegeben, und die Zweite wird ihn dir wieder nehmen.

Schmerz: Meine sanfte Mutter ist gestorben.

Vernunft: Aber es bleibt eine strenge Mutter, die dich und die Mutter, die du so vermißt, in ein und demselben Schoß halten wird. In diesem Schoß wird deine Mutter bei dir sein, und wie wir glauben, aus diesem Schoß werdet ihr beide am Tag des Jüngsten Gerichts wieder geboren werden.

Schmerz: Meine gute Mutter hat mich verlassen.

Vernunft: Ja, sie eilte davon, aus Angst verlassen zu werden! Vermutlich war sie erleichtert, als ihr Tod kam und sie den deinen nicht erleben mußte, so daß sie dem entkommen konnte, was sie am meisten gefürchtet hatte.

Schmerz: Die Beste aller Mütter ist gestorben.

Vernunft: Sie ist glücklich gegangen, weil du am Leben bist. Wärst du ihr vorausgegangen, wäre sie, beherrscht von innigster Mutterliebe, mit tränenreicher Trauer gestorben.

Schmerz: Es ist schmerzlich, daß meine Mutter gestorben ist.

Vernunft: Sie mußte sterben, und auch du wirst es tun. Du solltest dich weder über den Tod noch die Ordnung der Welt beklagen.

Petrarcameister - Vom Verlust der Mutter

Für die Klage über den Tod der Mutter haben Brant und der Petrarca-Meister kein Beispiel aus der Geschichte oder Legende gesucht. Es wäre wohl zu weltfremd gewesen, dieses Thema anders als mit einem Bild aus der eigenen Zeit darzustellen. Es ist das Sterbelager einer Bürgersfrau gezeichnet. Der Mann, die Kinder und verwandte Frauen stehen um das Sterbebett und weinen und klagen. Eine Nonne mit einer Kerze leistet der Sterbenden geistlichen Beistand. Die Seele entflieht aus dem Mund in Gestalt eines kleinen Menschen. Der Ausdruck von Schmerz und Trauer ist vielfach abgestuft und mit großem Können dargestellt. - Bemerkenswert zu dem Thema sind einige Sätze in Petrarcas Text, aus denen echte Renaissancegesinnung und Abkehr vom Geist des Mittelalters spricht: „Du hast noch eine Mutter im Leben, die du nicht verlieren würdest, wenn du gleich gern wolltest. Aus der ersten Mutter gehst du in die andere, die erste Mutter hat dir gegeben eine Behausung weniger Monate, die andere wird dir geben ein Haus vieler Jahre. Die erste Mutter hat dir den Leib gegeben, die andere nimmt dir den Leib.“ Mit der zweiten Mutter meint Petrarca die Erde. Dieses Empfinden für die Verbundenheit des Menschen mit der Erde hat Petrarca durch seine dichterischen Werke besonders in das Bewußtsein seiner Mitmenschen und Nachstrebenden gehoben. Es ist dies eine der wichtigsten Gaben des Dichters und Humanisten Petrarca.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht kennen wir eine äußerliche Mutter als Natur und eine innerliche Mutter als Wasser des ewigen Lebens oder Meer der Ursachen, aus dem alles geboren und in der äußeren Natur verkörpert wird, und dahin auch alles wieder zurückkehrt, sozusagen in den „Schoß der Natur“ wie es Petrarca formuliert. Dazu ist die formhafte Natur immer auch mit dem gestaltenden Geist vereint und verbunden, wie man auf dem Bild auch vier Paare von Männlich und Weiblich sieht, die an die vier Elemente von Erde, Wasser, Luft und Feuer erinnern, die man damals noch als Grundprinzipien der Natur kannte. Entsprechend stellte man sich vor, daß dieser gestaltende Geist wie eine Seele oder ein Band den Körper verläßt, der dann ohne diese innere Bindung wieder in die Elemente zerfällt, was man auch „Verwesung“ nannte. Und über allem strahlt das Licht des Bewußtseins, das den ganzen Raum erleuchtet und sich auf verschiedenen Ebenen von den Gestaltungen der Geist-Natur ernährt. Sobald nun dieses Bewußtsein Geist und Natur voneinander trennt, wie in der Gestalt des „Ehemanns“ rechts im Vordergrund zu erkennen ist, erscheint auch das Phänomen des „Todes“ vor seinen Augen. Deshalb sagt man: „Trennung ist Tod, Verbindung ist Leben, und Vereinigung ist Überleben.“ Entsprechend steht ihm eine Nonne gegenüber, die den „geistlichen Beistand“ gibt, das geistige Licht hält und den großen Weg zur Vereinigung mit der Gottheit bzw. Ganzheit geht. Und zwischen ihnen liegt das äußerliche Werden und Vergehen von Mutter Natur.

2.48. Von einem verlorenen Sohn

Schmerz: Ich habe einen Sohn verloren!

Vernunft: Du solltest besser sagen „Ich habe ihn vorausgeschickt.“, denn du wirst ihm bald folgen, vielleicht heute, wer weiß, vielleicht noch in dieser Stunde. Es gibt keine Gewißheit über das Leben, aber sicherlich über den Tod. Ich sagte „du wirst ihm folgen“, aber hätte besser sagen sollen „du folgst ihm“, denn du folgst ihm beständig. Der Mensch kann im Laufe seines Lebens niemals stehenbleiben und geht immer Schritt für Schritt dem Tod entgegen. Es ist seltsam, denn ob er gebunden oder frei ist, ob er steht, läuft oder sitzt, ob er gesund oder krank ist, wacht oder schläft, der Mensch wird zu seinem Ziel getragen wie Passagiere auf einem Schiff, und so eilt er trotzdem weiter, auch wenn er sich nicht zu bewegen scheint.

Schmerz: Mich quält die Sehnsucht nach meinem verlorenen Sohn.

Vernunft: Beherrsche deinen Geist, und du wirst sogleich wiederfinden, was du vermißt! Wer seine Sehnsucht diese kleine Zeit nicht zurückhalten kann, verhält sich wie ein Kind oder eine Frau. Für einen Mann sollte nichts zu schwierig sein. Ich denke, du kennst die Worte, mit denen Sokrates bei Platon sowie Cato und Laelius bei Cicero solches Unglück trösten. Männer können in Tugend und Ruhm gleichermaßen herausragend sein und doch sehr unterschiedliche Hoffnungen in dieser Hinsicht haben. Du weißt auch, wie Aemilius Paulus und Cato selbst, wie Perikles und Xenophon (ein Mitschüler und Rivale von Plato unter Sokrates) und unzählige andere reagierten, als ihre Kinder starben. Auch ist dir jener Prophet und König nicht entgangen, der weinte, als sein Sohn krank war, aber nicht, als er starb, weil er wußte, daß die Klage über das Unwiderrufliche der absurden Torheit näher als jeglicher Weisheit wäre. (2.Sam. 12.15)

Zu diesen männlichen Beispielen gesellt sich zu Recht jene Frau aus Sparte, die in den historischen Berichten namenlos bleibt, aber nicht ohne gebührendes Lob. Als sie erfuhr, daß ihr Sohn im Kampf gefallen war, sagte sie: „Ich habe ihn geboren und so erzogen, daß er keine Angst hat, für sein Land zu sterben.“ Ihr an Mut ebenbürtig waren Livia und die ältere Cornelia, obwohl ihre Namen viel berühmter sind. Nachdem Livias erhabener Sohn, der auf dem besten Weg zum Imperium war, begraben worden war, hörte sie bald auf, um ihn zu trauern, vernachlässigte aber nie sein Andenken. Die andere Dame verlor viele ihrer Kinder, eigentlich sogar alle. Als sie aber einige sah, die vom Volk erschlagen und unbeerdigt zurückgelassen worden waren, antwortete sie den anderen Frauen, die sie bedauerten, bemitleideten und in weiblicher Weise ihr Los beklagten, daß sie nicht traurig, sondern glücklich sei, solche Söhne geboren zu haben: Eine tapfere Frau, unerschrocken in ihrem gegenwärtigen Elend und froh über die glückliche Vergangenheit, so daß sie entgegen der öffentlichen Meinung und dem üblichen Verhalten der Menschen in Not ihren Trost in vergangenem Glück und der Erinnerung an gute Zeiten fand. Sie war dankbar für das, was sie hatte, und gleichmütig über das, was sie verloren hatte, und allein schon deshalb würdig, solche wunderbaren Kinder gehabt zu haben. Obwohl sie eine Frau war, ertrug sie unerschütterlich die vielen Wunden, die ihr das Unglück zugefügt hatte. Und du, ein Mann, bist niedergeschlagen und traurig über eine einzige Wunde?

Schmerz: Ich habe aber meinen Sohn verloren.

Vernunft: Damit hast du auch viele Ängste und eine Quelle unendlicher Sorgen verloren, von denen du jetzt befreit bist. Sowohl Väter als auch Söhne müssen sterben, und nur der Tod kann einen Vater sorgenfrei machen.

Schmerz: Ich habe aber meinen Sohn verloren.

Vernunft: Wenn er gut war, brauchst du dich nicht um ihn zu sorgen, denn es geht ihm gut. Wenn er schlecht war, bist du einen los, der die Jahre gezählt hat, die du noch leben würdest, und der Fluch deines Alters war.

Schmerz: Ich habe aber meinen Sohn verloren.

Vernunft: Wenn er der Tugend verbunden war, dann sei froh, daß du ihn hattest. Wenn er dem Laster verfallen war, dann sei froh, daß du ihn verloren hast. So erkenne in beiden Fällen den Nutzen der Natur, entweder darin, was sie dir gegeben, oder darin, was sie dir genommen hat.

Schmerz: Der Tod hat mir meinen Sohn vor seiner Zeit geraubt.

Vernunft: Was jederzeit geschehen kann, geschieht nie vor seiner Zeit. Der Tod hat viele Möglichkeiten, sich jedem Alter zu nähern, aber vor allem unzählig viele, um sich den Jüngeren zu nähern.

Schmerz: Ich wurde nun ohne Sohn zurückgelassen.

Vernunft: Und damit ohne Ängste und Zittern! Jetzt gibt es niemanden mehr, der dir schlaflose Nächte und bange Tage bereitet, niemanden, für den du große und weitreichende Hoffnungen hegen mußt, niemanden, der erwartungsvoll auf deine grauen Haare und Falten schaut, sein Erbe zählt, über deine Ausgaben klagt und ängstlich wartet, bis du stirbst. Jetzt bist du von Sicherheit und Frieden umgeben, zwei unschätzbare Gaben, auch wenn sie der Tod noch bitter macht.

Schmerz: Ja, ich bin bitter niedergeschlagen durch den frühen Tod meines Sohnes.

Vernunft: Hast du noch nie von Anaxagoras* gehört? Hast du vergessen, daß du einen Sterblichen gezeugt hast? Oder beklagst du dich vielleicht, daß derjenige vorangegangen ist, der dir nachfolgen sollte? Bereits das Leben der Menschen ist in vielerlei Hinsicht unordentlich, und der Tod kennt noch weniger Ordnung. Während gebrechliche Alte aushalten, rennen junge Menschen in den Tod, kleine Kinder stolpern Hals über Kopf, und Säuglinge werden an der Schwelle zum Leben weggefegt: Der eine später, der andere früher, ob er nun gereift ist oder nicht, sie alle müssen sterben. Doch das Wesentliche ist: Unabhängig von Zeit und Alter ist der Sterbende, egal wie jung er ist, alt genug, um zu sterben. (* Als Anaxagoras vom Tod seines Sohnes hörte, antwortete er: „Du sagst mir nichts, was unerwartet oder neu für mich ist. Ich weiß, daß der, den ich gezeugt habe, sterblich war.“)

Schmerz: Ich weine um meinen toten Sohn.

Vernunft: Wenn du bei seinem Tod weinst, dann solltest du auch bei seiner Geburt weinen, denn damals begann er zu sterben, und jetzt ist er am Ziel. Aber gräme dich nicht über dein bitteres und sein gutes Los. Er hat seinen unsicheren Weg hinter sich, und du kannst ihn jetzt in Sicherheit sehen und brauchst dich nicht mehr um diese süße Last zu sorgen, oder um irgendeine andere, wie Virgil sagt.

Schmerz: Ja, mit meinem Sohn starb alles Süße im Leben.

Vernunft: Ich stimme zu, daß ein guter Sohn ein großer und süßer Trost für seinen Vater ist, aber auch voller Sorge und Beschwernis. Und so hindern uns die süßesten Dinge oft an der großen Liebe und unterdrücken das Wertvollste. Vielleicht stand dir dein Sohn für einen größeren und tieferen Geist im Wege. So bist du jetzt freier geworden, und so fliehe aus dieser Traurigkeit und erhebe dich! Die Weisen wissen, wie man das Gute aus dem Bösen hervorzieht.

Schmerz: Der Tod meines Sohnes hat mich so traurig gemacht.

Vernunft: Nun nutze den Rest deines Lebens! Du hast für ihn gelebt, und jetzt lebe selbst!

Petrarcameister - Von einem verlorenen Sohn

Nicht der „Verlorene Sohn“ des Gleichnisses Jesu ist gemeint, sondern die Klage: „Ich habe meinen Sohn verloren.“ Das Bild zu diesem Thema ist schwer zu deuten. Es öffnet sich der Blick in einen Palast. Eine junge Frau mit einer Krone steht am Bett eines Jünglings und ringt die Hände. Das Gemach ist reich mit Blumengirlanden geschmückt, sicher nicht als Sterbegemach. Unter der Treppe aber liegt ein König, die Krone neben sich, allein und verlassen im Sterben. Draußen vor dem Tor wird ein Jüngling, der mit den Haaren am Baum hängt, von einem Reiter erstochen. Diese Darstellung wird eindeutig als der Tod des Absalom nach dem Alten Testament zu bestimmen sein, der als Aufrührer gegen seinen Vater David getötet wurde (2.Sam. 18.9). Dann könnte weiter gedeutet werden, daß im Bett Amnon läge, Absaloms Bruder, der mit seiner und Absaloms Schwester Blutschande beging und deshalb von Absalom ermordet wurde. Dann hätte die entsetzte Königstochter, die kompositionell mit dem Jüngling im Bett so eng zusammengeschlossen ist, einen Sinn, und auch die Blumengirlanden hätten in dem „Hochzeitsgemach“ ihre tiefere Bedeutung. Der sterbende König in der Mitte der Komposition wäre dann David, von dem Petrarca sagt: „Auch jener Prophet und König ist dir nicht entgangen, der weinte, als sein Sohn krank war, aber nicht weinte, als er starb, weil er wußte, daß die Klage über das Unwiderrufliche der absurden Torheit näher als jeglicher Weisheit wäre.“ Der Petrarca-Meister hätte dann das Beispiel so aufgefaßt, daß sich die Söhne unwürdig zeigten, von ihrem Vater betrauert zu werden.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht erinnert uns das Bild doch sehr an das biblische Gleichnis vom „Verlorenen Sohn“, der symbolisch betrachtet in dieser Welt auf drei Arten stirbt: Links könnte man seinen Tod durch die äußerliche Natur sehen, wie er mit seinen Haaren bzw. Gedanken und Empfindungen am Ast der Eiche als Baum der natürlichen Gegensätze hängt und sein Herz vom Speer des Todes bzw. der Vergänglichkeit durchbohrt wird. Rechts wäre dann der Tod durch die innerliche Natur in Form seiner Schwester, die er durch Blutschande entehrt, sprich indem er sich in Begierde, Haß und Unwissenheit verliert. Und der sterbende König unter der Treppe wäre dann das Ego bzw. Ichbewußtsein als ein Tod, der durch die Trennung von der Gottheit bzw. Ganzheit geschieht, so daß er sich nicht erheben kann, um die Treppe bzw. Himmelsleiter zu ersteigen. Auf diese drei Arten verliert sich und stirbt ein Menschensohn in dieser Welt, wenn Christus bzw. die höhere Vernunft nicht in ihm geboren und zum König wird.

2.49. Vom tödlichen Sturz eines Kindes

Schmerz: Ich beklage den tödlichen Sturz meines kleinen Sohnes.

Vernunft: Es gibt nichts Menschliches, das man beklagen sollte, denn man sollte auf alles vorbereitet sein, was geschehen kann. Beklage also nicht den Sturz des kleinen Jungen, sondern deine eigene Unwissenheit und Vergeßlichkeit gegenüber dem Menschsein!

Schmerz: Ich beklage aber den elenden Tod meines kleinen Sohnes.

Vernunft: Es gibt keinen elenden Tod, solange ihm nicht der Tod der Seele folgt. Aber gegen diese Gefahr war das kleine Kind noch geschützt.

Schmerz: Mein Sohn ist bei einem schrecklichen Sturz umgekommen.

Vernunft: Welchen Unterschied macht es, wie er umkam, solange er nicht mit Schande befleckt umkam? Und das ist nicht möglich für jemanden, der ohne Sünde zugrunde geht.

Schmerz: Es war aber ein schrecklicher Sturz.

Vernunft: Archemorus starb durch die Zähne einer Schlange, andere durch die Milch einer schwangeren Amme und wiederum andere durch Krankheiten, die dieses zarte Alter häufiger befallen als ältere Menschen.

Schmerz: Es war ein schrecklicher Sturz, bei dem mein Kind umkam.

Vernunft: Für Unschuldige ist ein plötzlicher Tod zu wünschen, für Schuldige zu befürchten.

Schmerz: Mein Kind kam bei einem Sturz aus großer Höhe ums Leben.

Vernunft: Wer langsam stirbt, dem fällt der Tod oft schwerer, und das Leiden verlängert sich. Je kürzer der Schmerz, desto leichter ist er zu ertragen.

Schmerz: Mein Sohn ist aber durch einen grausamen Sturz umgekommen.

Vernunft: Hals über Kopf zu stolpern und hart zu Boden zu fallen, ist typisch für dieses Alter. Dein Sohn hat getan, was alle Kinder tun, obwohl nicht alle an ihren Stürzen sterben. Akzeptiere, daß er gestorben ist, weil er eines Tages sterben mußte, und er hat das Glück, jetzt gestorben zu sein, bevor er in die Übel dieses Lebens verstrickt wurde. Wie viele Übel es gibt, weiß jeder, der sie erlebt und beobachtet hat. Und es gibt wohl niemanden, der sie nicht erlebt hat, doch viele, die sie nicht beachten. So leben sie ihr Leben wie in einem Traum und erinnern sich nicht mehr an ihr Erwachen. Dein Kind ist unschuldig gestorben, und hätte es länger gelebt, wäre es vielleicht mit größter Schuld gestorben. Deshalb traure nicht um den, der in Sicherheit ist, der allen Bedrohungen des Unglücks entgangen ist und den Tod überwunden hat, der ihn vielleicht später überwältigt hätte!

Schmerz: Ein Wolf hat mein Kind gefressen!

Vernunft: Darüber beklagen sich auch die Würmer.

Schmerz: Der Wolf trug den kleinen Körper meines unglücklichen Kindes in seine Höhle.

Vernunft: Und glücklicherweise tragen die Engel die Seele des Kindes in den Himmel!

Petrarcameister - Vom tödlichen Sturz eines Kindes

Eine Mutter steht entsetzt, wie ihr kleines Kind zum Fenster herausstürzt. Am Brunnen ist eine andere Frau beim Wasserschöpfen dargestellt, und es liegt nahe, zu deuten, daß dies die Magd ist, die eigentlich auf das Kind hätte aufpassen sollen. Bei dieser Erklärung hätte dann der Petrarca-Meister ein Beispiel aus seiner Zeit gewählt, um die Klage über den plötzlichen Tod eines Sohnes zu illustrieren. Im Hintergrund, wo ein König anscheinend ein Kind von einem Turm herabwirft, wäre dann ein historisches oder sagenhaftes Beispiel für den gewaltsam verursachten Tod eines Sohnes zu suchen. Die Schlangen, die in dem Gebüsch links im Hintergrund einen Körper, wohl auch den eines Kindes, umschlingen, könnten zu der gleichen Erzählung gehören. Leider ist es bisher nicht gelungen, eine damals bekannte Fabel solchen Inhaltes ausfindig zu machen. Bei Petrarca findet sich in seinem Text keinerlei historischer Hinweis. Er vertritt mit dem Trost der Vernunft die heidnisch-stoische Weisheit: „Schneller, unversehener Tod ist nicht böse. Unschuldige sollten sich keinen anderen wünschen.“ Dabei versucht er freilich, seine Philosophie nicht gar zu sehr in Widerspruch zur christlichen Glaubenslehre zu setzen, die ja den plötzlichen Tod ohne Beichte und Sterbesakrament für ein schweres Unglück hielt. Deshalb schränkt Petrarca ein und sagt, nur „Unschuldige“ dürften sich solchen jähen Tod wünschen.

Soweit schreibt der Kunsthistoriker Walther Scheidig. Hinzuzufügen wäre, daß sich das Bild der Schlange mit dem Kind auf die Geschichte Archemorus beziehen könnte, der im Text erwähnt wird, und der König auf dem Turm erinnert an den Kindermörder Herodes. Aus geistiger Sicht läßt sich eine Entwicklung von links nach rechts zum Thema Tod und Unglück vor dem Hintergrund einer lebendigen Natur erkennen. Zuerst die „Schöpfung“ des Lebens durch die Natur aus dem tiefen Brunnen vom Wasser des Lebens. Dann wird das unschuldige Kind von der Ego-Schlange umschlungen, gebissen und vergiftet, und das gewachsene Ichbewußtsein als König auf seinem Ego-Turm tötet es. So fällt dieses Kind schließlich „kopfüber“ aus dem Körperhaus, was natürlich an das Christus-Kind erinnert, das in uns als Heiliger Geist bzw. ganzheitliche Vernunft wachsen und leben sollte. Entsprechend beklagt Mutter Natur dieses Unglück, weil der große Sinn und das Ziel ihrer Schöpfung wieder einmal nicht erreicht wurde. Doch sie gibt nicht auf, und immer wieder werden Kinder aus dem tiefen Brunnen des Lebens geschöpft, verkörpert und geboren.


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