Heilung von beiderlei Glück - Francesco Petrarca

2.80. Vom Verrat

Schmerz: Ich wurde von meinen Freunden verraten.

Vernunft: Ich glaube eher, du sprichst „von meinen Feinden“. Denn wenn sie wirklich deine Freunde sind, dann verraten sie dich nicht.

Schmerz: Ich wurde auch von meinen Familienmitgliedern verraten.

Vernunft: Dieser Begriff ist mehrdeutig. „Familienmitglied“ kann sowohl einen Freund, aber auch einen Feind bezeichnen, der dann die größte Bedrohung darstellt, der man im menschlichen Leben begegnen kann.

Schmerz: Ich wurde von denen verraten, denen ich am meisten vertraute.

Vernunft: Wer niemandem vertraut, wird selten betrogen. Je mächtiger ein Mann ist, desto weniger kann er jemandem sicher vertrauen, aber auf desto mehr Menschen muß er sich verlassen können. Daraus folgt, daß Verrat an der Tagesordnung ist, besonders wenn es um Könige geht, die für diese Krankheit anfälliger sind als alle anderen Menschen. Uns wird gesagt, daß Priamos von seinem eigenen Volk verraten wurde. Und so wurden auch Minos, Nisus, Aeethes, Agamemnon, Alexander und vor ihm Darius verraten. Auch Romulus, Tarquinius Priscus, Servius Tullius, Africanus Minor, der große Pompeius, Julius Cäsar und tausend andere wurden von ihren Landsleuten verraten, manche waren Könige und manche mehr als Könige. Aber warum spreche ich von denen, die verraten wurden, als ob es nur wenige wären? Wer ist nicht verraten worden, täglich in kleinen und großen Angelegenheiten? Es sei denn, es ist niemand da, der ihn verraten könnte. Die schlimmste Schande ist, daß sogar Christus verraten wurde und daß damit der König des Himmels selbst diesem Fluch der irdischen Könige nicht entkommen ist.

Schmerz: Ich bin verraten worden, und mich verletzt der Betrug mehr als seine lästigen Folgen.

Vernunft: Das ist gut und edel gesagt! Laut Cicero bemerkte auch Africanus, den ich gerade erwähnte, daß ihn der Gedanke an den Verrat unter seinen eigenen Verwandten mehr erschreckte als die Angst vor dem Tod. Doch weder Verrat noch Angst sollten dich übermäßig aufregen, denn so wie die Dinge liegen, ist es eine natürliche Sache, daß die Treulosigkeit des Verräters ihm süße Gewinne und Illusion bringt, und der Schmerz des Verratenen gewährt ihm bittere Verluste und Wahrhaftigkeit. Nun wähle, was dir gefällt!

Schmerz: Ein Verräter hat mich verletzt und beraubt.

Vernunft: Die größere Verletzung ist sein, nicht dein. Er verrät dich zwar, aber verurteilt sich selbst. Er sticht dich, aber trifft sich selbst, und während er dich beraubt, zerstört er sich selbst. Vielleicht nimmt er dir ein Königreich oder deinen Reichtum weg, aber er beraubt sich seiner Seele, seines Ruhms, seines ruhigen Gewissens und der Gemeinschaft aller wahrhaften Menschen. Es gibt nichts Schmutzigeres unter der Sonne als einen üblen Verräter, dessen Erniedrigung so groß ist, daß sogar Verräter andere Verräter verabscheuen und solche Verbrecher vor ihrer eigenen Ungerechtigkeit erschaudern.

Schmerz: Ich bin trotzdem verraten worden.

Vernunft: Vielleicht hat es dir gut getan, so daß du dich nicht so leicht ein zweites Mal verraten läßt. Es kommt oft vor, daß diejenigen, die durch kleine Verluste gewarnt wurden, gelernt haben, große zu vermeiden.

Petrarcameister - Vom Verrat

Der Schmerz klagt: „Ich wurde von meinen Freunden verraten“, und die Vernunft antwortet: „Je mächtiger ein Mann ist, desto weniger kann er jemandem sicher vertrauen, aber auf desto mehr Menschen muß er sich verlassen können.“ - Auch der Petrarca-Meister legt den Verrat in die Sphäre der Hohen. Es wird in dem Holzschnitt erzählt, wie ein Fürst in seine feste Burg die vermeintlichen Freunde mit ihren Kriegern aufgenommen hat und wie er nun gefangengenommen wird. Im Pelzmantel und unbewaffnet steht er den schwer gerüsteten Kriegern gegenüber, zu denen er arglos von seinen beiden verräterischen Freunden geführt worden ist. Jetzt wird ihm eine Schlinge um den Hals gelegt. Rechts steht ein andersartig Bewaffneter müßig an der Palisade der Burg. Er verkörpert die Mannen des gefangenen Fürsten, die bei dem Verrat nichtsahnend untätig bleiben.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht könnte man erkennen, wie der Ego-Fürst des Ichbewußtseins mit seinem stolzen Federhut von zwei Verrätern aus seiner Burg gelockt wird, die er als seine Freunde betrachtet. Das sind gewöhnlich die allgemeinen Gegensätze, wie Gut und Böse, Mein und Dein, Gewinn und Verlust oder Leben und Tod. Und die fünf bewaffneten Krieger, die ihm nun den Strick um den Hals legen, wären dann die fünf Sinne, die mit den Gegensätzen gemeinsame Sache machen. Und am Tor steht der begrenzende Verstand des begrifflichen Denkens, der den Ausgang aus diesem Reich der Gegensätze bewacht, das von einem hohen Zaun umringt ist und in dem der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse steht. Dem gegenüber könnte man im Hintergrund jenseits des Zaunes den Baum des ewigen Lebens erkennen.

2.81. Vom Verlust der Alleinherrschaft

Schmerz: Ich habe meine Alleinherrschaft verloren.

Vernunft: Wenn sich der Verlust eines Königreichs als nützlich erwiesen hat, wieviel nützlicher muß es dann sein, eine tyrannische Herrschaft verloren zu haben? Wie ich bereits sagte, als wir über einen König ohne Sohn sprachen, waren fast alle Königreiche einst tyrannische Herrschaften. Doch im Laufe der Zeit gewannen sie noch an Macht und versteckten sich nun aufgrund der Vergeßlichkeit der Menschen hinter einem Schleier der Gerechtigkeit, so daß heute tyrannische Herrschaften verhaßt sind, weil sie ungerecht und abscheulich erscheinen.

Schmerz: Ich habe eine Alleinherrschaft aufgegeben.

Vernunft: Und damit eine schwere Bürde für die Gemeinschaft, gefährlich für dich, nutzlos für gute Menschen, schädlich für viele und abscheulich für alle.

Schmerz: Ich habe den Mantel der Alleinherrschaft abgelegt.

Vernunft: Das macht dich noch nicht nackt. Nun lege Rechtschaffenheit, Mäßigung, Sparsamkeit, Ehrlichkeit, Frömmigkeit, Barmherzigkeit und Wohltätigkeit an, die edelsten Kleidungsstücke, für deren Erhalt kein Gold erforderlich ist, sondern nur ein williger Geist. Dies sind Kleidungsstücke, die für alle guten Menschen bereit sind, aber unbekannt und unsichtbar für Tyrannen, die mit Perlen und Purpur geschmückt sind, aber völlig unbekleidet, wenn es um Menschlichkeit oder Tugend geht.

Schmerz: Meine Untertanen haben mich aus meiner Alleinherrschaft vertrieben.

Vernunft: Damit haben sie sich die Freiheit zurückgeholt, die ihnen zusteht. Aber sie haben dein Leben verschont, das du hättest verlieren können, und das du deinen Untertanen schuldest, die dir wiederum nichts als Haß schulden. Doch du beschwerst dich, anstatt ihnen zu danken! Es ist wohl ein altbewährter Brauch unter Menschen, daß der Verletzende klagt, während der Verletzte schweigt.

Schmerz: Mir wurde die Alleinherrschaft geraubt, die ich so lange innehatte.

Vernunft: Sie waren deine Diener, die fairerweise von dir hätten bedient werden sollen. Aber du nennst das Ende ihrer langen und treuen Knechtschaft ein Unrecht, obwohl der Anfang aller Gerechtigkeit das Ende der Ungerechtigkeit ist. Wenn es beschämend ist, daß das Unglück vieler Menschen vom Mutwillen eines einzelnen Mannes abhängt, sollte es doch herrlich sein, es enden zu sehen. Und äußerste Frechheit wäre es, sich darüber zu beklagen.

Schmerz: Ich wurde aus der Herrschaft vertrieben, die ich so lange innehatte.

Vernunft: Es wäre besser gewesen, freiwillig zurückzutreten, und am besten gar nicht erst anzutreten. Aber egal wie man zurücktritt, es ist gut, weil es gerecht ist. Lieber erzwungene Gerechtigkeit als freiwillige Ungerechtigkeit! Höre auf diesen rücksichtslosen Tyrannen (Phlegyas), der nun in der Hölle ist und ruft: „Seid gewarnt und lernt, gerecht zu sein!“ Und höre auch mir (der Vernunft) zu, wie ich dich ermahne, hier auf Erden gerecht zu sein, auch wenn du dazu gezwungen wirst! Dies ist ein rechtzeitiger Rat, der in seiner Nützlichkeit nicht verschmäht werden sollte. Für Phlegyas kommt diese Ermahnung zu spät, und sein Lernen ist umsonst, weil es nicht mehr angewendet werden kann. So ist es jetzt an der Zeit, deine aufgeblasenen Vorstellungen und deinen stolzen und wilden Entschluß zur Alleinherrschaft beiseite zu legen. Mach es jetzt, wenn du deine Herrschaft verloren hast, wie du es nie zuvor getan hast. Hör auf, ein Tyrann zu sein, und gib auf, das zu wollen, was du nicht mehr erreichen kannst. Zeige genügend Anstand, wenn nicht sogar Gerechtigkeit, um die Menschen erkennen zu lassen, daß du unter veränderten Umständen und in einem anderen Geisteszustand durch den Verlust deiner Reichtümer bereichert wurdest und ebensoviel an Menschlichkeit gewonnen hast, wie dir das Schicksal an Macht und Besitz weggenommen hat!

Hast du nie bemerkt, daß der König der Könige und Herr der Herren, der allmächtige Gott, dessen alle Macht im Himmel und auf Erden ist, seine großzügige Hand aus Gründen ausstreckt und zurückzieht, die oft unverständlich, aber immer gerecht sind, während auf Erden ein König versucht, einen anderen König zu überwinden und zu zerstören, ein Tyrann einen anderen Tyrannen, und eine Nation eine andere Nation? Hat die Drohung des Propheten jemals in deinen Ohren geklingelt: „Und sie werden Gefangene sammeln wie der Sand. Und sie werden über Könige triumphieren, und Fürsten werden ihr Gespött sein. (Hab. 1.9)

Richte deine Gedanken auf das Schicksal oder vielmehr auf den Willen Gottes und vermeide das lächerliche und abscheuliche Beispiel des Dionysius, dieses schlimmsten Tyrannen, von dem gesagt wird, daß er nach seiner Vertreibung aus Syrakus im Exil eine Schule für Knaben eröffnete, um über sie zu herrschen, solange er nicht über seine Untertanen herrschen konnte: Ein grausamer Geist, hartnäckig auf seinen Eigennutz gerichtet, unwissend gegenüber ehrlichen Bestrebungen und geringschätzig gegenüber der Gerechtigkeit für alle.

Schmerz: Es tut mir sehr leid, daß ich meine Herrschaft verloren habe.

Vernunft: Wie sehr mußt du erst den Verlust von dem bedauern, was dir rechtmäßig gehört, wenn es dir schon leid tut, etwas zu verlieren, das dir überhaupt nicht gehört? Und wie sehr muß es dich betrüben, deines Eigentums beraubt zu werden, wenn es dir schon so leid tut, das zu verlieren, was jemand anderem gehört?

Schmerz: Es ist schwer für mich zu ertragen, aus meiner Alleinherrschaft vertrieben worden zu sein.

Vernunft: Es wird weniger schwer, wenn man die Ursachen abwägt. Manche Herrscher sind nur wegen des Hasses gefallen, den ihr Titel erweckt hat, aber der Untergang vieler weiterer ist auf bestimmte wohlbekannte Ursachen zurückzuführen, die jeden Tag mehr werden. In der „Politik“ von Aristoteles liest man, daß manche Herrschaft auch durch Untaten der Ehefrauen verlorenging. Dies gilt sozusagen aktiv oder passiv, das heißt, diese Herrschaften gingen verloren wegen der Verletzungen, die die Tyrannen den Frauen anderer zugefügt haben, oder wegen der Verletzungen, die die Frauen dieser Tyrannen anderen zugefügt haben. Zum ersten Fall hast du als Beispiele nicht nur Herrschaften, sondern auch Königreiche wie Troja und Rom. Ein Beispiel für den zweiten Fall ist der spartanische Tyrann Nabis, der nicht nur die ihm unterstellten Männer beraubte, sondern seine bösartige Gattin dazu brachte, auch deren Frauen auszuplündern, was schließlich auch zu seinem Untergang führte. Aristoteles konnte davon nichts wissen. Er blühte im Zeitalter Alexanders auf und hätte nicht lange genug leben können, um die Zeiten von Nabis mitzuerleben. Obwohl ich in seinem Text die Namen von Hiero und Gelo finde, nicht ohne ein gewisses Maß an Erstaunen darüber, daß sie ihm bekannt sein sollten, was ich nicht hinreichend erklären kann, wenn ich die zeitliche Abfolge betrachte.

Schmerz: Ich habe weder die Frauen anderer verletzt, noch hat meine Frau irgend jemanden verletzt. Trotzdem bin ich aus meiner Herrschaft vertrieben worden.

Vernunft: Oft glauben diejenigen, die abgrundtief schuldig sind, daß sie unschuldig sind. Aber es gibt noch andere Hauptursachen, die zum Sturz von Tyrannen führen. Zum Beispiel der überhebliche Stolz, den die Historiker Cäsar zuschreiben, der nicht aufstand, als der gesamte Senat mit größter Hochachtung auf ihn zukam, obwohl das heutzutage nichts Außergewöhnliches mehr ist. Ein anderes ist die Grausamkeit, die, wie wir bei Vergil lesen, Mezentius den Tod brachte und auch zum Untergang von Gaius Caligula, Nero und Domitian führte. Und Horaz sagt: „Sizilianische Tyrannen (wie Dionysius oder Phalaris) erfanden keine schlimmere Folter als den Neid.“ Das gilt heute wie damals. Und schließlich gibt es keine Krankheit, die Tyrannen schlimmer oder häufiger plagt, als die Habgier. Die anderen Krankheiten befallen einige, aber diese befällt jeden von ihnen. Wie viele dieser Übel auch einige der Bürger betreffen, aber Habgier betrifft die gesamte Bevölkerung! So werden die Tyrannen selbst von Stolz und Neid tyrannisiert, einige auch von Grausamkeit besessen, aber die Habgier wütet unter ihnen allen, hört nie auf und läßt nie nach, wächst ständig und ist immer wach.

Wer über Menschen herrschen will, sollte besonders vorsichtig sein und diese Laster und den damit verbundenen Verdacht und die Schande vermeiden. Nichts macht einen Tyrannen haßerfüllter als die Habgier, und ungeeigneter als Herrscher und Regent. Andere Laster können durch Großmut und scheinbare Gerechtigkeit verschleiert werden, aber dieses erlaubt es nicht, die damit einhergehende Gemeinheit und Niedertracht zu verbergen. Entgegen der üblichen Haltung der Menschen gegenüber dem Irrtum spiegelt sich in den Gefühlen der Menschen die Tatsache wider, daß es nichts Erbärmlicheres und Niedrigeres gibt als die Habgier. Daher gelten diejenigen, die dieses Laster besitzen, als völlig ungeeignet für Ehre und Autorität. Menschen lehnen es gewöhnlich ab, jemandem unterworfen zu sein, der der Habgier unterliegt, und glauben, daß derjenige keine rechtliche Herrschaft über andere haben sollte, der keine Herrschaft über sich selbst hat, wenn es um Gold und Geld geht, also jemand, der das Recht beansprucht, Menschen ihres Reichtums und sogar ihres Lebens zu berauben, aber seinen eigenen Reichtum über alles stellt. Es ist daher der erste und wichtigste Weg zu Sicherheit und Ruhe, sich nicht nur von dem Wunsch zu befreien, ein Tyrann zu sein, sondern darüber hinaus von allen Herrschaftsansprüchen. Denn was ist dümmer, lästiger und auch gefährlicher, als die Lasten eines ganzen Volkes allein zu schultern, obwohl man oft zu schwach ist, die eigenen zu tragen? Doch wenn schlechte Gewohnheiten und die Torheit der öffentlichen Meinung es dir nicht erlauben, das Beste zu wählen, dann solltest du dich an den Rat von Aristoteles erinnern, nämlich nicht als Tyrann, sondern als Hüter des Staates aufzutreten. Er stellt fest, daß der König nur für Staatszwecke Steuern einziehen und öffentliche Dienstleistungen in Anspruch nehmen sollte und im Kriegsfall einen Fonds bilden darf, aber sich im Allgemeinen zum Hüter und Schatzmeister machen sollte, als ob es nicht ihm gehörte, sondern der Öffentlichkeit. Und er fährt fort: „Er sollte seine Stadt schmücken und verschönern, als wäre er kein Tyrann, sondern der Hüter des Staates. Er sollte sich seinen Untertanen nicht im Licht eines Tyrannen, sondern eines Verwalters und Königs zeigen. Er sollte sich nicht aneignen, was ihnen gehört, sondern ihr Hüter sein. Er sollte gemäßigt leben, und nicht extravagant in seiner Lebensweise.“

Die Beobachtung dieser und ähnlicher Dinge, die von Aristoteles und auch von mir empfohlen werden, macht das Regieren beständiger. Ein Herrscher sollte aufrichtig versuchen, wirklich so zu sein, wie Aristoteles ihn haben wollte. Vortäuschung, egal wie kunstvoll und geschickt sie praktiziert wird, kann unter den Blicken so vieler Menschen, die direkt eingebunden sind, nicht lange überdauern. So überlege nun, ob du dich in einem dieser Punkte geirrt hast, und hör auf, dich über deinen Untergang zu beklagen und zu grübeln, denn es ist nicht verwunderlich, daß Herrschaften fallen, sobald sie von diesen Mißbräuchen heimgesucht wurden. Wie könnten sie auch dauerhaft sein? Um es zusammenzufassen: Alle Könige und Tyrannen, die lange Zeit an der Macht bleiben wollen, wo immer sie regieren mögen, müssen Catos Aussage in Livius sorgfältig bedenken und sich daran erinnern: „Habgier und Luxus zerstören jede große Herrschaft.“

Schmerz: Jetzt, wo meine Herrschaft verloren ist, bin ich zu einem gewöhnlichen Bürger herabgesetzt worden.

Vernunft: Du warst ein Feind der Bürger, und jetzt bist du zu ihrem Gefährten gemacht worden. Nun mußt du Freundlichkeit gegenüber allen lernen und die Vorteile einer bescheidenen Existenz erkennen. Du kannst viel anständiger und sicherer unter guten Bürgern leben, als du jemals über ihnen leben konntest. Dein Dasein wird ruhiger, dein Leben sicherer, ohne Angst, ohne Argwohn, ohne immer auf der Hut zu sein und ohne dein stählernes Schwert. Wie konnte man nur auf irgendeine Art von Glück im Leben hoffen, umgeben von solchen Übeln?

Schmerz: Meine Herrschaft ist vergangen, und nun muß ich wie jeder andere gewöhnliche Mensch leben.

Vernunft: Entscheide dich, ob du die Härte des Schicksals mit Wehklagen verhärten oder mit Geduld mildern willst! Ignoriere die lärmende Menge um dich herum und betrachte die Vergangenheit ruhig und schweigend. Dann wirst du feststellen, daß du gerettet wurdest und vielen Übeln entronnen bist. Jetzt kannst du sicher leben und friedlich sterben, ohne in Blut oder Gift ertränkt zu werden.

Petrarcameister - Vom Verlust der Alleinherrschaft

Auf die Klage des Schmerzes „Ich habe meine Alleinherrschaft verloren“, antwortet der Petrarca-Meister mit einem Holzschnitt, in dem er unmißverständlich seiner revolutionären Gesinnung Ausdruck gibt. Er bringt keine Episode, kein Einzelereignis, sondern stellt in Sinnbildern dar, wie es um den großen Machtkampf in seiner Zeit steht, und welche Haltung er den Menschen, die seine Bilder betrachteten, nahelegen wollte. - Die Tyrannis, das ist eine uneinnehmbare Höhenburg mit aufgezogener Brücke, und wie ein Standbild auf dem Sockel steht der Tyrann auf dieser Burg. Bauern haben Taue um die Festung geschlungen und suchen sie so zum Einsturz zu bringen. Ob es ein Hinweis auf die unzusammenhängenden Aktionen der Bauern in seiner Zeit sein soll, wenn der Künstler sie in drei Gruppen so an den Tauen ziehen läßt, daß die Mühen um den Sturz der Burg einander entgegenwirken und sich aufheben? Trotzdem wollte der Petrarca-Meister an dem Ausgang des Kampfes keinen Zweifel lassen, und so hat er im Vordergrund nochmals einen gestürzten König dargestellt, den ein Bauer mit der Saufeder (ein kurzer Spieß für die Jagd auf Wildschweine) tötet. Die symbolische Zwingburg steht inmitten einer Landschaft deutschen Charakters. Zwischen Bäumen und Gebüsch werden Bauernhütten sichtbar, und ein kleines befestigtes Städtchen liegt angelehnt an einem Bergrücken. - Im Gegensatz zum Text, in dem Petrarca von der Tyrannei in den italienischen Städten und von der Erhebung der Bürgerschaft spricht, hat also der Petrarca-Meister eine Parteiung der Bauern gegen Könige gezeichnet. Auch scheint er nicht damit einverstanden gewesen zu sein, daß Petrarca den Tyrannen mit dem Leben davonkommen läßt, wenn überhaupt eine so intime Kenntnis des Textes durch Sebastian Brant vermittelt worden ist.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht erscheint nun der stolze Ego-König als trennendes Ichbewußtsein auf seiner Körperburg, in die es sich eingemauert und verkörpert hat, und wird von einem Graben bzw. Abgrund von der Außenwelt getrennt, über den eine Ziehbrücke führt, die nur nach eigenem Willen herabgelassen wird. Und doch kann sich dieses Bewußtsein, das sich als Alleinherrscher fühlt, nicht ganz von der Natur abtrennen und man sieht, wie die „Bauern“ des Körperbewußtseins an seiner Burg mit dicken Seilen in drei Richtungen ziehen. Damit sind sie auch daran gebunden, während dieser Zeit relativ ausgeglichen, und haben ihre tödlichen Waffen niederlegt. Solche dreifachen Kräfte, die in verschiedene Richtungen wirken, findet man überall in der Natur, um etwas zu bewegen, und sie erinnern uns auch an die drei Gesellen von Begierde, Haß und Unwissenheit, die alles Aufgebaute wieder zum Einsturz bringen können. Entsprechend sieht man auch den Ego-König im Vordergrund in den Graben bzw. Abgrund fallen, den er sich selbst geschaffen hat, und der nun ausgetrocknet ist, das heißt, das Wasser des Lebens ist ersiegt, und er wird schließlich vom Tod in der Natur besiegt, von der tödlichen Waffe, die nun der „Bauer“ wieder ergriffen hat. Wie kann das geschehen? Man sagt doch, der Geist sei allmächtig! Nun, das Problem liegt wohl darin, wenn das trennende Ichbewußtsein allmächtig werden will. Das ist wohl prinzipiell zum Scheitern verurteilt, denn solange etwas abgetrennt ist, kann es nie allmächtig sein und allein herrschen. Es wird immer Gegner geben. Warum erkennt der Mensch das nicht?

2.82. Vom Verlust der eigenen Burg

Schmerz: Ich habe meine feste Burg verloren.

Vernunft: Bis zu diesem Punkt blieben noch einige Samen zur Tyrannei. Aber jetzt sind sie alle weg, weil du deine Burg verloren hast. Es genügt nicht, ein giftiges Kraut abzureißen, sondern man muß die Wurzel entfernen. Wer sich auf seine Burg verläßt, hört nicht auf, ein Tyrann zu sein.

Schmerz: Ich wurde von meiner Burg auf dem Hügel vertrieben.

Vernunft: Burgen sind, wo immer sie auch stehen, die Fesseln der Freiheit. Auf Hügeln sind sie wie eine Art Gewitterwolke, die mit dem Donner und Blitz deines Stolzes die Untertanen einschüchtert. Aus solch einer Burg vertrieben zu werden, ist nicht beklagenswert, sondern wünschenswert! Unter den Dingen, die man allgemein „Güter“ nennt, gibt es einige, deren Besitz sogar gemäßigte und ehrliche Menschen zu ungerechten Taten verleitet. Wenn die Tugend diesen Versuchungen nicht widerstehen kann, wäre es dann nicht besser, auf solche Dinge ganz zu verzichten?

Schmerz: Ich habe die stärkste Burg verloren.

Vernunft: Dieses Ereignis zeigt nur, daß das, was du als „Stärkstes“ bezeichnest, tatsächlich zerbrechlich war. Vielleicht hast du ein ungeeignetes Ding verloren, das schwer zu behalten, nutzlos für dich und feindlich für deine Nachbarn war. Jetzt kannst du endlich anfangen, nachts gut zu schlafen, und aufhören, andere zu tyrannisieren.

Schmerz: Meine sicherste Burg wurde niedergerissen.

Vernunft: Nun überlege, wie sicher sie war, wenn sie niedergerissen wurde! Von meiner Seite her (der Vernunft) kann ich dir eine der stabilsten und sichersten Festungen von allen zeigen, eine Burg ohne Mauern, ohne Türme und ohne störende Rüstungen. Wenn du in Sicherheit leben willst, dann lebe gut! Nichts ist sicherer als die Tugend, denn „gut leben“ bedeutet nicht, stolz, verschwenderisch und umgeben von Prunk und Protz zu leben, sondern vernünftig, nüchtern und bescheiden. Es gibt keine Notwendigkeit für Burgen und Schlösser, die dich nicht sicher, sondern ängstlich, gefürchtet und lästig machen. Was ist das für ein Glück, gefürchtet und nicht geliebt zu werden? Oder hast du noch nie den bekannten Satz von Laberius gehört: „Wen viele fürchten, der muß auch viele fürchten.“ Dies sagte er Julius Cäsar. Und wie oft hätte er dies mit mehr Recht zu anderen sagen können, die zwar weniger erhaben als Cäsar, aber furchterregender waren?

Ich verstehe nicht, warum so viele Leute gefürchtet werden wollen. Niemand wird ohne Grund gefürchtet, und niemand fürchtet sich ohne einen Grund. Und es ist gefährlicher für einen, viele zu fürchten, als für viele, einen zu fürchten. Glaubst du nicht, daß es viel sicherer wäre, wenn dich niemand fürchtet und du niemanden fürchtest, als wenn viele dich fürchten und du viele? Die beiden Seiten können nicht getrennt werden, denn Angst erzeugt immer Angst. Wenn du nach dem Grund dafür fragst, dann höre Ovids Aussage: „Denn wen man fürchtet, den will man tot (bzw. unwirksam) sehen.“ Und auch Ennius sagte vor ihm: „Wen sie fürchten, den hassen sie. Und wen man haßt, den hofft man, tot zu sehen.“ Sie fürchteten dich in deiner Burg, und du fürchtetest wiederum viele. Und wenn du fragst: „Wen habe ich gefürchtet?“ Dann lautet die Antwort: „Wer fürchtet nicht jeden, wenn er beginnt, gefürchtet zu werden, und fürchtet nicht besonders diejenigen, die ihn fürchten?“ Und Cicero stimmt Ennius zu, wenn er sagt: „Wer gefürchtet werden will, muß unweigerlich Angst vor denen haben, die er verängstigt.“ Ja, ich wiederhole das so oft, weil es das Thema erfordert, denn du bist blind in diesem wie in ähnlichen Dingen und achtest nicht darauf, daß du zwar glaubst, über allen anderen zu stehen, aber in Wirklichkeit unter ihnen stehst. Denn was ist erniedrigender als Angst? Und so endet jede deiner Bemühungen im Widerspruch zu deiner Absicht.

Schmerz: Ich habe die Burg verloren, die ich am meisten liebte.

Vernunft: Nun lerne etwas anderes lieben, das du nicht verlieren kannst! Umgib deinen Geist mit heilsamen Absichten und dein Leben mit ehrlichen Taten. Stelle Weisheit und Mut vorn an die Tore, Gerechtigkeit und Mäßigung auf die Zinnen, Menschlichkeit und Barmherzigkeit überall entlang der Mauern und Hoffnung, Glaube und Nächstenliebe mitten in die Burg. Plaziere die Vorsehung auf dem höchsten Turm und einen guten Ruf ringsherum. Erfülle dich mit der Liebe zu Gott und deinen Mitmenschen. Verbanne die Angst, verehre die Würdigen und ignoriere den Rest, ohne sie zu loben oder zu beleidigen. Dann wird dich niemand fürchten, und du wirst niemanden fürchten. Und du wirst in deiner bescheidenen Behausung sicherer leben als in jeder Burg. Diese Festung wird niemand jemals überfallen, und niemand kann sie dir jemals nehmen. Die Bösartigen werden staunen, und die Gutartigen werden dich lieben und deinem Beispiel folgen.

Ach, wie einfach wäre es für euch Menschen, ein ruhiges und heiteres Leben zu führen, wenn ihr nicht darauf bestehen würdet, es mühsam und turbulent zu machen, immer darauf bedacht, euch selbst und die um euch herum zu ruinieren! Wozu sind diese Burgen gut, wenn nicht zur Belastung ihrer Besitzer und zur Belästigung der anderen, damit man gewissermaßen nie zur Ruhe kommt, sondern wie Spinnen, die auf Fliegen lauern, über jene herfällt, die zufällig vorübergehen. Alle anderen Kreaturen sind mit ihren Höhlen oder Nestern zufrieden. Nur ihr Menschen braucht Burgen, denn kein Lebewesen ist stolzer als ihr und keines ängstlicher.

Petrarcameister - Vom Verlust der eigenen Burg

Hier konnte nun der Petrarca-Meister durchaus Zeitgeschichte darstellen. Das Übel der Raubritter, die auf festen Burgen saßen und von dort aus die Bürger unterwegs überfielen oder benachbarte Städte oder Grundherren die Dörfer beraubten, war eine Landplage in Deutschland geworden, seitdem die Ritter mit dem Aufkommen der Söldnerheere und auch der Feuerwaffen ihre Existenzgrundlage als Gefolgsleute der Landesherren verloren hatten. Mit Bündnissen zwischen Städten und Landesherren wurde das Übel zu bekämpfen gesucht, und schon ehe der Schwäbische Bund im Sommer 1523 seinen großen Zug gegen die Raubnester unternahm, waren in gemeinsamen Aktionen manche Burgen gefallen. - Eine solche Belagerung stellt der Petrarca-Meister dar. Ein sehr gut geschütztes Felsennest wird belagert. Ein Teil der Burg geht schon in Flammen auf, Gruppen von Landsknechten stehen bereit, um über Sturmleitern in die Bresche einzudringen, die die Geschütze in den Mauergürtel gelegt haben. Links im Hintergrund sprengt, von den Belagerern und den Belagerten unbeachtet, ein Reiterpaar davon. Durch seine Kopfwendung nach rückwärts ist der eine der Reiter ausdrücklich mit der belagerten Burg in Beziehung gesetzt. Also hat wohl der Petrarca-Meister hier noch die fliehenden Raubritter gezeichnet, die ihre Mannen in der Burg im Stich gelassen haben.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht kann man in diesem Bild über die Frage nach der Einheit und Vielfalt nachdenken, über das Ganze und die Teile. Im Hintergrund sieht man die Einheit vieler Burgen, sozusagen die vielfältigen Körperformen der Natur, die alle unter einer Fahne stehen und gemeinsam auf einem Berg bzw. einer Erde errichtet wurden. Dagegen steht im Vordergrund eine geistige Einheit vielfältiger Krieger unter ihrer Fahne umgeben von drei Kanonen, die wieder an die dreifachen Kräfte der Veränderung erinnern, die überall sowohl im Geist als auch in der Natur wirken, alles bewegen und auch die Vorstellung einer Trennung in Teile verursachen. Wie man bereits sieht, daß sich links in der Gruppe das stolze Ichbewußtsein mit dem Federhut abwendet und nach den „Anderen“ schaut, die dann auch rechts und links an den Kanonen erscheinen und auch als „Einzelkämpfer“ zwischen Geist und Natur versuchen, die körperliche Natur zu erobern. So kommt es, daß sich diese Kämpfer als getrennte Wesen wahrnehmen, und auch das Ichbewußtsein versucht nun mit dem stolzen Federhut und auf seinem Tierwesen diesen Angriffen und der brennenden Burg zu entfliehen, und zwar zusammen mit dem begrifflichen Verstand bzw. der Erinnerung, die das Ego-Banner der Gegensätze an einem langen Spieß trägt, wie man links im Bild sehen kann. Kann diese Flucht gelingen? Sobald sich etwas vom Ganzen abtrennt und als einen „selbständigen“ Teil betrachtet, erscheinen die weltlichen Gegensätze von Gut und Böse, Mein und Dein oder Leben und Tod, und damit auch Krankheit, Alter und Sterben, wie in den weiteren Kapiteln noch ausführlich beschrieben wird.

2.83. Vom hohen Alter

Schmerz: Ich bin alt geworden.

Vernunft: Du willst leben, aber bedauerst, gelebt zu haben. Oder wie meinst du das?

Schmerz: Ich bin alt geworden.

Vernunft: Du bist einen Weg dahin gegangen und wunderst dich, daß du dort angekommen bist. Es wäre doch viel wunderlicher, schließlich nicht dort anzukommen, wohin du die ganze Zeit gegangen bist.

Schmerz: Ich bin alt geworden.

Vernunft: Wie könntest du nicht alt werden, während du weiterlebst und auf deinem Weg vorankommst? Erwartest du, daß sich das Altern umkehrt? Die Zeit vergeht schnell ohne jemals anzuhalten und ist unwiederbringlich.

Schmerz: Ich bin sehr schnell alt geworden.

Vernunft: Ich habe dir doch gesagt, daß die Zeit vergeht, und jetzt fängst du an, es zu glauben. Es ist unbegreiflich, wie widersprüchlich die Meinungen nicht nur zwischen verschiedenen Personen, sondern sogar innerhalb ein und derselben Person sind! Wenn die Jugend auf das kommende Leben vorrausschaut, erscheint ihr eine sehr lange Zeit. Aber wenn ein alter Mann zurückblickt, scheint das Leben äußerst kurz gewesen zu sein. Zukünftiges scheint zeitlich immer viel weiter entfernt zu sein als das Vergangene, obwohl es viel näher oder gleich nahe sein kann. Und der natürliche Lauf der Zeit scheint sich für diejenigen zu beschleunigen, die sich dem Ende des Lebensweges nähern.

Schmerz: Ich bin alt geworden.

Vernunft: Dann freue dich darüber, daß du nicht unter Lastern alt geworden bist! Und wenn du dich vor dem Alter nicht gebessert hast, dann freue dich, daß nun das Altwerden gut und gewinnbringend für dich wird, was kein geringer Hinweis auf Gottes Barmherzigkeit ist! Erinnere dich an den ägyptischen alten Mann, der zu Caesar sprach, sein hohes Alter sei ein guter Grund dafür, den Göttern dankbar zu sein.

Schmerz: Ich bin wirklich alt geworden.

Vernunft: Damit gehörst du zu den wenigen unter Tausenden und Abertausenden, die geboren werden und wirklich ein hohes Alter erreichen! Und selbst unter diesen gibt es nur sehr wenige, denen es vergönnt ist, die ganze Fülle des Alters zu empfangen.

Schmerz: Ja, ich bin sehr alt geworden.

Vernunft: Es ist ein Wunder und höchst erstaunlich, einen sehr alten Mann zu treffen, besonders wenn man bedenkt, wie viele gefährliche Schritte er bewältigen mußte, um sein hohes Alter zu erreichen. Der große Mangel an alten Menschen ist ein Anzeichen für die hohe Vergänglichkeit des Menschenlebens.

Schmerz: Ich bin alt und müde geworden.

Vernunft: Du bist einen harten und gefährlichen Weg gegangen. Es wäre überraschend, wenn du jetzt nicht müde wärst, der Ruhe bedürftig und froh, das nahe Ziel zu sehen.

Schmerz: Ich bin aber schnell alt geworden.

Vernunft: Der Lauf des Lebens ist kurz und manchmal sehr kurz, aber nie zu lang, immer hart, rauh und ungewiß. Sein letztes Stück ist das hohe Alter, und sein Ende der Tod. Welchen Anlaß gibt das für Beschwerden? Du bist alt geworden, und damit hast du die Aufgaben des menschlichen Lebens erfüllt. Du bist am Ende angekommen, dann ruhe dich aus! Ein Reisender, der von den Strapazen eines langen Weges erschöpft ist, aber gleich noch einmal von vorn beginnen will, ist verrückt. Nichts ist müden Reisenden willkommener als die Ruhe!

Schmerz: Ich bin nun alt geworden.

Vernunft: Du mußt das Leben sehr genossen haben, wenn du so betrübt bist, daß es jetzt vergangen ist.

Schmerz: Ich bin alt geworden.

Vernunft: Wenn das Leben angenehm war, dann hast du gelebt. Wenn es eine lästige Pflicht war, dann hast du es ertragen. Wer würde bei klarem Verstand bedauern, das getan zu haben, was er tun wollte, es sei denn, er glaubt, das Falsche gewollt zu haben. Oder wer würde bedauern, daß etwas erreicht wurde, das man weder vermeiden noch ohne viel Mühe erreichen konnte? Daher hast du in jedem Fall einen Grund, dich zu freuen, egal ob du das Gewünschte bekommen oder das Mühevolle bewältigst hast.

Schmerz: Ich bin alt geworden, und mein Alter hat alle Freuden des Körpers verjagt.

Vernunft: Dann schwelge in den Freuden des Geistes, von denen es ebenso viele gibt! Diese sind viel dauerhafter und verlassen dich nie, es sei denn, dein Geist verläßt dich, an dem sie festhalten und dem sie folgen. Die Freuden des Körpers verursachen Laster, wenn sie kommen, und wenn sie gehen, hinterlassen sie Reue, Scham und Kummer. Du solltest also froh sein, daß du diese los hast und wieder frei bist. Sei dankbar für das Alter, das dich aus den Fängen deiner Feinde befreit und dich zu deinen vernachlässigten oder aufgeschobenen Aufgaben zurückgeführt hat!

Schmerz: Ich bin alt geworden und vermisse die Freuden, an die ich gewöhnt war.

Vernunft: Dann gewöhne dich an neue! Das Alter hat seine eigenen Freuden, und sobald du sie zu kosten beginnst, wirst du die Freuden, deren Verlust du beklagst, verabscheuen und nicht wiederhaben wollen.

Schmerz: Ich bin alt und grau geworden.

Vernunft: Das ehrwürdige graue Haar eines aufrechten alten Mannes bringt ihm nicht nur mehr Autorität, sondern auch mehr ehrliche Freuden als alle lüsternen Wonnen, welche die Jugend begehrt. Deshalb sollte dich die Veränderung der Farbe nicht stören. Wessen Sinne sind so abgestumpft, daß er nicht lieber Körbe mit schneeweißen Lilien als Eimer mit schwarzen Kohlen sehen würde? Und wenn er verwandelt werden könnte, nicht lieber wie ein weißer Schwan als eine schwarze Krähe sein wollte?

Schmerz: Ich bin alt geworden, und häßliche Falten zerfurchen mein Gesicht.

Vernunft: Gepflügtes Land bringt reichere Ernte ein, und ein gut gelebtes Leben trägt im Alter reifere Früchte. Wenn dich die Falten in deinem Gesicht stören, dann wende dich dem Antlitz deines Geistes zu. Das ist nicht zerfurcht, bleibt mit den Jahren beständig und wird sogar mit der Zeit immer schöner. Das wird dich immer ehren und schmücken, wenn du es nicht vernachlässigst.

Schmerz: Ich bin alt geworden und so sehr mit Falten und häßlichen Flecken übersät, daß ich mich kaum wiedererkenne.

Vernunft: Ich habe dir ganz am Anfang unserer Gespräche gesagt, daß dies passieren würde, daß du weniger eifrig sein wirst, dich im Spiegel anzusehen, und daß du deinen eigenen Augen vielleicht und sicherlich denen der Frauen weniger gefallen würdest, obwohl ich nicht weiß, ob dieser Wunsch, ihnen zu gefallen, mehr stolze Eitelkeit oder sinnliche Wollust ist. Aber diejenigen, die Vertrauen, Standhaftigkeit, Ernsthaftigkeit und Weisheit bevorzugen und erhoffen, werden diese mehr hinter den faltigen als unter glatten und pfirsichfarbenen Gesichtern finden.

Schmerz: Ich bin alt geworden, und der bessere Teil meines Lebens liegt nun hinter mir.

Vernunft: Eher der schlimmere Teil deines Lebens! Die Güter, die viel Freude bereiten und begehrenswert erscheinen, sind selten die besten. Viele Menschen gieren nach dem, was ihnen schlecht tut, was nicht der Fall wäre, wenn der Satiriker gelogen hätte: „Es gibt nur wenige, die wahre Güter erkennen können.“

Schmerz: Ich bin alt geworden, und meine glücklicheren Tage sind vorbei.

Vernunft: Im Laufe der Zeit sind fast alle Tage einander sehr ähnlich. Nur die Meinungen der Menschen sind verschieden, und sogar ein und derselbe Geist kann mit sich selbst uneins sein. Erst war es die Leidenschaft der Jugend, und jetzt ist es die Ungeduld des Alters, die deine Urteile über dieses Leben färbt und dich glauben läßt, daß das Schlechte besser und das Schlimmste das Beste ist. Die Tage als Tage sind alle gut, weil der König und Schöpfer von ihnen allen gut ist. Und obwohl die Tage manchmal heiß oder kalt, trocken oder naß, bewölkt oder klar, turbulent oder ruhig sind, sind sie doch alle gut, wenn man die Schönheit der Welt und ihre natürliche Ordnung betrachtet. Aber wenn man sie auf Menschen und ihr Urteil bezieht, sind sie alle gleich schlecht, düster, unsicher, gequält, lästig, ängstlich und bitter, voller Klagen, Tränen und Elend. Und darunter, so sagst du mir, waren auch glückliche Tage. Doch als sie da waren, waren sie traurig und voller Jammer. Der Grund, warum du sie jetzt als glücklich ansiehst, ist die bloße Tatsache, daß sie vergangen sind. Sie wurden von deinen Wünschen vergoldet, damit sie nicht unwiderruflich verschwinden sollen, mit all den Dingen, die dir einst lieb waren. Denn ein Narr liebt nie etwas anderes als das, was er verloren hat!

Schmerz: Ich bin alt geworden. Ach, wenn nur meine verlorene Jugend zurückkehren würde!

Vernunft: Oh welch ein Wunsch, dumm und vergeblich, wie du es meinst! Aber gar nicht so nutzlos, wenn du nach Höherem strebst. Denn der Tag wird sicherlich zurückkehren, von dem geschrieben steht: „Deine Jugend soll erneuert werden, wie die des Adlers. (Psalm 103.5)

Schmerz: Ich bin alt geworden, und meine guten Jahre sind vorbei.

Vernunft: Jedes Zeitalter ist gut, wie auch böse für die, die ein bösartiges Leben führen. Beide Arten von Leben sind kurz und immer dem Ende nahe, wenn dann Gutes belohnt und Böses bestraft werden soll. Was also macht diese ewig bitteren und immer flüchtigen Jahre „gut“, wenn man nicht bedenkt, daß sie der Weg zur Ewigkeit sind? Und selbst wenn sie etwas Süßes enthielten, schien die Geschwindigkeit, mit der sie vorbeigingen, alle Süße aufzuheben. Wer kann schon beim Laufen den Geschmack von irgendetwas genießen?

Als Darius auf der Flucht war, schmeckte ihm ein Schluck fauliges und stinkendes Wasser äußerst süß, weil er sehr durstig war, sagt Cicero. Aber ich glaube, weil die Angst seinen Geschmack abgestumpft hatte. Denn Darius hatte den siegreichen Alexander im Rücken, der ihm dicht auf den Fersen war. Und du hast den schnellen Lauf der Zeit im Rücken, die schnell vergehenden Jahre, die hektischen Tage und die verfliegenden Stunden, und den Tod immer vor Augen. Es gibt keine Rückkehr dorthin, wo du warst, kein Stoppen der treibenden Kraft, kein Verhindern des stürmischen Kurses. Ich frage dich, welcher Teil eines solchen Lebens voller Schwierigkeiten und so vieler Ängste ist der gute? Ich verstehe nur, daß du das Lebensalter, das am meisten der Laster und Wollust gewidmet ist, als „gut“ bezeichnest. Es ist wohl deine Gewohnheit, alles als „gut“ zu bezeichnen, was deinen sinnlichen Neigungen am angenehmsten ist, auch wenn es die schlechteste Wirkung hat. So nennt der Räuber die Ketten „gut“, mit denen er seine unschuldigen Opfer fesselt, der Herr seine Burg, die ihm hilft, die Freiheit seiner Untertanen einzuschränken, der Giftmischer den tödlichen Trank, den er bereitet, der Attentäter den Dolch, mit dem er Menschen ermordet, und so weiter. In gleicher Weise nennst du das Lebensalter „gut“, das für die am meisten begehrten Dinge am besten geeignet ist. Aus diesem Grund findet man unter denen, die bedauern, daß die Vergangenheit für immer vorbei ist, kaum jemanden, der sich die Rückkehr seiner Kindheit oder Säuglingszeit wünscht, die in der Tat die besten Teile des Lebens wären, wenn „am besten“ bedeutet „am weitesten vom Alter entfernt“, wie du es offensichtlich meinst. Nein, nicht das reife und kraftvolle Erwachsensein, noch das beginnende und noch kräftige Alter begehrst du, sondern die wollüstige Jugend, das Schlimmste und Gefährlichste des Lebens! Du fragst: „Oh, die Tage, als ich fünfundzwanzig war, wo sind sie hingegangen?“ Und niemand kann auch nur den geringsten Zweifel daran haben, wie du deine vergangenen Jugendsünden bereust, so daß du dich nach nichts anderem sehnst, als nach einer günstigen Zeit, um sie erneut begehen zu können.

Schmerz: Ich bin alt geworden. Warum sollte ich nicht seufzen wie der alte König Evander bei Virgil: „Ach, wenn mir Jupiter die verflossenen Jahre zurückbringen würde!“

Vernunft: Aber wir lesen nirgendwo, daß Sokrates, Platon, Fabius oder Cato so geseufzt haben, obwohl sie auch alte Männer waren. Aber ich gebe zu, daß wahrhaft weise Männer seltener sind als Könige. Wäre König Evander weise gewesen, wäre sein Seufzer unter euch Alten zweifellos weniger beliebt und verbreitet. Diese dummen alten Männer erinnern sich und seufzen nach den achtlosen Tagen ihrer Jugend, die für immer vorbei sind. Sie seufzen nicht nur danach, sondern versuchen, die unaufhaltsame Naturgewalt durch nutzlose Medikamente und alberne Kuren umzukehren, über die sich Kaiser Hadrian lustig machte. Als er einem gewissen grauhaarigen Mann eine Bitte verweigert hatte und der Mann zurückkam, um seine Bitte zu wiederholen, diesmal jedoch mit gefärbtem Haar, wies der Kaiser sie zurück und sagte: „Geh weg! Ich habe dies deinem Vater bereits verweigert.“

Schmerz: Ich bin alt geworden. Ach, wenn nur meine Jugend zurückkehren könnte!

Vernunft: Ich habe dir bereits gesagt, daß sie zurückkehren kann. Jetzt stimme ich zu, daß sie tatsächlich zurückgekehrt ist. Wenn du mit deinen Wünschen immer so viel Glück hättest, wie mit diesem, würdest du dir nie etwas umsonst wünschen. Der Arme kann sich Reichtum wünschen, der Leibeigene Freiheit, der Häßliche Schönheit, der Kranke Gesundheit, der Müde Ruhe und der Verbannte den Rückruf. Aber ein wahrhaft ehrwürdiger Greis sollte sich niemals seine Jugend zurückwünschen, denn mit diesem Wunsch wird er wirklich kindisch (und seine unwissende Jugend kehrt zurück).

Schmerz: Ich bin alt geworden. Ach, warum hat mich meine süße Jugend so früh verlassen?

Vernunft: Das Angenehme scheint immer zu schnell zu vergehen, und das Unangenehme immer zu schnell zu kommen. Aber es ist töricht, sich nach dem zu sehnen, was man nicht haben kann, oder nach dem, was einem Unheil brachte, als man es hatte, und was einem wieder Unheil bringen würde, wenn es zurückkäme. Also hör auf zu seufzen! Solange du in diesem Geisteszustand bist, wirst du vielleicht schnell grau, aber niemals ein wirklich ehrwürdiger alter Mann. Denn was ist der Wunsch eines alten Mannes, wieder jung zu sein, anderes als kindische Unwissenheit?

Schmerz: Ich bin alt geworden und vom Alter gebeugt.

Vernunft: Dann schau achtsam auf den Boden und überlege, woher du gekommen bist und wohin du gehen sollst. Du bist aus der Erde gekommen und wirst zu ihr zurückkehren. Die Natur erinnert dich gleichzeitig an deinen Ursprung und dein Ende. So etwas kann man vergessen, aber sie zeigt dir den Weg, den alle Menschen gehen. Gebeugt, wie du bist, überlege genau, was du dazu getan hast! Die Blinden müssen an die Hand genommen werden, um sie wieder auf den richtigen Weg zu führen.

Schmerz: Ich bin plötzlich alt geworden.

Vernunft: Nein, nicht plötzlich, sondern allmählich, Schritt für Schritt, Stück für Stück, ganz langsam. Aber für den, der nie daran denkt, kommt alles plötzlich, wie umgekehrt für den, der seinen Kopf benutzt, nichts überraschend kommt. Wenn dir das hohe Alter bedauerlich erscheint, war jeder einzelne Tag deines Lebens bedauerlich, denn die Tage sind die Schritte, die dich dahin geführt haben, wo du jetzt bist.

Schmerz: Ach, ich bin alt geworden.

Vernunft: Oh Wankelmütigkeit menschlicher Begierden! Du hast das Alter ersehnt und gehofft, dorthin zu gelangen, und gefürchtet, es nicht erreichen zu können, aber wenn du es erreicht hast, jammerst du, als wäre es ein ungeheuerliches und unglaubliches Ereignis, ganz ungewöhnlich. Jeder möchte ein hohes Alter erreichen, aber niemand möchte alt werden. Du hältst das Alter für jämmerlich, und als alter Mann bezeichnet zu werden für eine Beleidigung, als ob es eine Schande wäre, alt zu werden. So etwas sagt nur, wer glaubt, daß das Leben eine Schande ist. Es gibt eine Vielzahl von Menschen, die sich so verhalten, und ich dachte, dich nicht dazuzählen zu müssen, weil du doch von unserem Gespräch profitieren konntest. Doch ein vernünftiger Rat scheint einfach nicht in den Verstand zu dringen, auch wenn er die Ohren durchdrungen hat!

Schmerz: Schließlich bin ich alt geworden.

Vernunft: Wer auf seinem Feld, auf hoher See, im Krieg oder am Spieltisch Verluste erleidet, erkennt diese Schäden, wenn sie entstehen. Nur du wachst erst am Schluß auf und fängst an zu klagen, wenn daran nichts mehr zu ändern ist.

Schmerz: Ich bin einfach alt geworden.

Vernunft: Es ist so dumm, das Altern nicht zu bedenken, bis es dich trifft. Hättest du gewußt, daß es kommen würde, und sein Herannahen genau beobachtet, könntest du dem Alter ganz gelassen entgegensehen.

Schmerz: Ach, ich bin schon ein alter Mann.

Vernunft: Vergieß keine Tränen darüber! Du hast eine schwere Aufgabe erfüllt, einen tückischen und steinigen Weg zurückgelegt und ein dramatisches Schauspiel beendet, das nicht anders als eine Komödie am Ende Applaus verdient.

Schmerz: Ich bin ein alter Mann.

Vernunft: Hast du den Berühmten vergessen, der darauf ohne weiteres eine Antwort gegeben hat, die der Sprüche der Alten würdig war? Als ein Freund zu ihm sagte: „Es tut mir leid, daß du alt wirst. Ach, wie wünschte ich, du wärst noch so, wie ich dich kennengelernt habe!“ Darauf erwiderte er spontan: „Erscheine ich dir nicht töricht genug, daß du noch mehr Torheit wünschst, als ich bereits habe? Bemitleide mich nicht, daß ich alt bin, sondern bemitleide mich lieber, daß ich jung (und unwissend) war!“ Oh, wieviel Sinn liegt in dieser kurzen Antwort, die nur der einschätzen kann, der die Güter des Alters gekostet hat und sich an die Übel der Jugend erinnert. Also beglückwünsche dich selbst, denn es ist wahr, daß gute Dinge oft zwangsläufig kommen. Für einen guten Menschen, der ein Freund der Tugend und Feind der Leidenschaft ist, sollte ein einziger Tag des Alters, das du beklagst, wertvoller als ein ganzes Jahr unwissender Jugend sein!

Schmerz: Ach, ich bin so alt geworden!

Vernunft: Wenn du so weitermachst, muß man dir sagen, daß du nicht elend bist, weil du alt wurdest, sondern weil du ein elendes Leben geführt hast, über das du dich jetzt, am Ende angekommen, unwissend beklagst. Spare dir deine Klagen, wie sie von Unzufriedenen kommen, und unterwirf dich bereitwillig dem Gesetz der Natur! Es hat keinen Sinn, darüber zu jammern, was ihr unausweichliches Gesetz verfügt hat. Was ist für jemanden, der als Mensch geboren wurde, natürlicher, als im Leben zu altern und zu sterben? Aber du vergißt deinen Zustand und willst beides zurückweisen, obwohl du beides durchlaufen mußt. Willst du einem von ihnen entkommen, glaube mir, dann mußt du auch das dritte weglassen und niemals geboren werden!

Wenn der Körper altert, sollte auch der Geist in gewisser Weise altern dürfen, damit unter euch nicht das Sprichwort gilt: „Ein einziger (eigenwilliger) Geist kann mehrere Körper verbrauchen.“ Du solltest deinem Körper und deinem Geist ohne Murren erlauben, bis zuletzt zusammenzuarbeiten. Sie traten zusammen ins Leben und sollten zusammen gehen. Wenn der eine zum Ende eilt und der andere umkehren will, muß dieser unreife Geist zurückgehalten werden, denn es ist vergebens. Du mußt vorangehen und kannst nicht umkehren oder stehenbleiben. Dies sollte für diejenigen unter euch, die an die Unsterblichkeit der Seele und die Auferstehung des Körpers glauben, einfacher sein als für jene, die nur an das erste oder an keines von beiden glauben. Ich wiederhole, es ist vergeblich zu kämpfen und zu versuchen, das Joch des menschlichen Schicksals abzuschütteln, das du mit deiner Geburt auf dich genommen hast.

Schmerz: Ich bin alt geworden, und meine körperliche Kraft läßt nach.

Vernunft: Solange die Stärke deines Geistes zunimmt, ist alles gut. Damit hast du einen gewinnbringenden Austausch gemacht, denn höhere Errungenschaften werden nur durch die Kräfte des Geistes und nicht des Körpers vollbracht und erreicht, was jedem bekannt ist, es sei denn, er hat die Vernunft verloren. Wenn aber, wie es oft vorkommt, die Kräfte des Geistes durch faulen Müßiggang geschwächt werden, dann gebe ich zu, daß du ein wertloses Leben geführt hast. Aber das ist deine Schuld, nicht die Schuld deines fortgeschrittenen Alters.

Schmerz: Ich bin alt geworden und kann mich um viele Dinge nicht mehr kümmern.

Vernunft: Wenn etwas mit dem Geist erledigt werden kann, dann liegt es nahe, daß es von älteren Menschen, die mehr Erfahrung und Weisheit haben und weniger der Leidenschaft und ihren bösen Zwängen unterliegen, viel besser erledigt werden kann. Doch nicht in der Lage zu sein, viele Dinge zu tun, ziemt sich für einen alten Menschen. Denn er hat sie schon getan, und alle körperliche Arbeit liegt jetzt hinter ihm. Wer damit weitermachen will und sich auch im Alter nicht davon losreißen kann, der bietet nur aufs neue jenes lächerliche Beispiel des alten Mannes im alten Rom: Auf Wunsch des Kaisers sollte er sein Geschäft aufgeben, was sowohl die Schwäche des Alters als auch sein großer Reichtum nahelegten. Doch er war so niedergeschlagen, daß er Tränen vergoß, als wäre ein geliebter Mensch gestorben, und ließ seine ganze Familie in Trauer gehen. Ein erstaunlicher alter Mann, der den Ruhestand als eine Art Tod fürchtete, obwohl es nichts Angemesseneres für das Alter gibt als Ruhe, und nichts Schändlicheres als ein mühseliger und ängstlicher alter Mensch, dessen Leben doch ein Beispiel für Gelassenheit sein sollte. Du kannst auch von den Philosophen lernen, wie angenehm es für aufrichtige alte Menschen ist, in der Betrachtung eines vollendeten Lebens zu leben, während die große Mehrheit der Sterblichen unerfüllt stirbt, ohne etwas vollendet zu haben.

Schmerz: Ich bin alt geworden, und meine Jahre sind heimlich davongeflohen.

Vernunft: Gutes Aussehen, Gesundheit, Schnelligkeit und Kraft haben dich möglicherweise verlassen. Aber die Tugend bleibt und wird weder dem Alter noch dem Tod weichen. Dieses eine Gut solltest du von frühester Jugend an geschätzt haben. Ich gebe zu, wenn es lange vernachlässigt wurde, dann ist es schwierig im hohen Alter. Aber es gibt kein Alter, das dem Streben nach Tugend entgegensteht, und je schwieriger es ist, desto herrlicher ist das Ergebnis. Viele beginnen erst im hohen Alter sich zu erkennen und weise zu werden, was spät, aber sicherlich nicht zu spät ist, auch wenn es in der Zeit, in der das Leben verebbt und der Tod bevorsteht, weniger nützlich erscheint. Doch ich glaube, ob es ein Leben lang geübt wurde oder nur in letzter Zeit, es zählt alles gleich, solange es dir hilft, auch die letzte Stunde ohne Entsetzen und Verzweiflung zu verbringen. Denn wer gut stirbt, wurde nicht umsonst geboren, und wer glücklich dahingeht, lebte kein nutzloses Leben.

Schmerz: Ich bin alt geworden, und der Tod ist nahe.

Vernunft: Der Tod ist für jeden Menschen gleich nahe. Und oft ist er am nächsten, wenn er am weitesten entfernt zu sein scheint. Niemand ist so jung, daß er nicht morgen sterben könnte, und niemand so alt, daß er nicht noch ein Jahr leben könnte, wenn ihm nichts anderes widerfährt als das Alter.

Schmerz: Ich bin aber so alt geworden!

Vernunft: Warum beklagst du, daß du so reif geworden bist? Wenn man die reifen Äpfel fragen könnte und sie einen Verstand hätten und sprechen könnten, würden sie sich nicht eher darüber freuen, das erreicht zu haben, wofür sie bestimmt waren? Wie bei allen anderen Dingen gibt es auch bei den Jahren eine gewisse Reife, die man „Alter“ nennt. Ebenso stellst du fest, daß der Tod junger Menschen „bitter“ genannt wird und bitter ist. Das Gegenteil von Bitterkeit ist die Reife, was gut für Äpfel und andere Früchte ist, aber am besten für Menschen. Nicht, daß ich die Tatsache nicht wüßte, daß viele verdorren, bevor sie reif werden, aber das ist nicht die Schuld ihres Alters, sondern aufgrund einer Verkehrung in ihrer Natur, die viele, aber nicht alle befällt. Der Mensch ist geboren, um Gutes zu tun, aber er gibt sich oft große Mühe, Böses zu tun! Wenn also ein Tropfen Tugend in dir steckt, mußt du gereift sein und kannst getrost die Hand des Schnitters erwarten. Du fürchtest nicht den Tod, sondern das Ende deiner Arbeit und den Beginn des kommenden Lebens. Ich wiederhole es, du fürchtest nicht den Tod, sondern das Ende eines harten Lebens, das nur wenige nach einer ruhigen Reise erreichen. Die meisten landen nackt und weinend, nachdem sie auf dem Meer des Lebens Schiffbruch erlitten. Doch du kannst nun im hohen Alter auf ruhige Weise sanft aus dem Meer der Ereignisse in den Hafen segeln, angetrieben von einer günstigen Brise. Setze dein müdes Schiff auf den Strand und mache es fest, und denke an das Ende, wohin immer du dich wendest. Das ist gewinnbringender, als wie Narren das ehrwürdige Alter und die Natur anzuklagen, welche die Beste aller Mütter ist.

Petrarcameister - Vom hohen Alter

In einer sehr umfangreichen Abhandlung setzt sich Petrarca mit dem Glück des Alterns auseinander. Die Lüste des Leibes seien erloschen, die Kräfte des Gemütes ließen sich dagegen noch mehren. Den Gedanken, den der Petrarca-Meister illustriert, enthält der Text jedoch nicht: Die Gegenüberstellung von müßigem, verdrießlichem und tätigem, zufriedenem Altern. - Wie ein Schaugerüst hat der Künstler sein Bild gestaltet: Rechts und links ein Proszenium und in der Mitte die Bühne mit einem Hintergrund. Dort kommt gebückt ein Greis daher, den Rosenkranz zwischen den Händen. Er mag in der Kirche gewesen sein und strebt nun ins Freie zu dem Gefährten seines Alters, der zur Sonne aufblickt, die ihm nicht mehr so warm wie in früheren Tagen dünkt. Das ist die Schilderung des müßigen und beschwerlichen Alters. Dagegen sitzen in den beiden Logen rechts und links auf Kathedern zwei alte Gelehrte, der eine schreibend, der andere lesend. Sie versinnbildlichen die Altersweisheit, die Leistung des Gelehrten, die überhaupt erst im Alter möglich ist, wenn auf die Erfahrung und das Studium eines langen Lebens zurückgegriffen werden kann. - Sebastian Brant ist der geistige Urheber dieses Bildes, der sich selbst in diesen Gelehrten, die keine Müßigkeit im Alter kennen, gelobt sehen wollte.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht sieht man den altgewordenen Geist in seinem Körperhaus, wie er sich einerseits mit dem Lesen bzw. Lernen und anderseits mit dem Schreiben bzw. Lehren im großen Buch des Lebens beschäftigt, um den Verstand zu ernähren und genügend fruchtbaren Boden für die Blüte der Weisheit zu schaffen. Zwischen diesen beiden, sozusagen „zwischen den Zeilen“, eröffnet sich dann ein großes Tor, das aus dem Körperhaus hinaus in die weite Natur führt. Und so sieht man den gealterten Geist mit der langen Gebetskette der Gottesverehrung am Stock des begrifflichen Verstandes schwankend das Körperhaus verlassen. Dort sitzt er dann auf einem Stein, vielleicht auf dem Stein der Weisen, nicht müßig, aber mit Muße, übergibt den Körper der Natur und erhebt den Geist zur ganzheitlichen Sonne des göttlichen Bewußtseins, die ihm neben der Kirche freundlich scheint. Der lange Zaun könnte ein Symbol der Trennung sein, die es hier zu überwinden gilt, eine Trennung zwischen Himmel und Erde, Geist und Natur sowie Leben und Tod. Dann könnte der Baum der Erkenntnis wieder zum Baum des ewigen Lebens werden.

2.84. Von der Gicht

Schmerz: Ich werde von schlimmer Gicht gequält.

Vernunft: Kennst du nicht den Lauf des Alters? Es kommt nicht allein, sondern bringt oft eine ganze Armee von Krankheiten mit.

Schmerz: Ich werde von schmerzhafter Gicht gequält.

Vernunft: Du wirst nur äußerlich an einem niederen Teil deines Körpers gequält. Was würdest du tun, wenn es eines der wertvollsten Teile wäre, wie das Herz oder der Kopf?

Schmerz: Ich werde von der Gicht behindert.

Vernunft: Der rastlose Geist der Menschen muß gezügelt werden! Der eine wird durch Armut gezügelt, der andere durch Gefangenschaft und wieder andere durch schwere Krankheiten. Es ist die Schicksalsgöttin, die mit dir spielt und deine Füße zügelt. Das sind deine Fußfesseln, nicht die Gicht. Also lerne, stillzustehen.

Schmerz: Ich bin durch die Gicht unfähig geworden.

Vernunft: Der Unfähigkeit stimme ich zu, wenn es um Laufen, Springen, Tanzen oder Sport geht. Aber denkst du wirklich, daß du dafür geboren wurdest? Falls du es nicht weißt, du wurdest zu Größerem geboren, von dem dich nichts abhält, solange dein Kopf gesund bleibt. Du kannst geistige Künste studieren, dich guten Taten widmen und der Gerechtigkeit und dem Glauben dienen. Ignoriere deinen schmerzenden Körper und die flüchtige Welt, hasse die Laster, liebe die Tugend, schätze die Freundschaft und hilf deinem Land mit gutem Rat. Das sind die Stärken guter Menschen. Braucht man dafür Füße?

Schmerz: Ich werde von der Gicht geschwächt.

Vernunft: Deine Krankheit erlaubt es dir wahrscheinlich nicht, einen Zweikampf mit einem Feind zu führen. Aber sie hält dich nicht davon ab, das Laster zu bekämpfen, was nicht einfacher ist als der äußere Krieg und sicherlich häufiger vorkommt. Wer weiß, ob der Schmerz deines Körpers, gegen den du kämpfst, dir nicht zu einer Übung des Geistes gegeben wurde!

Schmerz: Ich kann mich kaum auf den Beinen halten.

Vernunft: Dann versuche herauszufinden, wieviel Hoffnung es für den Rest deines Körpers gibt, dessen Fundament dir nun so schwach erscheint. Paß auf, daß dich kein plötzlicher Zusammenbruch überrascht! Pack deine Koffer, und bereite dich auf den Umzug vor!

Schmerz: Ich habe einen schweren Fall von Gicht.

Vernunft: Man sagt, daß diese Krankheit hauptsächlich die Reichen befällt. Du siehst, es gibt noch ein anderes Mittel! So sei beruhigt, denn entweder wird dein bitteres Leiden durch deinen Reichtum versüßt oder die Bitterkeit deiner Armut wird den Schmerz vertreiben. In beiden Fällen ist die Linderung nahe, wenn nicht sogar das Ende deiner Schmerzen. Sollte dies scheitern, kommt mit der Zeit derjenige, der niemals scheitert und alle Schmerzen in diesem Leben beendet.

Schmerz: Ich leide unter Schmerzen in meinen Füßen.

Vernunft: Wer geheilt werden will, muß entweder arm sein oder arm leben. Es wird angenommen, daß viele durch Armut, die den Körper wirklich reinigt, von der Gicht befreit wurden. Manche wurden auch durch Genügsamkeit geheilt, die man als freiwillige, vorgetäuschte oder eingebildete Armut bezeichnen kann, andere durch völligen Verzicht auf Wein. So vertreibt der Schmerz den Schmerz wie das alte Sprichwort sagt, daß man einen Dorn mit einem Dorn entfernt. Etwas Schmerzhaftes kann nur selten ohne Schmerzen geheilt werden. Wenn du von dieser und vielen anderen Krankheiten Ruhe haben willst, dann ist es ratsam, nicht nur den Freuden des Bacchus, sondern auch der Venus den Kampf anzusagen. Wovon spreche ich? Ich habe dir ein Heilmittel für Geist und Seele versprochen, nicht für den Körper, so daß ich dieses vorgeschlagen habe, was meiner Meinung nach das einzige Heilmittel für deine Krankheit ist. Wenn es dir gefällt, dann probiere es aus! Wenn nicht, dann laß dich nicht von den Mitteln der Quacksalber täuschen. In jeder Art von Widrigkeiten ist Geduld das wirksamste und beste Heilmittel und häufig auch das einzige.

Schmerz: Ich bin durch Gichtanfälle behindert.

Vernunft: Dann bis du unfähig zum Reisen und Arbeiten. Aber anderes kannst du tun, nicht nur die Aufgaben im Haushalt, sondern auch öffentliche Aufgaben, sogar als Kaiser dienen, wenn das zufällig dein Schicksal ist. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang eine Äußerung des römischen Kaisers Septimius Severus, der als gichtkranker alter Mann eine Verschwörung seiner Offiziere aufdeckte, die seinen Sohn Augustus zum Kaiser ernennen wollten, obwohl er selbst noch am Leben war. Die aufrührerischen Verschwörer und sein Sohn wurden festgenommen, und dieser kniete ängstlich vor dem Thron nieder und zitterte aus Angst vor der Hinrichtung. Der Kaiser berührte mit der Hand seinen Kopf und sagte: „Nun weißt du endlich, daß der Kopf regiert und nicht die Füße.“

Schmerz: Ich fühle mich elend von der elenden Gicht!

Vernunft: Jammere nicht so viel über dein Leiden! Versuche dich zu erinnern, ob es nicht etwas gibt, das dir Süße und Freude gebracht hat, etwas, das dich auch in deinem gegenwärtigen Leiden trösten könnte. Es ist eine der vielen abscheulichen Gewohnheiten der Menge, im Unglück ungeduldig zu stöhnen, aber achtlos und undankbar zu sein, wenn die Dinge gut laufen. Nichts könnte schlimmer sein! Wer könnte zum Beispiel einem Severus, den ich gerade erwähnt habe, gelassen zuhören, wenn er über seine Gicht klagt, oder Domitian, weil er kahl ist (was ihn, wie man sagt, sehr störte), oder den alten Augustus, wegen seiner Augenkrankheit, oder Julius Cäsar über seine Angst mitten in der Nacht und den Alptraum, der seine Ruhe störte, oder im Allgemeinen die besonders begabten Persönlichkeiten, die sich über diese oder jene Krankheit beklagten, die ihnen die Natur oder, wenn du willst, das Schicksal zugefügt haben? Undankbar vergessen sie ihre imperiale Macht und ihren Reichtum, ihre Eroberungen und großen Ehren und sind sich nicht mehr bewußt, daß sie Menschen sind, für die es blanker Wahnsinn ist, auf dieser Erde uneingeschränkte Glückseligkeit zu erwarten.

Das Bittere mit dem Süßen zu mischen, ziemt sich sowohl für die Bescheidenheit als auch für die Gicht. Es ist in der Tat ein gängiges Heilmittel für jede Krankheit und, wie du feststellen wirst, ein vernünftiger und heilsamer Ratschlag, diesem alten Mann zu folgen, der viele Güter erhielt und viele Übel ertragen mußte (Hiob 2.7). Er nahm natürlich gern die Segnungen aus Gottes Hand an, glaubte jedoch, daß Schwierigkeiten geduldig ertragen werden müßten, obwohl Gottes Hände gar nicht wissen, wie man etwas Schlechtes gibt oder macht. Aber damit schaut er auf die Meinung der Menschen (die Gutes und Böses erkennen).

Schmerz: Die Gicht hält mich im Bett, als wäre ich mit Knoten gefesselt, die sich nicht lösen lassen.

Vernunft: Auch wenn du liegst, kann dein Geist aufrecht stehen und Himmel, Erde und Meer durchdringen!

Petrarcameister - Von der Gicht

Die Vernunft sucht in Petrarcas Text den Trost zu spenden, daß Podagra (Gicht) nur die Krankheit der reichen Leute sei: „Hast du also viel Geld und Gut, so mache dir damit die Schmerzen süß, bist du aber arm, so bleibt die Krankheit sicher nicht bei dir.“ Im Sinne dieser Lehren zeichnet der Petrarca-Meister den reichen Patrizier, der sich in seiner Krankheit von zwei Knechten im Tragstuhl befördern läßt. Der weniger gut gestellte Gelehrte rechts im Bild muß sich mit Krücken behelfen. Links im Hintergrund ist die Behandlung des Leidens durch den Bader mit Salben, Massage und Wärme dargestellt.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht kann man im Bild drei verschiedene Lösungsansätze für das Problem der Krankheit sehen. Der reiche Adlige hilft sich mit äußerlichen Dienern und weichen Kissen, so daß er auf die Füße verzichten kann. Der reiche Bürger im Hintergrund sucht die Lösung in äußerlicher Behandlung seines Körpers. Und der arme Weise kann sich nur auf sich selbst stützen und ist praktisch gezwungen, nach einer innerlichen geistigen Lösung zu suchen, um das zu finden, was nicht krank werden kann, was wohl dem allgemeinen Sinn von Krankheit in der Natur am nächsten kommt. Besonders die Gicht ist eine typische „Stoffwechsel-Krankheit“, was nicht nur auf ein körperliches Verdauungsproblem hinweist, sondern auch auf ein geistiges, so daß es an geistiger Verdauung und Beweglichkeit fehlt. So sieht man im Bild, wie die beiden im Vordergrund mit ihrer Krankheit „vorbeigehen“, und zwar eine Treppe hinab in die Tiefe, der Reiche in die körperliche Welt der Materie und der Arme in die geistige Tiefe eines erweiterten Bewußtseins, das Körper und Geist wieder vereinen und heilen kann. Dagegen sieht man den Hinteren in seinem Körperhaus „festsitzen“ neben einer verschlossenen Tür, und er läßt sich körperlich behandeln, wie wir auch heute noch bei den Ärzten sitzen und warten bzw. erwarten, daß sie uns das Störende wegmachen. Einen anderen Sinn von Krankheit kennen wir kaum noch.

2.85. Von der Krätze

Schmerz: Ich bin von schlimmer Krätze befallen.

Vernunft: Nun wundere ich mich nicht mehr, daß du dich über so viel Bitteres beklagst, wenn du sogar dieses Übel bejammerst, das mit etwas Süßem vermischt ist.

Schmerz: Ich werde aber von schwerer Krätze geplagt.

Vernunft: Es gibt Menschen, die Krätze als heilsam bezeichnen. Ich selbst beschreibe dieses schmerzliche Leiden nicht mit angenehmen Worten. Aber ich könnte es eine Quelle der Stärke oder einen Weg zur Stärke nennen. Nur verweichlichte Menschen hassen das kurzzeitig Unangenehme auf einem Weg, der zu einem angenehmen Ziel führt.

Schmerz: Mich nervt die juckende Krätze.

Vernunft: So braucht man keine Uhr. Du hast bei dir, was dich in der Nacht aufweckt und deine Wachsamkeit in Bezug auf die Sorgen einer ehrlichen Beschäftigung wiederherstellen könnte. Denn niemand schläft so tief, daß die Krätze ihn nicht aufweckt.

(Petrarca selbst kannte die Krätze und schrieb z.B. in einem Brief an Gabriel Zamoreo aus Parma: Ich war allein; fern waren meine geliebten süßen Kastalischen Schwestern. Garstige Krankheit hatte sie weit von meiner Schwelle vertrieben, und sie weilten auf dem heimischen Helikon. Sorge trieb meinen Sinn um, die lästige Krätze ließ meine unruhige Hand hier- und dorthin fahren. Lang schon hatte mir kein freundlicher Tag Ruhe geschenkt; nie blieben die stillen Nachtstunden frei von quälendem Schmerz, selbst im Dunkel der Nacht kam der Schlaf nicht freundlicher zu mir. Meine Feder war untätig, das Papier lag vergilbt und verstaubt, und die kranke Hand blieb müßig…)

Schmerz: Ich werde sehr von Krätze gequält.

Vernunft: Eine üble Krankheit mit edlem Heilmittel: Arbeit, Sommerhitze, Bäder, Nachtwache und Diät. Wenn diese nicht helfen, mußt du auf das Mittel der Geduld zurückgreifen, das bei jeder Krankheit das wirksamste Medikament ist.

Schmerz: Ich werde von abscheulicher und unerträglicher Krätze gequält.

Vernunft: Ich bestreite beides nicht. So wie Publilius Syrus einst die Gichtfüße einen „lästigen Müßiggang“ nannte, so kannst du mit meiner Zustimmung die räudigen Hände eine „schmerzliche Beschäftigung“ nennen. Aber warum nicht sagen: „Je schlimmer die Krankheit, desto schöner die Geduld!“ Damit könntest du enormen Nutzen aus diesem kleinen Übel ziehen. Dies ist eines der Dinge, welche die Anhaftung an den Körper vermindern, was für einen Sterblichen überaus nützlich ist.

Schmerz: Ich bin völlig von Krätze bedeckt.

Vernunft: Daß du damit „völlig bedeckt“ bist, ist in der Tat wahr. Und ich fürchte sogar mehr, als du sagen wolltest. Du meintest am ganzen Körper bedeckt. Doch es ist auch eine unsichtbare Krätze, die deinen Geist mit Habgier und Wollust bedeckt und vor allem mit einem Juckreiz nach Rache und Klage, der immer heftiger wird, je mehr man kratzt. Aber diese (geistige) Art von Krätze stört dich wohl nicht, und du möchtest sie auch nicht heilen. Ja, du fühlst sie nicht einmal! Um so mehr kümmerst du dich um das Wohlergehen deines Körpers als um das Wohlergehen deines Geistes und deiner Seele.

Petrarcameister - Von der Krätze

In einer Badestube läßt sich der Kranke vom Bader mit Salbe, Pflastern und Schröpfköpfen, auch mit Bädern gegen sein lästiges Leiden behandeln. Als christliches Beispiel des Dulders in körperlichen Leiden ist links in getrenntem Bild Hiob in einer Landschaft vor seiner armseligen Hütte dargestellt. Die Frau bespeit verächtlich den Kranken, der Hund kennt mehr Zuneigung zu seinem unglücklichen Herrn. - Der Trost, den die Vernunft bei Petrarca zu spenden vermag, ist recht banal: Man brauche bei Nacht nicht mehr geweckt zu werden, das besorge die Krätze. Damit aber mache sie den Befallenen vielleicht emsig und wachsam zu einem ehrlichen Amt.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht könnte man rechts erkennen, wie sich der Mensch körperlich von dieser Krankheit mit der Hilfe eines Baders, dem Betreiber einer Badestube, durch äußerliche Behandlung des Körpers reinigen und heilen will. Auf der anderen Seite jenseits dieser Mauern sieht man dann Hiob in der Natur hinter seinem Haus auf dem „Misthaufen“, aus dem später Asche wurde, wie er mit erleuchtetem Haupt diese äußerliche Krankheit mit Geduld erträgt und eine innerliche Reinheit und Heilung auf einer höheren Bewußtseinsebene sucht, wie man im Buch Hiob gut nachlesen kann. Neben ihm steht seine Frau, die ihn als Mutter Natur herausfordert: »Und seine Frau sprach zu ihm: „Hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit? Fluche Gott und stirb!“ Er aber sprach zu ihr: „Du redest, wie die törichten Weiber reden. Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“ (Hiob 2.9)« Dazu gibt es auch ein Bild von Albrecht Dürer. Und wie in der Badestube die irdische Quelle des materiellen Wassers zur Reinigung fließt, so fließt für Hiob diese Herausforderung als Wasser des Lebens aus einer lebendigen Quelle von Mutter Natur zur Heilung des Geistes. Und die äußerliche Heilung des Körpers überläßt er dem Körperbewußtsein bzw. Tierwesen, das als Symbol des Hundes von Lazarus her bekannt ist: „… doch kamen die Hunde und leckten ihm seine Geschwüre (Luk. 16.21).“

2.86. Von der Schlaflosigkeit

Schmerz: Ich kann nicht schlafen.

Vernunft: Dann bleibe wach und genieße es! Deine Lebensdauer wurde verlängert. Welchen Unterschied gibt es zwischen Schlaf und Tod, abgesehen davon, daß das eine vorübergehend und das andere dauerhaft ist? Ich bin mir aber nicht sicher, ob man mit Recht sagen kann, daß der Schlaf ein kurzzeitiger Tod und der Tod ein langer oder ewiger Schlaf ist.

Schmerz: Ich habe den Schlaf verloren.

Vernunft: Dann muß er zurückgebracht werden, nicht mit Gewalt, sondern sanft. Wenn du dich zu sehr anstrengst, wirst du keinen Erfolg haben. Du kannst ihn nicht erzwingen. Mach etwas anderes, entlaste deinen Kopf und beruhige deinen Geist, und der Schlaf kommt von selbst. Wenn dein Geist frei von Sorgen und dein Körper ausreichend müde ist, wird sich der Schlaf sanft einschleichen.

Schmerz: Mein Schlaf wird oft unterbrochen.

Vernunft: Dann mach es wie Augustus Caesar und laß dir vorlesen oder Geschichten erzählen, bis der Schlaf wiederkommt. Und wenn dich größere Probleme quälen, dann lege sie beiseite, und der Schlaf wird kommen. Vergil hatte dies im Sinn, als er sagte, daß Sorgen einen gesunden Schlaf unterbrechen.

Schmerz: Ich habe auch den Rest des Schlafes verloren.

Vernunft: Und damit schreckliche Träume und angstvolle Nächte. Aristoteles dachte, daß die Träume der Weisen eine gute Sache seien, was vielleicht wahr ist. Doch denke an jenen Mann (Julius Cäsar), der sowohl mit großer Intelligenz als auch mit großer Herrscherkraft ausgestattet war, und an den anderen (Hiob), der ebenso hervorragend in Heiligkeit und Geduld war - beide waren von ihren Träumen sehr beunruhigt. Was andere auf diese Weise erlitten haben mögen, weiß jeder für sich selbst und findet sein eigenes Bett als Zeugen für die erlebten Erscheinungen, Illusionen und Schrecken. Und zufälligerweise wurde auch der erste der beiden, den ich erwähnte, in seinen letzten Tagen von einem Traum erschüttert, wie wir über ihn geschrieben finden. (Denn seine Frau hatte seine Ermordung aufgrund von Albträumen vorausgeahnt.) Und der zweite klagte, daß er inmitten all der vielen anderen Probleme, die ihn bedrängten, vor Träumen Angst hatte und vor Visionen erschrak (Hiob 7.14), wie ich bereits erklärte, als ich damals über Muße und Ruhe sprach (in Buch 1 Kapitel 21).

Schmerz: Ich schlafe weniger als früher.

Vernunft: Dann lebst du auch mehr als früher, denn Schlaf ist wie der Tod, und das Wachen wie das Leben, wie die Gelehrten sagen.

Schmerz: Krankheit vertreibt meinen Schlaf.

Vernunft: Und Gesundung bringt ihn zurück.

Schmerz: Liebe verhindert meinen Schlaf.

Vernunft: Du hast zweimal dasselbe gesagt, denn Liebe ist auch eine Krankheit und vielleicht sogar die größte aller Krankheiten.

Schmerz: Angst tötet meinen Schlaf.

Vernunft: Und Sicherheit wird ihn wieder beleben.

Schmerz: Das Alter raubt mir den Schlaf.

Vernunft: Und der nahe Tod wird ihn wiederherstellen!

Petrarcameister - Von der Schlaflosigkeit

Der Schmerz klagt: „Ich kann nicht schlafen.“ Die Vernunft antwortet: „Wer den Schlaf verloren hat, hat auch keine schrecklichen Träume zu fürchten... Schlaf ist ein kurzer Tod, darum wache und freue dich des Wachseins... Willst du guten Schlaf, so gib dem Haupt Ruhe, dem Körper Arbeit, dem Gemüt leichte Sorge.“ Dazu spricht Petrarca von Kaiser Augustus, der sich Erzähler und Vorleser habe ans Bett kommen lassen. Dieses Beispiel hat Sebastian Brant dem Petrarca-Meister für die bildliche Darstellung genannt. Ein alter Kaiser liegt im Bett. Um seinen Kopf, der die Krone trägt, schwirrt Ungeziefer, wie es als Darstellung von Widerwärtigkeiten schon öfters beobachtet wurde. Um das Bett des Herrschers sind Menschen versammelt, die sich bemühen, die Zeit zu vertreiben und den Schlaf herbeizuführen. Vor dem Bett sitzt ein Harfenspieler, daneben steht ein Musikant mit der Laute (die er falsch mit der Rechten greift und mit der Linken spielt). Zu Füßen stehen drei Sänger, die nach einem aufgeschlagenen Folianten singen. Hinter dem Bett leistet ein Mönch geistlichen Zuspruch, und die beiden Fürsten neben ihm mögen durch Berichte die Qual der Schlaflosigkeit zu mindern suchen.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht kann man Petrarca zustimmen, daß der Schlaf ein kurzzeitiger Tod ist. Das heißt, das Bewußtsein schränkt sich noch mehr als im gewöhnlichen Wachzustand ein, trennt verschiedene Verbindungen und bildet sozusagen noch mehr Blasen als gewöhnlich, die voneinander getrennt zu existieren scheinen, während dann im Wachzustand die gewöhnlichen Prinzipien des menschlichen Bewußtseins wieder verbunden sind und zusammenarbeiten. Und wenn man sagt „Trennung ist Tod, Verbindung ist Leben, und Vereinigung ist Überleben“, dann kann man den Schlaf auch als einen kleinen Tod bezeichnen. Entsprechend könnte man im Bild sehen, wie der altgewordene Geist in seinem Körperhaus als König auf dem Bett bzw. Meer der Ursachen liegt, und ringsherum die Musiker und Sänger als die fünf Sinne, die beiden Fürsten als Ichbewußtsein und begrifflichen Verstand und der Mönch als höhere Vernunft tätig sind und den Geist von Gedanken umschwirren lassen, die mit ihren gegensätzlichen Flügeln wie lästige Fliegen erscheinen, wenn man zur Ruhe kommen und schlafen will.

2.87. Von Albträumen

Schmerz: Ich werde von Albträumen beunruhigt.

Vernunft: Wenn wahr ist, was ein gewisser Weiser gesagt hat, verursachen viele Sorgen Albträume, eine Aussage, die auch von deinen lateinischen Autoren bestätigt wird. So schneide die Wurzel des Übels ab, vertreibe deine Sorgen, und du hast schlechte Träume verbannt. Was nützen so viele Sorgen mit so wenig Gewinn in einem so kurzen Leben, das doch von Anfang an die Vorsehung regiert? Welchen Nutzen siehst du darin, dich selbst zu quälen? Es ist dein Wahnsinn, der dir ein sorgenvolles Leben macht und deine erholsame Ruhe durch unaufhörliche Träume stört. Du willst mit deinen Plänen die Vorsehung Gottes übertreffen und erkennst nicht, wie deine törichten Überlegungen über Raum und Zeit von oben her belächelt werden, welche nicht nur außerhalb deines Ermessens, sondern auch außerhalb deines Wissens liegen. Hörst du nicht Horaz singen: „Mit weiser Absicht verhüllt Gott den Lauf der Zukunft in den Schatten der Nacht und lächelt, wenn die Sterblichen über ihre angemessenen Grenzen hinaus besorgt sind.“

So verwandelst du jeden Moment in ein Problem, trauerst um die Vergangenheit, machst dir Sorgen um die Gegenwart und zitterst ängstlich vor der Zukunft. Du denkst, daß dieser Berg nutzloser Sorgen deiner Qual wert ist, wenn du wach bist, und deiner Albträume, wenn du schläfst. Wenn es wirklich wahr ist, daß entweder die menschliche Natur oder ihre Sünde dazu führen kann, daß sogar ein sorgloser Geist durch Träume gestört wird, ist es dann nicht ebenso wahr, daß von tausend Träumen nicht einer der Wahrheit entspricht? Da wir so oder so getäuscht werden können, wäre es doch besser, sich von Träumen abschrecken zu lassen, als sich an ihnen zu erfreuen, so daß man besser von bitteren als von süßen Dingen träumt. Denn schlechte Träume sind nützlich, um die Täuschung aufzulösen, aber an freudigen Träumen hält man sich fest.

Schmerz: Ich bin erschöpft von Albträumen.

Vernunft: Vergiß all diesen Unsinn, und du wirst dich erholen. Wenn du das nicht kannst, dann suche Trost bei Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, insbesondere bei den beiden (Julius Cäsar und Hiob), die ich erwähnt habe, als du dich über deine Schlaflosigkeit beschwert hast.

Petrarcameister - Von Albträumen

In einer vornehmen Schlafstube mit Marmorfußboden liegt die reiche Frau auf ihrem Lager unter einem Baldachin. Ihr Bett ist auf Truhen und Laden bereitet, die ihren Besitz bergen. Sie schläft auf ihrem Geld. Diese Angst um ihren Besitz geht in ihre Träume ein. Sie träumt, daß ihr ein kleiner Kobold ihren Beutel entführt, und mit gequälter Miene sucht sie ihre Habe zu halten. Während sie sich so um ihren Besitz ängstigt, naht von links ein Teufel und langt mit einem Enterhaken nach ihr. Diesen Teufel beachtet die Frau nicht, er ist nicht in ihren Träumen. Er aber hat es nicht auf Hab und Gut, sondern auf die Seele abgesehen. - Brant hat in seinen Angaben für dieses Bild auf seine Ausgabe des „Aesop“ zurückgegriffen, wo Einzelheiten der Darstellung schon vorgebildet waren. Die „Moral“ ist deutlich: Über der Sorge um das Geld ist das Seelenheil vergessen worden. - An Petrarcas Ausführungen ist wichtig, daß er als Humanist und Vater neuer Naturerkenntnis den Traum als Orakel ablehnt. Traum sei Trug und kaum einer unter Tausenden sei ein Wahrtraum. - Wenn der Petrarca-Meister die Frau nackt schlafen läßt, so gibt er damit die Sitte seiner Zeit wieder, wie sie in Chroniken des 16. Jahrhunderts als eine Besonderheit der Deutschen geschildert wird.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht können wir hier die nackte Seele als ein weibliches Wesen sehen, die als eine Welle des Bewußtseins auf dem Meer der Ursachen bzw. Möglichkeiten mehr oder weniger schläft und träumt. Sie träumt von einem eigenen Körper, von einer eigenen Hülle, von eigenen Taten und sonstigem Eigentum, welches sie ergreift und in ihrem „Bettkasten“ ansammelt, sozusagen das Karma, auf dem sie schläft. So sagt man, der Teufel, als ein von Gott bzw. der Ganzheit abgefallener Engel, verführt sie, will sie einfangen und in die ewige Dunkelheit binden, vom Licht Gottes bzw. ganzheitlichen Bewußtsein abgetrennt. Durch dieses trennende Bewußtsein ernährt sich die Seele von den Früchten vom Baum der Gegensätze, von Gut und Böse, Mein und Dein, Gewinn und Verlust usw. Dadurch erkennt sie auch „andere Wellen“ auf dem Meer der Ursachen, die ihr freundlich oder feindlich begegnen, die miteinander spielen, sich treffen und wieder verlieren. So können alle möglichen Träume erscheinen, die sicherlich wirklich sind, sofern sie eine Wirkung haben, aber auch Illusionen sind, sofern verschiedene Formen entstehen und vergehen, und sogar Wahrheit, soweit es Bewußtsein ist. Einen Lösungsvorschlag zur Erlösung könnte der Petrarca-Meister mit der Hochzeitsgirlande rechts oben andeuten, nämlich die mystische Hochzeit, welche die Gegensätze nicht nur zum Leben verbindet, sondern zum Überleben vereint, zu einem ganzheitlichen Bewußtsein bzw. reinen Gottbewußtsein, das aus Schlaf und Träumerei vollkommen erwacht ist.

2.88. Vom lästigen Ruhm des eigenen Namens

Schmerz: Ich bin berühmter und bekannter, als es mir lieb ist.

Vernunft: Verachtest du das, was die größten Feldherren, Könige, Philosophen und Dichter begehrt haben? Warum sonst so große Anstrengungen, so viele Kriege und so viel Studium? Warum streben alle großen Künstler danach? Dies verfolgte auch Phidias mit seiner Minerva-Statue (bzw. Athene), die ich als das herausragendste oder eines der herausragendsten Kunstwerke betrachte, das jemals von Menschenhand geschaffen wurde. Als es ihm verboten wurde, es zu signieren, meißelte er sein eigenes Gesicht in den Schild der Statue, damit er allen bekannt sein würde, und sein Gesicht konnte niemals von dort entfernt werden, wo es war, es sei denn, das gesamte Werk wurde zerstört. So wollte er unbedingt durch das Verdienst seiner Arbeit anerkannt werden.

Wenn jemand sagt, daß Künstler nicht nach Ruhm, sondern nach Geld trachten, müßte ich wohl zustimmen, was die gewöhnliche Art betrifft. Aber ich bestreite es in Bezug auf die allerbesten Künstler. Dafür gibt es viele Anzeichen, wie die Art und Weise ihrer Bemühungen unabhängig von der Zeit, die sie aufwenden, und den materiellen Verlusten, die sie erleiden. Sie verschmähen sogar bares Geld, um ihren Ruhm nicht zu beeinträchtigen. Dies zeigt sich am besten an der edlen Beharrlichkeit jener vier Meister, denen hohe Honorare versprochen worden waren, um an diesem weltberühmten Denkmal zu arbeiten, das Artemisia, die Königin von Karien, zum Gedenken an ihren verehrten Ehemann errichten wollte. Als die Königin, die sie entschädigen sollte, vor Abschluß der Arbeiten starb, erklärten sich alle vier bereit, ihre Arbeit bis zum Abschluß fortzusetzen, denn sie dachten nur an ihren Ruhm und die Erinnerung an ihre Heldentat. So sehr sehnt sich jeder nach Ruhm und Ansehen. Und du willst dafür nicht ein wenig Mühe bezahlen!

Schmerz: Ja, auch ich möchte in der Nachwelt berühmt sein, aber nicht so gern unter meinen Zeitgenossen.

Vernunft: Warum? Befürchtest du, daß dies schwerer und nur selten zu erreichen ist, weil nagender Neid den Ruhm der Menschen angreift, solange sie leben?

Schmerz: Ja, wahren Ruhm gibt es nur für diejenigen, die nicht mehr anwesend sind. Für sie gibt es kein Hindernis und keinen Widerstand mehr. Aber für diejenigen, die leben und hier sind, gibt es Widersprüche und Schwierigkeiten, wie man zu Recht sagt: „Groß ist die Mühe, einen großen Namen zu bewahren!“

Vernunft: Du bist entweder überempfindlich oder einfach nur faul. Du hoffst, ohne Mühe etwas Ruhmreiches zu gewinnen, wenn selbst für die kleinsten Dinge so viel Mühe erforderlich ist!

Schmerz: Ich scheue nicht die Mühe, aber die Bedrängnis. Wer kann es ertragen, ständig besucht, belagert, befragt und belästigt zu werden? Wer kann es ertragen, gezwungen zu sein, seine eigenen Sorgen zu vernachlässigen, um jeden Tag und den größten Teil seines kurzen Lebens anderen zu widmen, seine eigenen Bedürfnisse zu mißachten und die Wünsche anderer zu befriedigen? Das ist ein lästiges Übel, das mir, wäre es zu Beginn meines Weges geschehen, niemals den Ruhm hätte verschaffen können, der mich jetzt quält! Es behindert die erhabenen Überlegungen meines Geistes sowie bedeutende Unternehmungen.

Vernunft: Ich bestreite nicht, daß dies so ist, was sicherlich hart, aber erträglich, verhaßt und doch wünschenswert ist. Ich akzeptiere, was auch immer dein Urteil ist, und dennoch ist all dies unvermeidlich. Wie kann man das vermeiden, außer durch Arroganz oder Trägheit? Das erste wird diejenigen fernhalten, die einen aufrichtigen Wunsch haben, dich aufzusuchen, und das zweite wird jeden solchen Wunsch vollständig auslöschen. Wenn es ein Heilmittel gibt, ist es die Flucht aus der Stadt, obwohl der Ruhm seinem Besitzer folgt, wohin er auch geht, und bei ihm bleibt, wo immer er auch sein mag. Eine Person, die in der Stadt berühmt ist, hört nicht auf, auf dem Land oder in den Wäldern berühmt zu sein. Man kann die Aura des Ruhms nicht verbergen. Er leuchtet in der Dunkelheit und zieht sowohl die Augen als auch die Herzen an.

Hast du nicht von Dandamus gehört, diesem berühmten alten Brahmanen, den Alexander von Mazedonien sogar in der einsamen Wildnis des fernsten Indiens besuchte, und von Diogenes, dem Kyniker, den er in seinem Faß aufsuchte, das er als mobile Unterkunft benutzte? Hast du nicht von Scipio Africanus gehört, der sogar in diesem verlassenen und trostlosen Dorf Liternum von Räubern besucht wurde, die in Frieden kamen, nur um seine Tapferkeit zu verehren, wie auch die Anführer der Feinde jenseits des Meeres? Kennst du nicht auch Titus Livius, dessen Besucher von den äußersten Grenzen von Gallien und dem fernen Spanien bis in die Stadt Rom kamen? Und hast du nicht von den heiligen Vätern gehört, die sogar von römischen Kaisern aufgesucht wurden, obwohl sie in den entlegensten und einsamsten Verstecken der Wüste lebten? Ganz zu schweigen von Salomon. Welcher berühmte Mann war in der Tat jemals ohne Besucher? Berühmte Persönlichkeiten und ihre Freunde unterhalten sich gern und tauschen Geschichten aus, während Fremde ohne Ruf vom bloßen Anblick der Großen profitieren. Denn es gibt etwas Wohltuendes in der Gegenwart berühmter Männer, was nur der kennt, der es wirklich erlebt hat. Du solltest dies nicht als mühsam bezeichnen, obwohl ich zugebe, daß es zeitaufwendig ist. Aber es ist auch etwas Herrliches!

Schmerz: Mein ruhmreicher Name belastet mich.

Vernunft: Wenn du ihn ablegen willst, mußt du auch die Tugend ablegen, die Wurzel, aus der er entsprang. Doch wenn du dich zu Recht weigerst, dies zu tun, dann mußt du diese Last mit geduldigem Geist tragen, was die meisten Menschen nicht können, egal wie sehr sie sich ihr ganzes Leben lang anstrengen. Aber vielleicht kannst du dies erreichen. Also laß dich von denen betrachten, die dich nicht besuchen würden, wenn sie dich und deinen Ruhm nicht liebten!

Schmerz: Viele Menschen loben mich überall, was geschmacklos und widerlich ist.

Vernunft: Würdest du es vorziehen, daß sie dich verachten und ablehnen würden?

Schmerz: Unzählige ehren mich bis zum Überdruß.

Vernunft: Du solltest dieses Geschenk Gottes anerkennen. Er ehrt dich, damit es dir gefallen würde, Ihn zu ehren, und dich betrüben würde, Ihn nicht zu ehren. Jede Ehre und jeder Vorteil, der einem Menschen von Menschen zuteil wird, kommt von Gott.

Schmerz: Übermäßige Ehrungen und ständige Besucher sind eine lästige Sorge.

Vernunft: Das gebe ich zu. Aber Liebe und tiefe Bewunderung, die Wurzeln dieser Sorge, sind in der Tat süß. Wenn du diese in deinem Geist genießt, werden dir die Belästigungen besser schmecken. Mildere das Bittere mit dem Süßen, nicht nur in dieser Angelegenheit, sondern allgemein in allen Dingen, egal was das Leben bringen mag, in dem es nicht leicht ist, Honig zu finden, der nicht mit Galle vermischt und von ihrer Bitterkeit überwältigt wird.

Schmerz: Das Übermaß an Berühmtheit erschöpft mich.

Vernunft: Dies kommt häufig vor. Wir wissen, daß sich der vergöttlichte Vespasian am Tag seines Triumphes darüber beklagte. Erschöpft von der Anspannung und der Langweiligkeit der feierlichen Prozession, machte er sich Vorwürfe, daß er so ein Dummkopf war und in seinem Alter einen Triumph wollte, als ob es seinen Vorfahren geschuldet wäre oder jemals zu seinen eigenen Ambitionen gehört hätte. Obwohl Ruhm als solcher nicht wünschenswert ist, muß er dennoch ertragen und geliebt werden, soweit er das Ergebnis von Tugend und Fleiß ist. Diese beiden solltest du auch niemals verlassen, um sich unerwünschter Berühmtheit zu entziehen, denn ruhmvolle Arbeit ist viel wünschenswerter als faule Ruhe.

Schmerz: Ich habe genug von all diesen Leuten, die mich überall begrüßen.

Vernunft: Im Philosophen Chrysippus findest du einen Leidensgenossen. Und in allen, außer denen, die sich über das Gesäusel des Volkes freuen, um Virgils Worte zu gebrauchen. Aber deine Beschwerde ist ausgezeichnet. Ich glaube die Geschichte, daß sich dieser hochintelligente Mann Chrysippus, der völlig in sein Studium vertieft war, über häufige und unerwartete Begrüßungen so aufregte, daß er, wie er selbst sagte, von ihnen zu Tode gebracht wurde. Du hast aber eigentlich nichts zu bemängeln. Was du wolltest, ist geschehen: Du bist den Menschen bekannt. Sonst würdest du dich nicht dem Ansturm so vieler Begrüßungen aussetzen. Man könnte sich verstecken, man könnte sich zurückziehen und Ruhe haben, man könnte sich, wie man so schön sagt, im eigenen Busen amüsieren, was manche als die beste Art des Lebens ansehen. Aber ihr Menschen wollt in den großen Städten bekannt und berühmt sein und gleichzeitig entspannt, frei und unbelastet leben. Das ist wie der Versuch, inmitten eines großen Sturms auf See still zu stehen. Und es braucht schon einen überaus stolzen Menschen, um die Worte anhänglicher Freunde gelassen ertragen zu können, obwohl er genau das in Bezug auf die Worte seiner Feinde tun muß.

Petrarcameister - Vom lästigen Gefeiertwerden des eigenen Namens

Die etwas ungewöhnliche Klage des Schmerzes „Ich bin berühmter und bekannter, als es mir lieb ist!“ dient nur dazu, Petrarcas Gedanken über das Thema „Ruhm“, ein Hauptthema der Renaissance, zur Entwicklung zu bringen. Vortreffliche Philosophen, Poeten und Werkleute hatten nicht nach Gewinn, sondern nach Ruhm und Ansehen getrachtet… Sebastian Brant hat dem Petrarca-Meister das alte biblische Gleichnis vom „unter den Scheffel gestellten Licht“ als Anregung zur Illustration gegeben. Der Mann mit dem Doktorhut links in der bildlichen Darstellung führt das Wort genau aus. Nur ist der Scheffel zu klein, um das Licht zu verbergen. Ebenso geht es dem Mann im Hintergrund, der mit einem Löschhütchen, wie es zum Löschen der Kerzen verwendet wurde, die Kirchtürme verdecken möchte. Rechts auf dem Katheder sitzt ein gelehrter Magister, der verschämt sein Gesicht hinter einem Lichtschirm verbergen möchte, um nur seine Werke, nicht aber seine Person gelten zu lassen.

Soweit schreibt Walther Scheidig zum Bild. Aus geistiger Sicht kann man drei Ebenen sehen, um die Welle bzw. das Licht des Bewußtseins vor den Augen der „Anderen“ zu verbergen. Im Vordergrund sieht man auf der linken Seite den Gelehrten der die Lampe des begrifflichen Verstandes unter einem Worfelkorb verbergen will, mit dem man gewöhnlich die „Spreu vom Weizen“ trennt, um dieses Licht nur persönlich zu besitzen. Rechts sieht man den Magister, der zwar seine Weisheit mit anderen teilen will, aber sich selbst als Mensch, in dem die Quelle des Lichtes liegt, hinter dem „Lichtschirm“ verbergen will und nur das lehrt, was „im Buche steht“, sozusagen „objektives Wissen“. Und im Hintergrund sieht man einen Mann der sich körperlich so groß und mächtig fühlt, um sogar das göttliche bzw. ganzheitliche Licht des Bewußtseins unter seinem „Löschhütchen“ zu verbergen, wie es auch heute die Wissenschaft immer noch versucht und erklärt, daß dieses Licht des Bewußtseins nur eine elektrochemische Ausdünstung der Gehirnzellen sei, obwohl es doch diese ganze Welt der vielfältigen Formen erscheinen läßt, die Vielfalt der Körper in ihren Häusern und Burgen sowie die Vielfalt der Religionen in ihren Kirchen auf Erden bis zu den Wolken der Unwissenheit am Himmel. Und das ist wohl auch die tiefere Bedeutung des biblischen Spruchs: „Man soll sein Licht nicht unter den Scheffel stellen. (Luk. 8.16, Mark. 4.21)“ Wir sollen das reine Licht des Bewußtseins nicht unter das Körperliche stellen, mit keinem Maß des Verstandes begrenzen oder vom Materiellen verdunkeln lassen, und gleich gar nicht vom „Geldscheffel“, sondern als ein ganzheitliches Licht durch alles hindurchscheinen lassen. „Denn es ist nichts verborgen, das nicht offenbar werden soll, und es ist nichts geheim, das nicht an den Tag kommen soll. (Mark. 4.22)

2.89. Über den Schmerz des schlechten Verhaltens

Schmerz: Das schlechte Verhalten der Menschen schmerzt mich.

Vernunft: Wenn es dir so geht, weil dich die Liebe bewegt, dann lobe ich dich. Wenn du jedoch von Zorn und Empörung bewegt wirst, dann lobe ich dich nicht. Was geht dich das Verhalten anderer an, solange du dich gut (bzw. heilsam) verhältst? Erkennst du jetzt zum ersten Mal das Verhalten des gewöhnlichen Volkes? Oder hast du das Gefühl, daß dich das Leben zu wenig herausgefordert hat, so daß du auch die Sorgen übernehmen willst, die andere wachrütteln, und versuchst, das zu erreichen, was weder Kunst noch Natur bewirken konnte, und wovon du nur Ermüdung und Schmerz erhoffen kannst? Das dachten in der Tat diese beiden Philosophen (Heraklit und Demokrit, die zum Materialismus neigten), von denen der eine immer weinte, wenn er hinausging und der Öffentlichkeit begegnete, während der andere über das Verhalten der Menschen lachte. Das geschah nicht ohne Grund, doch der eine schien von Mitleid getrieben und der andere von Stolz.

Schmerz: Wer kann dieses ehrlose und absurde Verhalten der Menschen ertragen?

Vernunft: Wie könntest du es im Notfall ertragen, gewaltsam entehrt zu werden, wenn du die Ehrlosigkeit nicht einmal bei anderen ertragen kannst? Laß sie sich verhalten, wie sie wollen, und verhalte du dich, wie du willst und wie es sich gehört: So kannst du deine Rache ausüben. Denn ehrliches Verhalten beleidigt lüsterne Augen nicht weniger als lüsternes Verhalten die Augen ehrlicher Menschen. Laß sie in ihrem Verhalten auf den Rat der Wollust hören, und höre du auf die Tugend! Licht ist nie willkommener als wenn es ringsherum dunkel ist, noch ist die Tugend strahlender als inmitten von Lastern. Warum beschwerst du dich? Dein geduldiges Ertragen verleiht deinen Taten Glanz.

Schmerz: Wer kann diesen kranken Geist und all diese Eifersüchtigen ertragen?

Vernunft: Laß sie auf sich selbst eifersüchtig sein und suche keinen anderen Henker, als sie selbst es sind. Sie quälen sich ausreichend mit ihrem eigenen Unglück und verzehren sich, verärgert über das Glück anderer. Du brauchst Menschen nicht bemitleiden, die aus eigenem Antrieb leiden. Die Krankheiten des Geistes sind nicht so ansteckend wie die des Körpers und können diejenigen nicht anstecken, die nicht angesteckt werden wollen. Ein edler Geist wird in der Tat durch seinen Haß auf die Laster mit der Liebe zur Tugend entflammt.

Schmerz: Wer kann so viel Unverschämtheit ertragen?

Vernunft: Die Demut! Und sie wird um so angenehmer, je mehr sie von stolzer Überheblichkeit belagert wird.

Schmerz: Wer kann so viel Betrug ertragen, so viele Künste der Habgier und so viele Arten von Verderbnis?

Vernunft: Dann verwirf diese Dinge, die dich mit Recht abstoßen, und hüte dich davor, daß nicht andere an dir verurteilen müssen, was du an ihnen verurteilst.

Schmerz: Welche Zügellosigkeit der Völlerei!

Vernunft: Nüchternheit ist am besten unter Betrunkenen. Wo alle gut sind, zeichnet sich niemand aus.

Schmerz: Was ist mit all den Lügen?

Vernunft: Wenn dich Lügen stören, dann übe Wahrheit!

Schmerz: Was ist mit der Tyrannei im ganzen Land?

Vernunft: Weder Waffen noch Reichtümer können dir helfen. Nur die Tugend macht dich frei!

Schmerz: Ich hasse diese ganze Welt!

Vernunft: Es ist besser, Mitgefühl mit den Elenden zu üben, als sie zu hassen. Es sei denn, du bist durch dich selber unglücklich. Warum überläßt du nicht der Welt ihre Wege und versuchst, deine eigenen zu verbessern? Wende deine Augen von anderen Menschen ab und betrachte dich selbst! Damit vermeidest du den Haß, und wenn du auch die Welt nicht verbessern kannst, so verbessere zumindest dich selbst, was du tun kannst und solltest. Und sobald du dies getan hast, wirst du keinen Grund mehr haben, zu glauben, daß du umsonst geboren wurdest.

Petrarcameister - Über den Schmerz des schlechten Verhaltens

Petrarca spricht von der Sittenlehre der Philosophen des Altertums. Heraklit habe mit Weinen und Klagen die Menschen zu besseren Sitten bringen wollen, Demokrit dagegen mit Spott und Lachen. Im übrigen rät Petrarca „ein jeder kehr' vor seiner Tür“ und sagt: „Laß du der Welt ihre Weise und Sitte ... bessere und reformiere deine eigenen Sitten. Kehre deine Augen vor den anderen auf dich selbst!“ - Der Petrarca-Meister ist, wo es sich darum handelt, böse Sitten darzustellen, überraschend zahm. Brants Hinweis, den lachenden und den klagenden Philosophen mit in das Bild aufzunehmen, kann lähmend gewirkt haben. In einer Halle sind junge Leute in der Kleidung des 16. Jahrhunderts zum Spiel von einem Trommler und einem Pfeifer beim Tanz. Die einzigen Übertreibungen, die sie sich zuschulden kommen lassen, sind ein Handstand und eine „Brücke“; dazu ein Pärchen, das sich beim Tanzen zärtlich umfaßt. Inmitten des Getümmels stehen die beiden „Philosophen“, rechts der scheltende Heraklit, in der Mitte des Bildes, sich belustigend, Demokrit.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht steht das Problem: „Ich bin anders als andere!“ Einerseits will das Ich anders sein, und anderseits kann es genau das nur schwer ertragen, weil diese Trennung eine Quelle des Leidens ist. Damit steht hier die große Frage: „Warum will Ich etwas Besonderes sein, wenn Ich doch Alles sein könnte?“ Dazu können wir im Bild wieder einen Blick in das Innere des Körperhauses wagen: Die Sinne als Pärchen von Männlich und Weiblich bzw. Geist und Natur tanzen zu ihrer Musik im Spiel der Welt, aber jedes Paar für sich selber, mehr oder weniger verliebt. So tanzt auch links das Ichbewußtsein mit dem Federhut schwungvoll mit der Mutter Natur, die aber im Bild vom „Verstand“ verdeckt wird, der gern verkehrtherum auf den Händen „steht“, wie wir die Welt oft verkehrtherum betrachten, wenn z.B. das Bewußtsein der Materie bzw. der Geist der Natur untergeordnet wird oder wir viele Wege gehen, die zum Glück führen sollen, aber doch im Leiden enden. So vergnügt und erfreut sich das bärtige Ego am Tanz der Sinne und des närrischen Verstandes im Spiel der Gegensätze von Trommel und Pfeife, die im Licht des „großen Fensters“ aufspielen. Dazwischen stehen die beiden Philosophen, sozusagen mit einem „weinenden und einem lachenden Auge“. Sie sollten eigentlich die Weisheit zu einer höheren Vernunft liefern, aber offenbar werden auch sie von diesem Possenspiel der Gedanken mitgerissen, so daß sie im Spiel der Gegensätze als Zwei erscheinen, was doch nur Eins sein sollte, nämlich eine ganzheitliche Vernunft. Dazu könnte im Vordergrund die Lösung angedeutet werden, nämlich die „Brücke des Verstandes“, der sowohl auf den Füßen als auch auf den Händen stehen sollte, um die Gegensätze von Lachen und Weinen, Arroganz und Mitleid, Geist und Natur, Ich und Andere sowie Gut und Böse nicht nur zu verbinden, sondern in einem höheren Bewußtsein zu vereinen, das sich aus den Gegensätzen vom begrifflichen Verstand zur ganzheitlichen Vernunft erhebt.


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