Heilung von beiderlei Glück - Francesco Petrarca

2.90. Vom Ärger über Kleinigkeiten

Schmerz: Ich hasse den unruhigen Lärm der Stadt.

Vernunft: Dann wirst du die Ruhe des Landlebens und des Waldes lieben. Doch wenn du nicht fliehen kannst, dann versuche, den unruhigen Lärm zu ignorieren.

Schmerz: Ich habe die streitenden Leute satt.

Vernunft: Solange du ihnen zuhörst, wirst du keine Ruhe finden!

Schmerz: Ich werde vom Lärm der Leute bedrängt.

Vernunft: Dann höre nicht auf sie! Fast alles, was gewöhnliche Leute sagen, ist entweder nichtig oder falsch. Wenn du ihrem Lärm und verwirrten Geschwätz nicht entkommen kannst, dann höre sie, wie das Brüllen von Ochsen, das Blöken von Schafen oder das Brummen von Bären. Denn wessen Stimmen sind das, wenn nicht von Tieren, mehr oder weniger wild oder zahm?

Schmerz: Ich bin sehr beunruhigt vom Lärm der Menschenmenge.

Vernunft: Dann stell dir vor, du lauschst dem Rauschen von Wasser, das über Felsen fließt. Überzeuge dich selbst, daß du an der Quelle des Wassers bist, wo der klarste aller Bäche mit ohrenbetäubendem Lärm durch eine gewaltige Schlucht sprudelt, oder an den Stromschnellen bei Reate (Rieti), wo die Nar (Nera) aus steilen Felsen in den Tiber donnert. Oder denke an den Ort Catadupa, wo nach den Worten von Cicero der Nil aus hohen Bergen herabstürzt. Oder an ein ähnliches Erlebnis, wie man berichtet, daß die Donau ins Schwarze Meer mündet. Oder stell dir die ligurischen Berge vor, wenn der Südwind den Himmel öffnet und der Platzregen auf die Felsen stürzt. Oder wie in Sizilien Skylla und Charybdis im wilden Sturm das Meer aufwirbeln. Diese Vorstellungen werden dich lehren, mit einer gewissen Freude hinzunehmen, was du jetzt als Ärgerlichstes empfindest.

Schmerz: Ich werde auch von bellenden Hunden belästigt.

Vernunft: Wer gelernt hat, das Bellen der Leute zu ertragen, regt sich nicht mehr über bellende Hunde auf, denn es gibt weniger Hunde als Menschen, und sie sind weniger wild und bissig.

Schmerz: Auch nervös wiehernde Pferde und untreue und unverschämte Diener sind mir nicht nur lästig, sondern sogar gefährlich.

Vernunft: Ich habe dir bereits gesagt, was ich von diesen beiden halte, und ich habe meine Meinung nicht geändert. Ich füge nur noch hinzu: Um der Belästigung durch das Pferd zu entgehen, kannst du dich immer noch auf deine Füße verlassen, und soweit es den Diener betrifft, auf deine Hände. Du mußt nicht über etwas klagen, auf das du verzichten kannst, wenn du nur wirklich willst.

Schmerz: Ich werde auch von der Fliegenplage belästigt.

Vernunft: Paß auf, daß du durch diese Fliegenplage nicht selbst zur Fliege wirst und im Glauben, daß die Fliege von jemand anderem als Gott erschaffen wurde, in die Gewalt dessen gerätst, den man „Herr der Fliegen“ nennt (Beelzebub), was einem Betroffenen mit einer ähnlichen Plage widerfahren ist. Dies beschreibt Augustinus in seinem berühmten Vortrag zum Anfang des Johannes-Evangeliums („Im Anfang war das Wort…“), und sagt, daß Fliege, Floh, Raupe, Mücke, Wanze, Heuschrecke und andere Insekten dieser Art nicht ohne Grund von Ihm erschaffen wurden, der sah, daß alles, was er gemacht hatte, sehr gut war. Und wenn es keine anderen Gründe gäbe, sollte dieser allein bereits stark genug sein, um den menschlichen Stolz zu zähmen. Denn Gott hätte Löwen, Tiger oder Schlangen gegen die Ägypter schicken können. Aber er hat winzige und niedrige Geschöpfe gesandt, um die Macht des Himmels und die Zerbrechlichkeit aller irdischen Dinge deutlich zu machen (2.Mose 8.13).

Schmerz: Ja, ich werde auch von Flöhen geplagt.

Vernunft: Dann beruhige dich mit heilsamen Gedanken! Denke daran, daß einem Menschen kein schlimmeres Übel als die Sünde widerfahren kann. So werden nicht nur solche geringfügigen Probleme nützlich, sondern auch die schwierigen und schwerwiegendsten. Woher weißt du, daß, wenn die Flöhe verschwinden, du nicht in Trägheit fällst oder von bösen Begierden überwältigt wirst? Vertraue doch, daß alles gut ist, was dir geschieht, und es wird in Ordnung sein.

Schmerz: Ich kämpfe aber jede Nacht gegen die Flöhe und verliere immer.

Vernunft: Was für ein Stolz von Schatten und Asche? Und wie überheblich, ein hilfloser Lehmklumpen, der von Flöhen besiegt wird? Willst du Gott trotzen, wie ein ungezähmtes und unwissendes Tier?

Schmerz: Ich werde aber von Flöhen beleidigt.

Vernunft: Warum beleidigst du dann andere Menschen, wenn du dich nicht einmal vor Flöhen schützen kannst? Du, die edelste aller Kreaturen, wirst von einem kleinen, gemeinen Tier überwältigt! Du willst deine Mitmenschen verschlingen, aber wirst von Flöhen gefressen!

Schmerz: Ja, ich werde von Flöhen geplagt.

Vernunft: Alle irdischen Dinge sind dazu gemacht, dem Menschen zu dienen, um ihn zu ernähren, zu bekleiden, zu tragen, zu beschützen, zu trainieren, zu unterrichten oder an seinen Platz zu erinnern. Manche auch, um ihn zu erfreuen und seine Lebensgeister wiederzubeleben, wenn ihn seine Angelegenheiten ermüden, und manche sogar, um schädliche Begierden zu bändigen und durch heilsame Erschwerungen eine Verachtung dieses Lebens und damit eine Sehnsucht nach einem höheren Leben einzuflößen. Wieviel mehr, frage ich dich, würde der Tod gefürchtet werden, wenn das Leben frei von allen Sorgen wäre? Wieviel mehr würde es den Sterblichen gefallen, unheilsam zu leben, wenn es nichts zu befürchten gäbe? Doch so sind die Freuden des Lebens für die Lebenden nicht gewinnbringender als die Schönheit eines Weges, den man gehen muß. Und Schwierigkeiten sind oft nützlich, weil sie das Erreichen des Zieles um so wünschenswerter machen.

Schmerz: Auch die Nachtvögel stören mich mit ihren klagenden Liedern.

Vernunft: Ich glaube nicht, daß du Philomela meinst, die Nachtigall, von der Virgil sagt, daß sie die ganze Nacht weint, auf einem Zweig sitzt, ihre Klagen wiederholt und mit ihrem traurigen Lied die Umgebung erfüllt? Ihre Trauer ist doch süß, ihr Lied so angenehm und ihre Klage so köstlich. Vielleicht kommt dir das Käuzchen traurig vor oder der große Uhu, unheilvoll und berüchtigt in der Poesie, obwohl du bei Josephus lesen kannst, daß diese Vögel auch Günstiges ankündigen können. Es ist allerdings lächerlich, daraus Hoffnung oder Angst zu ziehen, denn die traurigen Blicke von Eulen und vielen anderen Lebewesen und ihre klagenden Lieder sind beide natürlich. Sie singen nicht so, um dir etwas zu sagen, sondern weil sie nicht anders singen können. Gib ihnen die Stimme der Nachtigall, und sie werden süßer weinen! Ansonsten gehorchen sie nur ihrer Natur. Doch du versuchst in deinem Wahnsinn, die Natur zu zwingen, deinem Aberglauben zu gehorchen!

Schmerz: Die Eule im Turm neben mir nervt mich die ganze Nacht.

Vernunft: Du hast ja gehört, daß eine solche Eule auch die Nächte von Kaiser Augustus gestört hat. Und wer, frage ich, könnte einen Vogel zurückhalten, der sogar den Herrscher der Erde störte?

Schmerz: Und Mäuse befallen meine Kammer.

Vernunft: Woher weißt du, ob sie nicht in der Kammer geboren wurden, die du vielleicht erst seit kurzem bewohnst? Dann könnten sie sich mit Recht auch über dich beschweren, einen Fremden, der sie an ihrem Heimatort belästigt. Aber Spaß beiseite, es gibt nur einen Grund für ihre Anwesenheit. Du mußt ein von ihnen bedrängtes Leben führen, damit du lernst, dich nach einem anderen zu sehnen, um deinen Geist auf das kommende Leben vorzubereiten, wo es weder Mäuse noch Diebe, weder Motten noch Schäden, weder Spinnen noch Belästigungen gibt.

Schmerz: Mich stört auch das endlose Quaken der Frösche und Zirpen der Zikaden.

Vernunft: Stell dir einfach vor, sie spenden dir Trost. Deine Meinung formt eine Sache, wie sie will. Nicht, daß sie die Wirklichkeit verändert, aber sie verändert dein Urteil und beeinflußt deine Sinne. Einst stand ein Mann, der auf dem Land lebte, mitten in der Nacht auf und bewaffnete sich mit Steinen und Stöcken, um die Nachtigallen zu vertreiben. Als das nicht ausreichte, befahl er, die Bäume rund um sein Haus zu fällen, damit die Vögel ohne ihre grüne Bleibe verschwinden würden. Aber sie blieben und zwangen ihn, wegzugehen. Und gequält von ihren aufdringlichen Gesängen zog er an den Sumpf in der Nähe eines Flusses und lauschte begierig dem nächtlichen Quaken der Frösche, das er ebenso melodiös und harmonisch empfand wie den Klang der Leier. Was für ein verrückter Mann, der zur Menschheit gehören will, aber eher zu den quakenden Fröschen gehört. Doch man sagte, daß dieser Mann, wenn es um gewöhnliche Geschäfte ging, überhaupt nicht verrückt war. Deshalb erinnere ich mich an dieses Beispiel, weil es die Macht der Meinung über alle Dinge verdeutlicht.

Schmerz: Laute Frösche und Zikaden beleidigen mich.

Vernunft: Sie sind nicht laut, um dich zu beleidigen, sondern weil sie die Vorteile der Natur nutzen, die ihnen gegeben wurden. Aber auch das tut deiner arroganten Ungeduld weh, genauso wie alles andere, was nicht den Wünschen deiner Augen und Ohren entspricht. Aber um die Geschichte deiner Fehler mit den Geschichten der Alten zu verbinden, stell dir einfach vor, daß die quakenden Frösche mit ihren rauhen Stimmen an ihre alten Probleme mit der rachsüchtigen Leto erinnern, und daß die Zikaden mit ihrem lauten Zirpen Tithonus willkommen heißen, der in eine von ihnen verwandelt wurde. Vielleicht kümmern sie sich so um ihre Probleme, wie du dich um deine kümmern solltest!

Warum beschuldigst du die Natur immer zu Unrecht und tadelst unschuldige Kreaturen, während du viel schwerwiegendere Probleme ignorierst, die du wiederum anderen zufügst? Ganz zu schweigen von den Räubern der Städte und den Tausenden von Tricks, um zu schaden und zu verletzen, sowie den tausend Arten von Gewalt und Betrug, die in jedem Haus und an jeder Straßenecke im Überfluß vorhanden sind. Ganz zu schweigen von den Dieben in der ganzen Welt und den Straßen, die von Räubern heimgesucht werden, welche heute einen Großteil der Erde unzugänglich gemacht haben und anderen Sterblichen die herrlichsten Sehenswürdigkeiten dieser Welt vorenthalten. Dies wird durch die bloße Kraft deiner elenden Gewohnheiten nur mit einem Augenzwinkern und Schweigen bedacht. Wer kann es mit ehrlichen Bemühungen oder Worten erklären, welche die gegenwärtige Masse menschlicher Trägheit und Faulheit aufwiegen, daß in vielen friedlichen Regionen sozusagen überall legitime Raubtiere zu finden sind, die bereit sind, den ängstlich Reisenden seines Geldes zu berauben, der von den Strapazen der Straße erschöpft und müde von Sorgen ist? Welches Gesetzt ermächtigt dieses Unrecht mit dem Ergebnis, daß das, was einst das Beste von allem war, nämlich die Welt zu erkunden, jetzt fast überall höchst gefährlich und teuer geworden ist?

Auf diese Weise wurden deine Fürsten und Stadtväter und sogar deine Geduld, Bräuche und öffentliche Freiheit billig verkauft. Was soll ich sagen über diese nutzlosen bewachten Plätze und versperrten Straßen und alles, was voller Verdacht ist, daß sogar der Briefwechsel als einziger Trost in der Abwesenheit unmöglich gemacht wurde, was wohl mutig ertragen werden muß, wenn es nicht geändert werden kann. Man sollte meinen, daß sich niemand weigern würde, den Lauf der Natur zu ertragen, der daran gewöhnt ist, so viel Unverschämtheit, menschliche Grausamkeit, Kummer und Plünderung zu ertragen! Der Mensch sollte sich darüber im Klaren sein, daß er täglich aus den geringsten Gründen Mutter Natur ungerecht behandelt, so daß er auch durch seine Mitmenschen viel Bitteres und Schmerzliches erleiden muß.

Schmerz: Ich werde auch von extremer Hitze gequält.

Vernunft: Dann warte auf den Winter, der diesen Ärger schnell vertreibt!

Schmerz: Im Winter werde ich von bitterer Kälte betäubt.

Vernunft: Dann schau, daß der Sommer vor der Tür steht und dir den Wunsch erfüllen wird, die Kälte loszuwerden.

Schmerz: Mich überwältigt aber die Kälte.

Vernunft: Du wirst kaum Beschwerden finden, für die die Natur keine Abhilfe schafft. Oft gibt es sogar mehrere Mittel für jedes Ärgernis. Kälte wird durch ein Haus, durch Kleidung, Essen, Arbeit und Bewegung ferngehalten. Nur selten wird jemand von Kälte überwältigt, der nicht zuerst von Trägheit überwältigt wurde. Das Feuer zähle ich nicht gern zu diesen Heilmitteln, weil es eine so große Anziehungskraft für den Müßiggang der Sterblichen hat. Es wäre wohl einfacher, in einem Faß den Wein vom Wasser zu trennen, als die fleißigen Arbeiter von den Müßiggängern vor dem lodernden Feuer an einem Wintertag zu unterscheiden. Alle, die weder Mut noch Energie haben, kommen herbeigeeilt. Und man kann unsere jungen Männer sehen, die sonst so stolz auf ihr Aussehen und ihre Kleidung sind, wie sie ungehemmt die Hitze aufsaugen, entblößt und nackt vom Nabel abwärts. Es wäre für sie viel anständiger, ihre Geschlechtsteile zu bedecken, als allen die Nase mit dem widerlichen Gestank ihrer halbverbrannten Körperhaare zu beleidigen.

Schmerz: Jetzt friere ich, und dann schwitze ich wieder.

Vernunft: Es fällt mir leicht, dir zu glauben, weil ich deine Wege kenne. Und bevor du weiter klagst, laß mich dir erzählen, was mir gerade eingefallen ist. Die Geschichte ist neu und kurz: Bei den Galliern gab es einen Vater, der zusammen mit seinem jugendlichen Sohn in ein schweres Verbrechen verwickelt war. Nach dem Brauch dieser Nation wurden beide dazu verurteilt, in einem eisernen Kessel zu Tode gekocht zu werden. Als sie nackt und gefesselt ins Wasser traten, das im Winter eiskalt war, fing der Junge an zu zittern und seine Zähne klapperten vor Kälte. Als aber das Wasser durch das Feuer immer heißer wurde, klagte der Junge schreiend und weinend über die unerträgliche Hitze. Woraufhin der Vater ihn mit einem finsteren Blick ansah und sprach: „Oh du Hurensohn, kannst du weder Kälte noch Hitze ertragen?“ Er mag ein böser Mann gewesen sein, aber seine Worte zeigten unerschütterlichen Mut und Kraft, so daß er es verdient hätte, heil und gesund aus dem Kessel herauszukommen, in dem er sterben sollte. Dies ist eine Geschichte, die geeignet ist, deine jungen Männer zu belehren, die so verweichlicht und völlig verwöhnt sind, daß sie im Sommer die Sonne verfluchen wie die Atlanter und im Winter das Feuer anbeten wie die Chaldäer.

Schmerz: Mich stört auch der Schnee.

Vernunft: Verwöhnte ärgern sich über die angenehmsten Dinge! Es gibt Leute, die meinen, daß es einer der schönsten Anblicke ist, wenn der Schnee rieselt und kein Wind weht. Vielleicht ist irgendetwas schöner als Schnee, aber nichts ist weißer.

Schmerz: Mal plagt mich extreme Hitze, mal eisige Kälte und im nächsten Moment Dürre und dann wieder Regen.

Vernunft: Einige sagen, daß auch Alexander extrem unter der Hitze litt, wie er auch weder schreckliches Unglück noch großen Wohlstand ertragen konnte. Hannibal hingegen war gleichermaßen hitze- und kältetolerant. Warum verdienst du dir nicht ein wenig ähnlichen Ruhm? Hannibal konnte sowohl Hitze als auch Kälte aushalten, aber du kannst es nicht. Das ist es, was zu viel Zügellosigkeit mit dir macht: Du wirst verweichlicht und verwöhnt. Tatsächlich, wenn ich das sagen darf, kastriert es deinen Geist soweit, daß du bald die schwankenden Temperaturen der Luft mehr fürchtest als die Schwerter des Feindes oder sogar den Tod. Aber ich rede und argumentiere wohl umsonst, weil ich auf taube Ohren stoße! Überlasse die natürlichen Geschäfte der Natur! Sie tut nichts ohne den Befehl des Herrn. Ihr seid Narren und Dummköpfe! Jeder kleinste Wassertropfen, der auf die Erde fällt, fällt genauso, wie er soll, weder zuviel noch zu wenig. Dies befriedigt vielleicht nicht immer die Launen von Einzelpersonen wie dich, aber es dient dem Wohlergehen aller.

Schmerz: Ich mache mir viele Sorgen, mal wegen Schlamm und mal wegen Staub, mal wegen Wolken und mal wegen Sturm und Donner.

Vernunft: Die veränderlichen Bedingungen auf der Erde werden durch die Veränderungen am Himmel geschaffen. Feuchte Luft erzeugt Schlamm, und trockene Luft Staub. Ebenso entstehen die Winde aus bewegter Luft, Wolken aus feuchten Dämpfen und Donner und Blitze aus Wind und Wolken. Wer die Ursachen der Dinge kennt und der Natur gehorcht, klagt nicht über die wechselnden Zustände, die ihm begegnen. Zugegeben, es gibt schwierige Fragen zu den Winden. Aber kommt dir die Luft, ganz ohne Wind, nicht halbtot vor? Und hat nicht jemand, und das nicht unpassend, den Geist einen Wind oder Atem genannt (Joh. 3.8)? Du kannst sicherlich verstehen, daß der Staub des Schlachtfeldes manch tapferem Mann wirklich angenehm ist, was man auch für Schlamm sagen kann, weil Tapferkeit sich trotz aller Widrigkeiten behauptet. Und Gewitter und andere heftige Unruhen des Himmels, was sind sie anderes als überzeugende Mahnungen von einem barmherzigen Gott, der die Menschen nicht warnen würde, wenn er sie nicht liebte, sondern totschlagen, weil es nie an genügend schwerwiegenden Gründen dafür mangelt. Der in der Naturkunde bewanderte Dichter weist darauf hin, daß diese Ereignisse dazu bestimmt sind, Sterbliche zu erschrecken und aufzuwecken, insbesondere diejenigen, die ihren Krieg gegen Gott führen. So auch die von göttlichem Rat geleitete Prophetin, die sagte: „Die Widersacher des Herrn werden ihn fürchten. Und über ihnen wird er in den Himmeln donnern. (1.Sam. 2.10)“ Fürchtet daher den wahren Donnerer, welchen ihr erzürnt, und strebt danach, in Seine Gnade zurückzukehren! Sobald ihr Freunde Gottes geworden seid, fürchtet nichts anderes, als Ihn zu beleidigen. Auch du solltest versuchen, dies zu tun, und aufhören, dich zu beschweren.

Schmerz: Mich deprimiert auch das dunkle und bewölkte Wetter.

Vernunft: Kein Sturm dauert ewig. Nach den Wolken kommt wieder Sonnenschein, und nach dem Sonnenschein kommen wieder Wolken in endloser Folge. Was so schnell vorrübergeht, sollte ohne Murren ertragen werden, ob es dir gefällt oder nicht.

Schmerz: Die Wolken beleidigen mich.

Vernunft: Diese Beleidigung ist eine Mahnung, so zu leben, daß du nicht ewig unter dieser Dunkelheit leiden mußt, die dich hier nur kurzeitig beleidigt.

Schmerz: Ich mache mir Sorgen wegen Blitz, Hagel und Sturm.

Vernunft: Diese und ähnliche Phänomene flößen dir eine heilsame Angst ein. Doch wenn du sie verachtest, dann üben sie Rache. Höre die Worte: „Feuer, Schwefel und Stürme werden Teil deines Bechers sein. (Psalm 11.6)“ Und auch: „Feuer, Hagel, Hunger und Tod, all diese wurden zur Rache geschaffen. (Sir. 39.35)

Schmerz: Ich fürchte auch Stürme auf See.

Vernunft: Man sollte dafür nicht die Natur verantwortlich machen, sondern die eigene Dummheit und Habgier. Zwingt dich jemand, über den Ozean zu segeln?

Schmerz: Ich werde auch von dunklen Wolken und feindlichen Winden angegriffen.

Vernunft: Du wurdest in der Dunkelheit gezeugt, und du wirst in der Dunkelheit sterben, und dazwischen lebst du inmitten der feindlichen Winde menschlicher Sorgen. So lerne freiwillig zu ertragen, was du sonst für immer erleiden mußt!

Schmerz: Donner und Blitz lassen mich erzittern.

Vernunft: Donner und Blitz sind mehr als nur lästig. Der erste verursacht große Furcht, und nur Dummköpfe verachten diese. Der zweite bringt sogar den Tod. Und so schien es einigen, daß sich nur Unerfahrene (die noch nicht getroffen wurden) über Blitze beschweren konnten. Doch ich frage dich, wer außer einem Narren würde nicht fürchten, was die alten Römer, die mutigsten aller Menschen, bekanntermaßen dazu gebracht hat, in einem alten Gesetz vorzusehen, daß öffentliche Versammlungen nicht abgehalten werden, wenn Jupiter donnert? Wenn dich aber diese Angst nicht dazu bringt, dein Leben zu ändern, ist sie umsonst. Denn was nützt es, sich zu fürchten, wenn es kein Heilmittel für das gibt, was gefürchtet wird? Daher sollten all diese furchterregenden Ereignisse auf folgende Weise betrachtet werden: Obwohl Donner und Blitz auf natürliche Ursachen zurückzuführen sind, müssen sie nichtsdestotrotz als Mahnungen von Ihm betrachtet werden, der keiner Kausalität unterliegt, sondern der Urquell aller Ursachen ist. Er donnert im Himmel, damit du auf dieser Erde fromm und ehrlich lebst, und zerschmettert deine Selbstgefälligkeit, damit du deinen zornigen Herrn erkennst und wenigstens aus Furcht tust, was du aus Liebe tun solltest.

So jammere nicht in einem Atemzug über gute und schlechte Dinge! Glaube mir, es ist zu deinem Vorteil, daß Er oft donnert. Die Geschichte berichtet, daß es auch oft gedonnert hatte in dem Jahr, in dem Domitian starb, dieser Widersacher des wahren Gottes und Feind aller Frömmigkeit. Nicht, daß du rufen solltest wie er: „Nun schlage er, wen er will!“ Aber du sollst den Zorn Gottes mit demütigen Tränen und demütigem Gebet besänftigen.

Schmerz: Ich bin auch vom Lärm und Gelage der Betrunkenen angewidert.

Vernunft: Wein erfreut das menschliche Herz, und Bacchus ist der Freudenspender: Das weiß jeder, auch wenn weder König David noch Vergil davon gesungen hätten. Wahr sind natürlich auch die Worte des Sehers, der vielleicht nicht so beredt war, wie diese beiden, aber dafür heiliger: „Der Strom des Flusses macht die Stadt Gottes fröhlich. (Psalm 46.5 nach Vulgata)“ Doch in ein paar Fässern guten starken Weins steckt mehr heiße Würze oder überschwenglicher Genuß, wie die Philosophen es nennen, als in all den sprudelnden Wassern eines Baches! Ja, ich gebe zu, es gibt nichts Ekelhafteres als die lauten Gelage von Betrunkenen, nichts Unverschämteres als diese Tagelöhner und saufenden Händler, die Cicero mit Recht den Abschaum der Gesellschaft nennt. Trotzdem müssen sie entweder ertragen werden, oder du mußt die Stadt verlassen oder den Marktplatz, und die Alleen und Wirtshäuser meiden, als wären sie felsige Untiefen.

Schmerz: Ich kann auch die Menschenmassen und das schreckliche Drängen nicht ertragen.

Vernunft: Es wäre verkehrt und unmenschlich, die Vereinsamung deiner Heimatstadt zu wünschen, nur damit du selbst mehr Ruhe hast. Du weißt sicherlich, daß die Schwester von Appius Claudius dafür bestraft wurde, und obwohl sie unschuldig war, ist sie die letzte, die ein Dichter loben würde. Wahrlich, das ist ein abscheulicher Wunsch, der eine strenge Strafe verdient! Um deine Ruhe zu finden und dich von den Menschenmassen zurückzuziehen, solltest du die Stadt verlassen, wenn es deine Angelegenheiten gestatten. Dies ist ein Weg der Erholung, den die Weisen schon oft gegangen sind.

Schmerz: Ich werde auch von einem langwierigen Rechtsstreit beunruhigt.

Vernunft: Zu welchem Zweck wurde die Einigung erfunden, wenn nicht, um Klagen zu beenden und langwierige Verfahren abzukürzen?

Schmerz: Ich werde von einem deprimierenden und feindseligen Streit zermürbt.

Vernunft: Du verwendest Adjektive, die sehr gut zu dir passen: Denn wo es Streit gibt, kann es keine Freude und keinen Frieden geben. Wenn du den Streit loswerden willst, dann meide die Ursachen des Streits! Denn die Begierde erzeugt Streit und nährt ihn, sobald er geboren wurde.

Petrarcameister - Vom Ärger über Kleinigkeiten

Der Schmerz beklagt sich über die Städte: „Ich hasse den unruhigen Lärm der Stadt.“ Aber er zählt neben dem Lärm des Volkes auch solche Übel auf, die mehr an das Landleben gebunden sind: Hundegebell, schnaubende Pferde, Mücken, Fliegen, Flöhe und Nachteulen. Der Trost der Vernunft des Petrarca ist nicht unbeachtlich. Ihn aufzurufen, ist ja der Zweck der einfältigen Klage gewesen… Die einzelnen Übel scheinen dem Petrarca-Meister von Sebastian Brant aufgezählt worden zu sein, und er hat den leidenden Menschen von ihnen umgeben dargestellt: Mücken, Mäuse, Ratten, Frösche, zwitschernde Vögel, eine kreischende Eule, ein wieherndes Pferd, ein bellender Hund, dazu noch Regen, Hagel, Sturm und stechende Sonne. Für den Lärm des Volkes in den Städten steht eine Rauferei zwischen zwei Männern. Das von Petrarca genannte Hauptübel, die Unsicherheit der Straßen, scheint dagegen Brant dem Künstler in diesem Zusammenhang nicht genannt zu haben. So ist es bei einem rebusähnlichen (rätselhaften), unvermittelten Nebeneinander in der Darstellung geblieben.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht könnte man den altgewordenen Geist inmitten der Natur sehen, wie er von allen Seiten vom Spiel der natürlichen Gegensätze bedrängt wird. Man kann auch die drei Kräfte von Begierde, Haß und Unwissenheit wiederfinden, die hier alles bewegen: Rechts die Gier der Vögel nach Nahrung, links der Haß im Streit zwischen den Menschen, und über allem die Wolken der Unwissenheit, aus denen das Wasser für das Wachstum in der Natur herabregnet. Darüber hinaus wird der Geist von den vier Elementen und den lebendigen Tierwesen bedrängt, von denen er sich getrennt erkennt, so daß das Ichbewußtsein einer eigenständigen Person erwacht, die dann auch körperlich zwischen all diesen Erscheinungen der Natur steht. Nun bildet sich der Geist seine „Meinung“ darüber und beurteilt die vielfältigen Erfahrungen entsprechend als gutartig oder bösartig, um die Früchte vom Baum der Erkenntnis zu genießen. Warum wird nun dieses Ichbewußtsein in der Natur so vielfältig bedrängt? Auch das ist Wirklichkeit, sofern es Wirkungen hat, Illusion, sofern diese Formen entstehen und vergehen, reine Liebe, sofern es heilsam ist, und auch Wahrheit, sofern es Bewußtsein ist.

2.91. Von der Angst vor Erdbeben

Schmerz: Ich habe Angst vor Erdbeben.

Vernunft: Dies ist in der Tat eine große Not, die uns Mutter Natur zufügt und die sich aus gutem Grund von allen anderen Bedrängungen unterscheidet. Es ist aber nicht nur das schrecklichste aller Probleme, sondern auch das, welches am seltensten auftritt, was als eine Art Heilmittel angeboten werden kann. Oft gehen Donner und ein dunkler Himmel einem Erdbeben voraus. Aber eine verläßliche Vorwarnung gibt es nicht, obwohl Pherekydes angeblich ein Erdbeben durch das Auftauchen von Wasser aus einem Brunnen vorhergesagt haben soll. Ich kann dazu nur sagen, daß zwar unterirdische Kammern einen gewissen Schutz vor den Bedrohungen des Himmels bieten, wie wir lesen, daß Augustus Cäsar solche benutzte, als er sich vor Blitzen fürchtete, und wie sie noch heute an der Via Flaminia in Rom zu sehen sind und den Namen seines königlichen Erbauers tragen, aber bei Erdbeben helfen weder Unterschlupf noch Flucht, denn wohin könnt ihr armen Erdenbürger noch flüchten als irgendwohin auf eurer Erde? Und was passiert mit euch, wenn über euren Köpfen die Stürme toben und unter euren Füßen die Erde bebt? Es sei denn, jemand rät zur Flucht aufs Meer, das aber ebenfalls auf die Bedingungen von Himmel und Erde reagiert und ebenfalls unverläßlich ist, wenn es von den Wogen aus der Tiefe aufgewühlt wird.

Schmerz: Du gibst mir damit kein Heilmittel, wie sonst. Statt dessen vergrößerst du die Gefahr!

Vernunft: Ich wußte, daß es dir so erscheinen würde, und zweifellos ist es auch so. Es gibt Ereignisse, die durch Worte abgemildert werden können, so daß sie, obwohl sie schrecklich erscheinen, danach erträglicher, ja sogar unwichtig werden. Aber das Phänomen, von dem wir nun sprechen, überwältigt mit seiner Wucht gleichsam die Argumente menschlicher Beredsamkeit. Der einzige Trost, auf den ich verweisen kann, ist seine Seltenheit, wie ich bereits erwähnt habe. Du hast ein Zeitalter ohne Erdbeben erlebt, in dem Tausende Menschen starben, die zu Lebzeiten nur den Namen dieses Schreckens gehört haben, aber nie seine schreckliche Wirklichkeit erlebten. Doch wer wird nicht berührt, wenn er sich die Beben vorstellt, die in der Antike und auch danach aufgetreten sind, und von denen wir in Büchern lesen oder von Menschen hören, die sie vor nicht allzu langer Zeit miterlebt haben? In der Antike wurde an einem einzigen Tag Rhodos erschüttert, neue Inseln tauchten aus dem Meer auf, zwölf alte Städte in Kleinasien stürzten ein, und einige wurden von klaffenden Rissen verschluckt, die sich im Boden öffneten. Danach verwüstete dieselbe Katastrophe Achaia und Mazedonien und zuletzt Kampanien, das nicht nur der schönste Teil Italiens, sondern der ganzen Welt ist. Dies geschah in den Tagen von Seneca, der es in seinen Naturales Quaestiones erwähnt, wo du lesen kannst, daß Herculaneum und Pompeji, zwei der wichtigsten Städte in dieser Region, und Neapel selbst von dieser Geißel schwer getroffen wurden.

Es wäre eine endlose Aufgabe, alle Erdbeben aufzuzählen. Aber vor kurzem hättest du die hohen Alpen sehen können, wie sie bebten und stürzten, die Italien von Deutschland trennen und, wie Virgil sagt, an vielen Orten nicht daran gewöhnt sind, sich zu bewegen. Unmittelbar danach wurde die Königin aller Städte selbst (Rom) so schwer erschüttert, daß Türme und Kirchen zerstört wurden und einige Bauwerke flach auf dem Boden lagen. Und alle erinnern sich, daß wenig später, als wollte man die Kette der Katastrophen ununterbrochen fortsetzen, das ganze Rheintal, das als der schönste Teil Deutschlands gilt, erschüttert und Basel am Flußufer ebenfalls völlig zerstört wurde, sowie mehr als achtzig Burgen. Wahrlich, eine schreckliche Katastrophe, die zeigt, daß sogar die gefürchtetsten Burgen dem Tod unterliegen.

Nur wer dies nicht mehr fürchtet, wird frei von Furcht. Oder wie Horaz elegant sagt: „Würde die ganze Welt zerbrechen und auf ihn fallen, ihre Trümmer würden ihn unerschrocken treffen.“ Denn was macht es für einen Unterschied, ob dich ein kleiner Stein tödlich trifft oder ob du von der Masse der Alpen ausgelöscht oder vielleicht von der ganzen Welt zermalmt wirst, wie er sagt, wenn die Wirkung all dieser der Tod ist? Es sei denn, man meint, daß der Tod respektabler sei, wenn er von etwas Gewaltigem verursacht wird.

Das ist also der Kern meiner Beratung. Wir haben ein Heilmittel für deine Angst vor Blitzen und andere Übel vorgeschlagen, denen du begegnen kannst, indem du ihnen entweder Widerstand leistest oder nachgibst. Aber weder Flucht noch Klugheit noch alle Macht der Welt können gegen die Katastrophe eines Erdbebens helfen, die das Schrecklichste hervorbringt. Hier hilft am meisten die Überwindung der Todesangst, was leichter gesagt als getan ist, aber nicht unmöglich. Und weil keine Zeit und kein Ort vor diesen Schrecken sicher ist, sollten sich die Menschen an jedem Ort und zu jeder Zeit in Geduld üben und ihren Geist für alle Ereignisse wappnen, seien sie durch die Natur oder das Schicksal verursacht, was nicht möglich ist, ohne die Tugend zu lieben und die Bosheit zu hassen. Denn weil auch die Luft in ständiger Bewegung ist, alle Elemente um dich herum bedrohlich sind, und sogar die Erde, auf der du stehst, erbebt und ihre Bewohner täuscht und erschreckt, obwohl sie ein festes Bollwerk gegen alle Gefahren sein sollte, kannst du dich schließlich nur auf den Flügeln deiner Seele zum Himmel erheben. Inmitten all dieses Aufruhrs von Dingen und Menschen mußt du deine Hoffnungen auf Ihn setzen, der die Erde geschaffen hat, sie erhält und auch beben läßt, und von dem geschrieben steht: „Denn ich bin der Herr, und ich verändere mich nicht. (Mal. 3.6)“ Wer auch immer seinen frommen Geist auf Ihn setzt, steht sicher auf festem Boden und wird niemals wanken oder ein Erdbeben fürchten.

Schmerz: Ich kann aber nicht anders, als mich vor Erdbeben zu fürchten.

Vernunft: Aber du kannst alle deine Hoffnungen und Sehnsüchte von dieser Erde lösen. Wer das erreicht, kann ohne Angst leben und unerschütterlich stehen, ob die Erde bebt oder versinkt. Es ist doch töricht, feste Hoffnung auf ein unsicheres Ding zu setzen.

Petrarcameister - Von der Angst vor Erdbeben

Mit dem reizvollen Bild eines mittelalterlichen Städtchens stellt der Petrarca-Meister die Furcht vor dem Erdbeben dar. Die entsetzten Bewohner flüchten vor die Tore, um nicht von einstürzenden Häusern und Türmen erschlagen zu werden. In der Stadt sieht man die Mauertürme und Essen der Wohnhäuser zusammenfallen, doch bleibt die große Stadtkirche mit ihren beiden hohen Türmen unversehrt. In dieser Form der Zeichnung ist ein Hinweis auf Petrarcas Text zu erblicken, der nach Aufzählung vieler unheilvoller Erdbebenkatastrophen aus der Vergangenheit und aus seiner Zeit nur im Gottvertrauen einen Schutz und Schild gegen die Furcht vor Erdbeben erblickt.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht kann man nun darüber nachdenken, was dem Geist passiert, wenn das materielle Körperhaus bebt, schwankt und zerbricht, das doch die Wohnstätte des Geist sein sollte, und in der sich ein Großteil des Lebens abspielt. So sieht man im Bild, wie die einzelnen Menschen ihre eigenen Häuser verlassen, sich in Gruppen zusammenfinden und sogar aus der von dicken Schutzmauern begrenzten Körperstadt fliehen, um ihre Hände zum Göttlichen zu erheben und im Ganzheitlichen Zuflucht zu suchen. Denn nur das Grenzenlose und Ganze kann nicht beben, zerbrechen oder vergehen. Solange sich das Bewußtsein als Ichbewußtsein vom Ganzen bzw. von Gott abtrennt und sich mit einem eigenen Körper und eigenen Formen identifiziert, unterliegt es dem Wandel und der Vergänglichkeit der Formen, auch wenn es sich die festeste Körperburg auf dem festesten Berg erbaut und mit den festesten Mauern umgibt. Denn alles, was entsteht, muß auch wieder vergehen, weil es sonst nicht entstehen könnte.

Eins und Alles
(Johann Wolfgang von Goethe)

Im Grenzenlosen sich zu finden,
Wird gern der Einzelne verschwinden,
Da löst sich aller Überdruß;
Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,
Statt läst'gem Fordern, strengem Sollen
Sich aufzugeben ist Genuß.

Weltseele, komm' uns zu durchdringen!
Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen
Wird unsrer Kräfte Hochberuf.
Teilnehmend führen gute Geister,
Gelinde leitend, höchste Meister,
Zu dem, der alles schafft und schuf.

Und umzuschaffen das Geschaffne,
Damit sich's nicht zum Starren waffne,
Wirkt ewiges lebend'ges Tun.
Und was nicht war, nun will es werden
Zu reinen Sonnen, farbigen Erden,
In keinem Falle darf es ruhn.

Es soll sich regen, schaffend handeln,
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar steht's Momente still.
Das Ewige regt sich fort in allen:
Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.

2.92. Von der weitverbreiteten Pest

Schmerz: Ich fürchte die Pest, die weit und breit wütet.

Vernunft: Auch diese Angst ist nichts als Todesangst. Sobald du sie überwunden hast, ist dein Selbstvertrauen wiederhergestellt. Ein guter Geist sollte sich dieser Angst entledigen und sie niemals mehr pflegen. Denn was ist für den edlen Menschen unwürdiger, als gemeine Dinge zu fürchten?

Schmerz: Ich habe aber Angst vor der Pest.

Vernunft: Solange man sterben muß, was fügt das Sterben an der Pest dem üblichen Sterben hinzu, außer daß viel mehr Menschen mit dir zusammen sterben? Und wenn du überlebst, wird das Leben um so süßer, weil du bisher so vielen Gefahren entronnen bist, solange die Gefahr des Sterbens zu deiner Natur gehört. Denn die Pest vernichtet nicht alle Plagen, sonst wäre kein Mensch der jüngsten Pestwelle entkommen, die seit Jahrhunderten nicht schlimmer war. Viele haben überlebt, die besser gestorben wären, weil sie für diese Welt eine übermäßige Plage sind, die wohl so hartnäckig ist, daß keine Pest und keine Hand des Todes erschöpfend wirken kann.

Schmerz: Ich fürchte diese Pest.

Vernunft: Du solltest ehrlicher sagen, daß du Angst vor dem Tod hast, ein Thema, das wir noch diskutieren sollten, bevor wir diese Gespräche abschließen, weil ich sehe, wie sehr es dich belastet. Abgesehen davon, frage ich dich, warum du gerade vor dem Begriff „Pest“ erschauderst, da es vielleicht sogar ein Trost ist, in Gemeinschaft so vieler zu sterben, wie ich bereits erwähnt habe.

Schmerz: Ja, ich fürchte die Pest.

Vernunft: Wenn es die Liebe zur Menschheit ist, die deine Furcht verursacht, dann wäre es lobenswert. Es gibt nichts, was einem Menschen mehr gebührt, als Mitgefühl mit menschlichem Leid zu haben. Aber wenn es allein aus Angst um dich selbst geschieht, dann muß ich dich tadeln. Wie kann die Pest einem Sterblichen schaden, indem sie ihn dazu zwingt, was er sowieso tun muß? Es sei denn, du ärgerst dich darüber, daß du möglicherweise nicht feierlich genug betrauert wirst, was in Pestzeiten häufig vorkommt, und diejenigen als glücklicher betrachtest, die, wie Virgil sagt, von den Lebenden viel beweint werden.

Petrarcameister - Von der weitverbreiteten Pest

Die Wirkung der Pest auf alle Kreaturen ist im Bild des Petrarca-Meisters dargestellt. Der Knecht liegt tot neben dem verendeten Pferd, der Bauer neben Hund, Katze, Hahn und Taube. Auf dem Krankenbett liegt ein Mann, der Bader ist bei ihm und hat ihm die vereiterten Drüsen in der Achselhöhle geöffnet. Mit einem essiggetränkten Tuch vor dem Mund sucht er sich selbst vor der Ansteckung zu schützen. Ebenso schützt sich die Frau, die am Lager des Mannes steht. Der Petrarca-Meister zeigt hier wieder die erstaunliche Breite seines Wissens um Leben und Leiden seiner Zeit. Er ist mit den Symptomen der Pest vertraut und stellt den damals üblichen ärztlichen Eingriff exakt dar. - Das leere Feld in der linken oberen Ecke des Holzschnittes enthielt ursprünglich die Darstellung der beiden Pestheiligen St. Sebastian und St. Rochus. Diese um 1519/20 geschaffene Darstellung wurde getilgt, als das Buch erst nach der Ausbreitung der Reformation 1532 erscheinen konnte und der Verleger in erster Linie mit protestantischen Lesern zu rechnen hatte.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht sieht man zunächst wie die Menschen nicht anders sterben als die Tiere, an die sie sich binden. Dazu wissen wir heute, daß viele Infektionskrankheiten wie Pest, Masern, Pocken, Tuberkulose oder Grippe erst durch die künstliche bzw. unnatürliche Bindung der Menschen an ihre „Haustiere“ zu einem großen Problem wurden, welches die Jäger und Sammler noch nicht kannten (siehe z.B. Geo oder Spektrum). So steht nun im Zentrum des Bildes Mutter Natur, die für das Wohl des kranken Mannes bzw. Ego-Geistes betet, ohne sich selbst davon anstecken zu wollen. Ein anderer Geist versucht, mit dem Messer zu helfen, und vermutlich ist damit auch ein Prozeß der Reinigung angedeutet, der im Grunde mit jeder Krankheit verbunden ist. Hier könnte man an den Verstand denken, der vom Licht erleuchtet wird, das durch die „bunten Butzenscheiben“ bricht. Darüber hinaus könnte man sich links oben die Heiligen in einem reineren Licht mit dem Heiligen Geist vorstellen, der auf einer noch höheren Bewußtseinsebene um Heilung und Reinheit betet und kämpft. Über den tieferen Sinn solcher „Pandemien“ in der Natur und im Geist kann man sicherlich viel nachdenken, wie auch Petrarca eine gewisse Selbstregulierung bezüglich der „Menschenplage“ anspricht. Wir vergessen heute oft, daß die ganze Natur und auch jedes Lebewesen ein selbstregulierendes System ist, das verschiedenste Strategien kennt, um gefährliche Schwankungen auszugleichen oder sich entsprechend anzupassen. Gegen dieses Gleichgewicht arbeitet das vom Ganzen getrennte Ichbewußtsein, wenn es die Vielfalt der Formen einschränken will, weil es mit eigenwilligem Urteil die eine als „gut“ festhalten und die andere als „böse“ vernichten will. So entsteht das große Problem der Monokultur, die das Gleichgewicht der Natur gewaltsam angreift. Und das scheint der Mensch heutzutage nicht mehr zu erkennen, daß es hier im Leben um eine geistige Einheit der Vernunft in einer natürlichen Multikultur geht und nicht um eine Vielfalt der Egos in einer künstlichen Monokultur.

2.93. Von Traurigkeit und Elend

Schmerz: Ich bin traurig.

Vernunft: Es kommt darauf an, aus welchem Grund du traurig oder fröhlich bist. Ich nenne solche Gefühle und ähnliche Erfahrungen „unbestimmt“, weil sie mal gut und mal schlecht sein können. Traurigkeit über deine Sünden ist gut, solange sich keine völlige Verzweiflung einschleicht. Und die Freude über deine Tugend und edlen Taten ist ebenfalls gut, solange sie nicht die Tore des überheblichen Stolzes öffnet. Daher müssen zuerst die Ursachen dieser Stimmungen betrachtet werden, damit nicht getadelt wird, was gelobt werden sollte. So denke nun über die Gründe nach, warum du so traurig bist!

Schmerz: Mich betrübt das Elend dieses Lebens.

Vernunft: Dann freue dich auf die Glückseligkeit des jenseitigen Lebens! Denn selbst das größte Elend dieses Lebens kann nicht so groß sein, wie das Glück in jenem Leben.

Schmerz: Ich bin aber sehr betrübt.

Vernunft: Dieses Übel hat so viele Wurzeln, wie es Erfahrungen gibt, die ihr unter dem Namen „Unglück“ zusammenfaßt. Darüber habe ich schon vieles gesagt, und weil ich dich immer noch zum Klagen geneigt sehe, muß ich auch jetzt noch vieles sagen. Auch wenn keinerlei offensichtlicher Grund vorliegt und weder Krankheit noch Schaden, Unrecht, Schande oder Trauer um geliebte Menschen ihr Wesen treiben und nicht einmal ein unerwartetes Gerücht darüber umläuft, gibt es dennoch eine Art „Lust am Schmerz“, die den Geist betrübt. Diese Krankheit ist um so schwerwiegender, weil ihre Ursache unbekannt, und die Heilung um so schwieriger ist. Aus diesem Grund dachte Cicero, daß man solchen geistigen „Klippen“ mit vollen Segeln und allen Rudern ausweichen sollte. Und darin stimme ich, wie in vielen anderen Dingen, Cicero zu.

Schmerz: Der Gedanke an das gegenwärtige Elend betrübt mich.

Vernunft: Ich leugne nicht, daß das Elend der Menschheit groß und betrüblich ist, was manche Dichter in ganzen Büchern bejammern. Aber andererseits wirst du auch vieles finden, das dieses Leben glücklich und angenehm macht, obwohl darüber bisher wenig geschrieben wurde und diejenigen, die es versucht haben, bald aufgaben, weil sie es so schwierig und oft sogar langweilig fanden. Dagegen war das Elend der Menschheit viel offensichtlicher und greifbarer, während ihr Glück klein und verborgen ist und tiefer erforscht werden muß, um es skeptischen Lesern wirklich glaubhaft zu machen.

Wenn man nun das Wesentliche bedenkt, hast du dann wirklich so wenig Grund zur Freude? Du bist doch das Ebenbild Gottes, des Schöpfers der menschlichen Seele. Du hast Verstand, Gedächtnis, Voraussicht und Sprache. So viele Erfindungen und Künste sind hier, um deiner Seele und deinem Körper zu dienen, für deren Bedürfnisse die göttliche Gnade gesorgt hat. So viele Gelegenheiten und viele Dinge, die Er auf wunderbare und unbeschreibliche Weise bereitgestellt hat, nicht nur zum Überleben, sondern auch zu deiner Freude. So viele wirksame Wurzeln und Säfte von Kräutern, die angenehme Vielfalt so vieler Blumen, die Harmonie von Düften, Farben, Geschmäckern und Klängen, und so viele Lebewesen der Luft, der Erde und des Wassers! Wurden sie nicht für deinen Gebrauch geschaffen, um deinen Wünschen zu gehorchen? Hättest du dich nicht aus eigenem Willen dem Joch der Sünde unterworfen, wärst du jetzt der Herr von allem, was unter dem Himmel ist.

Füge hier die weitsichtigen Hügel, die sonnigen Täler und schattigen Wälder hinzu, die schneebedeckten Alpen und die warmen Strände, sowie das heilsame Wasser und die schwefelhaltigen und dampfenden Quellen, manche auch klar und kalt, die aus der Erde dringen, und das ewige Strömen verschiedenster Flüsse wie die beständigen Grenzen von Königreichen. Füge auch die Meere, Seen und Teiche hinzu, sowie die Bäche durch Bergesschluchten mit blühenden Ufern und bachfrischen Wiesen, wie Virgil sagt. Denke auch an die schäumende Brandung an den Klippen, die taufrischen Grotten und goldenen Weizenfelder, die juwelenbesetzten Weinberge, die Annehmlichkeiten der Städte, die Ruhe des Landlebens und die Freiheit der Einsamkeit! Und auch das brillanteste und edelste Schauspiel von allen, das Gewölbe des Sternenhimmels, der sich mit unglaublicher Geschwindigkeit dreht, mit den Fixsternen und Wanderern, wie ihr die Planeten nennt, allen voran Sonne und Mond, die „hellsten Lichter der Welt“, wie Virgil sagt, oder nach Horaz die „strahlenden Lichter des Himmels“. An ihnen hängen die Fruchtbarkeit der Erde, die Lebenskraft aller Lebewesen und der Wechsel der Jahreszeiten. An ihnen messen wir das Jahr, die Monate, Tage, Nächte und jene kurzen Augenblicke, ohne die das Leben wirklich trostlos wäre.

Hinzu kommt dein Körper, zugegebenermaßen sterblich und gebrechlich, aber im Aussehen beeindruckend, schön und aufrecht, um in den Himmel zu blicken. Du hast eine unsterbliche Seele, einen Weg zum Himmel und unschätzbare Güter zu einem geringen Preis, die ich hier bis zum Ende aufgehoben habe, weil ich weiß, daß sie so groß sind, daß ich sie ohne die Macht des Glaubens nicht begreifen könnte: Nämlich die Hoffnung der Auferstehung des Körpers nach dem Sterben, vollkommen und strahlend, ohne Schuld und gereinigt, um in großer Herrlichkeit das ursprüngliche Reich wieder anzunehmen, ein Körper, der alle Würde des Menschen auf Erden und auch die der Engel übertrifft. Nämlich jene sündenlose Natur des Menschen, die so mit der Natur der Gottheit verbunden ist, daß Gott selbst ein Mensch wurde und, weil er nur eine Person war, zwei Naturen vollkommen in sich umfaßte und sowohl Gott als auch Mensch war, so daß Er ein Mensch wurde, um den Menschen wieder zu Gott zu machen. Oh unaussprechliche Liebe und Demut Gottes, oh unendliche Glückseligkeit und Herrlichkeit des Menschen, tiefes und geheimes Mysterium, wunderbare und erlösende Gemeinschaft! Keine Sprache der Sterblichen reicht dazu aus, und ich weiß auch nicht, ob eine himmlische Sprache ausreichen würde!

Kann dies nicht den Zustand des Menschen etwas veredeln und sein Elend ein wenig lindern? Was könnte der Mensch mehr erhoffen, oder besser erbitten und erkennen, als Gott zu sein? Und siehe, er ist Gott! Was bleibt deinen Sehnsüchten noch übrig, um darüber zu seufzen, es zu entdecken oder sich sogar etwas vorzustellen? Es ist doch offensichtlich, daß sich der Allmächtige zu eurer Erlösung geneigt hat und keinen anderen Körper und keine andere Seele als die des Menschen annahm, obwohl er es hätte tun können. Er nahm nicht den Zustand der Engel an, sondern den des Menschen, damit du erkennst, wie sehr Gott dich liebt. So freue dich! Oder wie es Augustinus vortrefflich ausdrückt: „Denn so zeigte Er den fleischlichen Wesen, die sich den körperlichen Sinnen hingaben und mit dem Verstand nicht in der Lage waren, die Wahrheit zu erkennen, wie erhaben die menschliche Natur unter allen Geschöpfen ist.“ Hat nicht Er, der euch in wunderbaren Ehren sogar den Engeln vorgezogen hat, auch eure Schutzengel zur Verfügung gestellt und damit in jeder Hinsicht eure Überlegenheit über alle anderen Geschöpfe gezeigt? Hieronymus sagt, daß eure Seelen eine solche Würde haben, daß jede Menschseele von Geburt an ihren eigenen Engel hat, der sie beschützen soll. Wahrhaftig, Gottes Fürsorge für dich ist väterlich, und mehr als väterlich. Und so kann ich hier, wenn auch leicht angepaßt, Juvenals Vers zitieren: „Der Mensch ist Ihm lieber als Er sich selbst.“ Welcher Platz für Traurigkeit und Klage bleibt inmitten solcher Segnungen? Es ist wohl nicht deine Natur, sondern deine Schuld, die dich niedergeschlagen und voller Klagen macht.

Schmerz: Ich bin betrübt wegen der Niedrigkeit meiner Herkunft, der Gebrechlichkeit der Menschennatur, des Menschen Nacktheit und Armut, seines harten Schicksals, der Kürze des Lebens und der Ungewißheit seines Endes.

Vernunft: Du arbeitest hart daran, viele Gründe zu finden, um betrübt zu sein. Du solltest genau das Gegenteil suchen und in wahrhafter Freude zufrieden sein. Aber jetzt kenne ich deine Gewohnheiten: Du hast Lust, dich mit deinen Übeln zu beschäftigen!

Nun gut, zur Niedrigkeit deiner Herkunft und der Vergänglichkeit deines Körpers ist zu sagen: Was auch immer den Geist in dieser Hinsicht betrübt, wird nicht nur von der reinen Herrlichkeit des Körpers weggespült werden, wenn jene Auferstehung kommt, in welche die Menschen mit wahrem Glauben ihre Hoffnungen setzen, sondern sollte auch durch die gegenwärtige Schönheit und Majestät des Menschen verwandelt werden, die unter allen Werken der göttlichen Hand einzigartig ist. Wie sehr kann nun der Rang deiner Herkunft die Würde des Menschen beeinträchtigen? Schützen nicht hohe belaubte Bäume, die aus schmutzigen Wurzeln wachsen, den moosbewachsenen Boden mit willkommenem Schatten? Entspringen nicht die üppigsten Ernten dem schmutzigsten Dung? Und doch wird die üppige Quelle dieses großen Segens nicht verurteilt. Du bist Gottes Ernte, die auf der Tenne des Gerichts gesiebt und in der Scheune des Herrn aller Geschöpfe aufbewahrt werden soll. Und obwohl du deine Geburt im Schmutz hast, ist einiges davon edel und himmlisch. Wie auch immer deine Geburt war, und wie schwierig dein Wachstum ist, dein letzter Platz ist im Himmel.

Was ist nun mit der Nacktheit und Gebrechlichkeit des Körpers und dem großen Mangel an vielen Dingen, die so oft als Schande für den menschlichen Zustand bezeichnet werden? Gibt es dafür nicht die Hilfe eurer vielen Künste und Handwerke, so daß es mehr der Herrlichkeit des Menschen als seinem Elend dient? Mutter Natur hat viele andere Lebewesen, denen es an Vernunft mangelt, mit zäher Haut, scharfen Krallen und warmem Fell ausgestattet. Doch dem Menschen hat sie eine Intelligenz gegeben, die alles herausfinden kann. So sollten die wilden Tiere durch ihren äußeren Schutz behütet sein, aber der Mensch durch seine besondere innerliche Begabung. Während alle anderen nur das besitzen konnten, was ihnen mit der Geburt zufiel und nicht mehr, sollte er als einziges Wesen soviel haben, wie er im Laufe seines Lebens und Nachdenkens mit scharfsinnigem Geist erreichen kann. So gibt der Hausherr den Knechten und Hirten eine besonders kräftigende Speise und teilt jedem seine eigene Portion zu, aber nicht seiner Frau und seinen Kindern, die sich so viel oder so wenig nehmen können, wie sie wollen. Auf diese Weise begrenzt er einige und gewährt anderen mehr Freiheit. Und wenn die Tiere aufgrund des Alters oder der Räude ihr Fell verlieren oder ihre Augen trüb oder ihre Füße lahm werden, haben sie kein Heilmittel, es sei denn, es kommt vom Menschen.

Doch der Mensch, obwohl er nackt ist, wird durch seinen Geist gekleidet, geschmückt und wenn nötig, auch bewaffnet. Wenn er lahm und schwach wird, reitet er auf einem Pferd, fährt in einem Boot oder einer Kutsche oder stützt sich auf hilfreiche Krücken. Kurz gesagt, er nutzt alle verfügbaren Mittel, um sich selbst zu helfen und das Leben zu erleichtern. Er hat gelernt, Holzbeine, Eisenhände und Wachsnasen herzustellen, wenn diese Organe fehlen, und bewältigt unvorhergesehene Schwächen, indem er Medikamente herstellt, um seine angeschlagene Gesundheit zu stärken. Er weckt seinen trägen Appetit mit würzigen Saucen oder hilft seinen trüben Augen mit einer Brille, was ein großer Fortschritt ist, denn wie Seneca erwähnt, benutzten deine Vorfahren noch mit Wasser gefüllte Glasgefäße dafür. All dies sind die entzückenden Spiele der Natur. Sie ist eine liebevolle und freundliche Mutter, die ihren Kindern immer zurückgibt, was sie ihnen spielend genommen hatte, und jene wieder aufheitert, die sie traurig machte.

Egal, wie stark Pferde, Ochsen, Elefanten, Kamele, Löwen, Tiger, Leoparden und ähnliche Tiere auch sein mögen, sie vergehen, wenn sie alt werden, und wenn sie sterben, hören sie auf zu sein. Sie geben dem Alter nach und ergeben sich dem Tod. Nur der Mensch darf sich der Gabe der Tugend erfreuen, die das Alter adelt und den Tod verherrlicht, der einen solchen Menschen glücklich macht, indem er ihn hinüberträgt und nicht auslöscht. Mit einem Wort, es gibt zwar viele Tiere, die stärker und schneller als Menschen sind und sogar schärfere Sinne haben, aber keines hat größere Würde, und keines wird vom Schöpfer mit größerer Sorgfalt betrachtet. Er gab dem Menschen die kugelförmige Form des Kopfes, eine Ähnlichkeit mit der Kugel des Himmels, und obwohl alle anderen Tiere gebeugt sind und ihren Blick auf die Erde richten, gab Er dem Menschen ein erhobenes Gesicht und gebot ihm, aufrecht zu stehen und seine Augen zum Himmel zu wenden, wie Ovid so schön sagt, obwohl Cicero es vor ihm gesagt hat. Er gab ihm Augen und Stirn, darin die Geheimnisse des Geistes aufleuchten. Er gab ihm Vernunft, gab ihm Sprache, gab ihm Weinen und Lachen, die seine verborgenen Gefühle verraten. Einige meinen zwar, daß dies das Elend des Menschen anzeigt, weil zuerst das Weinen kommt und erst später das Lachen. Denn wenn der Mensch geboren wird, weint er zuerst, und das Lachen dauert vierzig Tage. Aber dies kann auch ein starker Hinweis darauf sein, daß der Mensch ein vorausschauendes Tier ist, das in der Lage ist, das Kommende vorherzusehen, und kein schlechtes Omen für sein Schicksal, das meines Erachtens ein glückliches ist, solange er sich von der Tugend leiten läßt. Einmal gestartet, ist das Rennen natürlich schwierig und voll bedrückender Entbehrungen.

Doch welche Kraft auch immer die Tiere haben mögen, welche Schnelligkeit, welche Vorteile oder Bequemlichkeit, alles soll dem Menschen dienen. Der Mensch hat den ungezähmten Ochsen das Joch aufgezwungen und den wilden Pferden das Zaumzeug. Der Bär droht mit seinen furchterregenden Klauen, der Eber mit seinen Stoßzähnen, der Hirsch mit seinem Geweih, aber der Mensch hat sie dazu gebracht, seinen Eßtisch zu bereichern. Luchse, Füchse und zahllose andere ungenießbare Geschöpfe dieser Art hat er mit ihren Häuten und Fellen dazu bestimmt, ihm zu dienen. Er erobert das Meer mit Netzen, die Wälder mit seinen Hunden, den Himmel mit Falken und Habichten, und manch andere Tiere lehrt der Mensch, seine Stimme zu verstehen und seinen Befehlen zu gehorchen. So gewinnt der Mensch aus allen Teilen der Natur etwas. Du hast nicht die Kraft eines Ochsen, aber der Ochse pflügt für dich. Du hast nicht die Geschwindigkeit eines Pferdes, aber das Pferd trabt für dich. Du kannst nicht wie ein Falke fliegen, aber der Falke fliegt für dich. Du bist nicht so groß wie ein Elefant oder ein Kamel, aber sie tragen große Lasten für dich. Du hast nicht die Haut eines Hirsches, die Wolle eines Lammes oder das Fell eines Fuchses, aber alles, was sie haben, kann dir dienen. Gebührt also nicht denen, die euch den Mangel an alledem vorhalten, die geistvolle Antwort, die ein römischer Heerführer gab: „Der Mensch sollte das alles nicht haben wollen, aber er sollte diejenigen beherrschen können, die es haben.“ Soviel wollte ich in Kürze sagen, manches als Philosoph und manches als Christ.

Bezüglich der „Betrübnis des Geistes“, wie es die Philosophen nennen, und wie man sie loswird und den Seelenfrieden wiederfindet, ist es gut zu wissen, was Cicero über den Kummer im dritten Buch seiner „Tusculanen“ und Seneca über den Seelenfrieden in seinem Buch „Von der Seelenruhe“ schreibt. Da ich mich jedoch beeile, um noch andere Themen zu berühren, kann ich hier nicht alles Gewünschte ausführen. So habe ich vorerst nur die Wunde verbunden und die Ärzte der Seele aufgezeigt, deren Hilfe du suchen kannst, wenn meine Worte nicht ausreichen. Ich denke auch nicht, daß die letzten drei Dinge, über die du dich beschwert hast, einen weiteren Kommentar verdienen: Der „Härte des Schicksals“ war und wird der größte Teil dieses zweiten Buches unserer Gespräche gewidmet, eine Härte, die durch die „Kürze des Lebens“ gemildert und vermindert wird. Und die „Ungewißheit des Lebensendes“ wurde von der Natur so eingerichtet, damit du dir stets bewußt sein sollst, daß das Ende gegenwärtig oder zumindest nicht weit entfernt ist.

Petrarcameister - Von Traurigkeit und Elend

Gegen die rhetorische Klage des Schmerzes „Ich bin wegen der Trübseligkeit dieses Lebens traurig“ führt Petrarca mit der Antwort seiner Vernunft echte Renaissancegesinnung ins Feld und bekundet wieder seine Abwendung von der mittelalterlichen Auffassung des Erdenlebens als einer Prüfung für künftiges himmlisches Leben. Dabei ist sich Petrarca der Neuheit seiner Anschauungen wohl bewußt. „Ich verneine nicht die Trübseligkeit des menschlichen Wesens ... welche etliche Lehrer mit ganzen Büchern beweint haben, dagegen kannst du aber auch viele Dinge sehen, die ein seliges liebliches und fröhliches Leben machen…“ Ein einziges Lob auf den Menschen und auf die Natur ist der Trost, den Petrarca gibt. Seine bedeutsame Stellung als Mitbegründer einer neuen Auffassung vom Leben des Menschen wird hier erkennbar, ebenso wie sein aus dem Studium antiker Schriftsteller gewonnenes Naturgefühl. - Der Petrarca-Meister geht jedoch auf die Tröstungen nicht ein. Er gibt ein erschütterndes Bild vom Elend der Menschen seiner Zeit, wie es sich täglich an den Kirchentüren versammelte. Mit besiegelten Urkunden weisen die Kranken und Armen ihre Not und ihre Leiden nach und suchen in förmlicher Schaustellung das Mitleid der Kirchgänger zu erregen. (Mit sogenannten Bettlerausweisen, Bettlerpässen oder Bettlerzeichen versuchten die Städte, die Zahl der Bettler zu regulieren.) Es will beachtet sein, daß wohl ein gabenspendender Patrizier vor der Kirchentüre dargestellt ist, daß aber die feiste Nonne durch die Reihen der Bettler geht, ohne nach rechts und links zu blicken.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht erinnert uns dieses Bild an die weitverbreitete Betrübnis oder Depression, wenn der Mensch nicht das erhält, was er sich vom Leben erwartet. So werden wir auch geistig zu Bettlern, und ein entsprechendes Bedürftigkeitszertifikat stellt uns der begriffliche Verstand aus, mit dem wir dann an den Wegen der Welt warten und erwarten, das Gewünschte von der äußeren Welt zu bekommen. Auf dem Weg sieht man den reichen Adligen, der von seinem Reichtum ein wenig abgibt, um sein Gewissen zu beruhigen, aber zumindest auf dem Weg in die Kirche geht, um den Heiligen Geist zu empfangen. Die „feiste Nonne“ mit dem Rosenkranz kommt aus der Kirche. Doch was könnte sie geben, außer ihr Gebet? Und vielleicht ist mit dem dicken Bauch hier nicht das übliche Klischee des Eigennutzes unter dem Deckmantel der Christlichkeit gemeint, sondern die geistige Empfängnis des Heiligen Geistes, der jede Betrübnis um Körper und Geist heilen kann. Demgegenüber stände dann die schwangere Bettlerin mit ihrem weltlichen Kind, in dem sich das Ichbewußtsein verkörpert, das nicht anders als seine Eltern arm und bedürftig sein wird, wie die Familie vorn links. Hinter ihnen sieht man einen Esel, der seine Last geduldig erträgt und sich inzwischen sein Futter sucht, was man auch geistig verstehen kann.

2.94. Von Zahnschmerzen

Schmerz: Ich habe Zahnschmerzen.

Vernunft: Du siehst, wieviel Vertrauen du in deine Organe setzen kannst, wenn dich bereits die härtesten Knochen im Stich lassen.

Schmerz: Meine Zähne beginnen zu wackeln.

Vernunft: Wie viel Hoffnung gibt es dann für das Weiche, wenn selbst die harten und festen Körperteile ins Wanken geraten?

Schmerz: Meine Zähne sind in einem schlechten Zustand.

Vernunft: Der Mensch ist ein schwaches und gebrechliches Tier, bei dem sogar die scheinbar stärksten Knochengebilde gebrechlich sind.

Schmerz: Ich habe starke Zahnschmerzen.

Vernunft: Was als wichtigste Zierde und Stärke deines Mundes dienen sollte, verwandelt sich in eine Quelle des Schmerzes. Daran kannst du erkennen, wie sicher diese sterbliche Hülle ist, in der du so selbstgefällig wohnst!

Schmerz: Ich habe schon mehrere Zähne verloren.

Vernunft: Nun solltest du erkennen, wie dankbar du Gott für so viele wunderbare Gaben sein solltest, wenn schon der Verlust der kleinsten von ihnen so schmerzlich für dich ist. Deine Strafe ist deiner Undankbarkeit angemessen. Ein Diener, der die angebotene Großzügigkeit seines Herrn verachtet, muß darunter leiden, wenn sie zurückgezogen wird, um durch den Verlust zu erkennen, was er verachtet hat.

Schmerz: Ich werde aber meiner Zähne beraubt.

Vernunft: Und schon begegnet man seinem Appetit mit weniger Schwung. Du ißt weniger, lachst weniger und beißt weniger hart zu, auch wenn du den Ruf eines anderen zerkaust. Die gebrochene Reihe deiner Zähne wird deine überschnelle Zunge zügeln, und wenn es nicht Scham ist, wird es Verlegenheit sein, die dein Lächeln zurückhält, das nach unerlaubten Küssen verlangt.

Schmerz: Das Alter beginnt, mir die Zähne zu brechen.

Vernunft: Das Alter übt nur sein Recht aus, und du solltest der Natur danken, daß sie dir erlaubt hat, diese Gabe von ihr bis ins hohe Alter zu behalten, welche sie von vielen schon im jungen Alter zurückfordert. Einer von ihnen war der größte aller Könige, dem schon in seiner Jugend die meisten Zähne fehlten. Doch obwohl er unter diesem Verlust litt, tröstete ihn im Alter ein äußerst scharfes Sehvermögen, wie er selbst sagte, und dazu, worüber er schwieg, eine große Kraft des Verstandes und der Vernunft. Das sei ein nützliches Beispiel für jeden, der von den Beschwerden der Natur oder des Alters bedrückt wird, sich nicht über jede Kleinigkeit zu beklagen, noch jedes nachteilige Nachlassen der himmlischen Großzügigkeit eine Verletzung zu nennen, sondern den Verlust mit dem Gewinn auszugleichen, das Harte mit dem Weichen und das Bittere mit dem Süßen.

Schmerz: Das Alter hat mich meiner Zähne beraubt.

Vernunft: Wenn das Alter sie dir nicht raubt, dann wird es sicherlich der Tod tun. Geh einfach zu einem Beinhaus voller Knochen und sieh dir die Zähne in den vertrockneten Schädeln an! Das mag auf den ersten Blick gespenstisch sein, aber sie sind leicht zu bewegen und fallen heraus, weil sie keine lebendigen Wurzeln mehr haben. So spielt nun ihre Anzahl keine Rolle mehr, noch ihre Stärke oder Schönheit.

Wir lesen zum Beispiel, daß die Tochter von Mithridates, dem König von Pontus, an jedem Kiefer eine doppelte Zahnreihe hatte. Prusias, der Sohn des Königs von Bithynien, hatte statt einer oberen Zahnreihe nur einen einzigen Zahn, der zu allen unteren paßte, das heißt, nur einen festen Knochen über den ganzen Oberkiefer, eine Mißbildung, die weder häßlich noch unangenehm war (Valerius Maximus Sammlung, Buch 1, 8.12). Und Zenobia, die wegen ihrer großen Schönheit viel gepriesene Königin des Ostens, soll so prächtige Zähne besessen haben, daß sie, wann immer sie sprach oder lachte, einen Mund voll weißer Perlen zu haben schien. Doch wenn du jetzt ihr Grab durchsuchen würdest, könntest du nichts mehr davon finden, denn der Tod hat vor langer Zeit alles zerstreut und ausgelöscht. Aber ihr Menschen liebt euren Körper und eure sterbliche Hülle zu sehr und vernachlässigt euren unsterblichen Geist und eure Tugend, blind wie immer und arm an Weisheit!

Schmerz: Ich habe nun alle Zähne verloren.

Vernunft: Dann bist du ohne Zahnschmerzen, aber auch ohne die Hilfe deiner Zähne. Du kannst sie nicht mehr benutzen und mußt deine Nahrung vor dem Essen sorgfältig zerkleinern. Und wenn du dich nicht selbst belügst, wirst du über den vor dir liegenden Weg nachdenken, der dorthin führt, wo man nichts ißt, sondern in ewiger Freude verweilt und die Seele allein von Gott ernährt wird.

Petrarcameister - Von Zahnschmerzen

Zu dieser Klage über die täglichen Leiden des menschlichen Lebens zeichnet der Petrarca-Meister einen Zahnbrecher auf dem Markt; das Urbild der zahlreichen Darstellungen, die dieses Thema später in der italienischen und holländischen Malerei gefunden hat. Da ist schon die phantastische Tracht des Scharlatans, da sind die Schautafeln mit Wunderdarstellungen, die Haufen gezogener Zähne und die Büchsen mit den Heilmitteln gegen jeden Schmerz. Nur der Affe fehlt noch, der in den holländischen Darstellungen die Menge anlocken soll. Vor dem Schmerz sind alle Stände gleich: Bauern, Landsknechte, Patrizier und ihre Frauen suchen einträchtig Hilfe bei dem Zahnbrecher. (Siehe auch historische Bilder von Zahnbrecher 1568 und 1632. Auf Basis des Holzschnittes entstand vermutlich auch das Zahnbrecher-Bild im Buch „Deutsche Kulturbilder“ von 1934.)

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht können wir wieder sieben männliche bzw. geistige Wesen gegenüber den weiblichen Wesen der Natur sehen. Zu ihnen gehören wohl auch die fünf Sinne, die den Verstand drängen, die Schmerzen von Mutter Natur zu beseitigen. Dazu stellt er sich auf einem Podest stolz über die Natur und versucht, ihr „den schmerhaften Zahn zu ziehen“. Eine Kette und Krone mit Zähnen sollen ihn zum König erheben. Hinter ihm steht ein adliger Mann, der skeptisch zuschaut und uns an die höhere Vernunft erinnert, wie sie auch im Text von Petrarca spricht. Die vier Schaubilder zu den Krankheiten haben hier vermutlich auch eine geistige Bedeutung. Unten könnte man die Sündenschlange sehen, wie sie seit dem Apfelbiß von Eva in die weibliche Natur eindringt und im Tierwesen wieder hervorkommt, während sich der männliche Geist wie ein Kind unterwirft. Oben könnte man die Geburt sehen, und daß auch der männliche Geist schwanger ist, und den Heiligen Geist gebären kann, der die natürlichen Gegensätze wieder heilt und vereint, wie das Wappen andeutet. Auf dem Tisch könnte man die vielen versuchten Heilmittel sowie den großen Haufen von Zähnen sehen, die der begriffliche Verstand der körperlichen Natur schon gezogen hat, aber das grundsätzliche Problem des Leidens konnte er damit nicht lösen. Unter dem Tisch steht versteckt ein Faß zur Reinigung der Instrumente, das auch an eine geistige Reinigung wie zur biblischen Hochzeit von Kanaan erinnert, und daneben liegt vielleicht der berühmte Stein der Weisen, den hier noch niemand beachtet.

2.95. Von kranken Beinen

Schmerz: Meine Beine sind krank.

Vernunft: In jedem Gebäude erscheint der gefährlichste Mangel im Fundament. Alles andere kann repariert werden, aber dieser führt zum Einsturz. Dann bleibt dir nicht viel anderes übrig, als dein schwankendes Haus zu verlassen, bevor es zusammenbricht.

Schmerz: Ich leide sehr unter schmerzenden Beinen.

Vernunft: Wie bei den meisten Beschwerden liegt auch bei deiner Erkrankung die Ursache nirgendwo anders als in dir selbst. Was von dir erdacht wurde, wendet sich nun mit Recht gegen dich. Denn du hast den Rat der Weisen vergessen: „Laß die Augen deinen Schritten vorausgehen. (Spr. 4.25)“ Oder auch: „Meiner Ansicht nach ist der wichtigste Hinweis auf einen gesammelten Geist die Fähigkeit, stillzustehen und bei sich selbst zu verweilen.“ Aber du kannst nicht stillstehen, noch achtest du auf deine Schritte. Wie der stolpernde Blinde schwankst du und läufst von einer Seite zur anderen. Kein Wunder, daß du über Steine stolperst und gegen Bäume rennst. Es ist sehr erstaunlich, wie du deine Fehler der schuldlosen Natur zuschreibst, ja, wie du dich mit seltsamer Freude am Wahnsinn zwischen die wiehernden Pferde stürzt und von ihren Huftritten weggejagt wirst! Ist dir jemals in den Sinn gekommen, daß die Worte von Cicero wirklich für jeden gelten: „Oh Narr, diese Übel hast du selber über dich gebracht!“ Und so ist es wirklich, täusche dich nicht! Der größte Teil deiner Übel wird von dir selber verursacht, die du dann im Nachhinein beklagst. Wärst du zu Hause geblieben, das heißt, nur bei dir selbst, hättest du dir diese Krankheit nie eingefangen oder andere Gründe zur Beschwerde gefunden. Es ist nur gerecht, daß eine umherirrende und wankelmütige Lebensweise mit vielerlei Beschwerden behaftet ist.

Schmerz: Ich werde von den Schmerzen in meinen Beinen sehr gequält.

Vernunft: Wenn du zu diesen Schmerzen Anlaß gegeben hast, solltest du deine Strafe gern ertragen. Wenn nicht, dann findest du Erleichterung im Geist, der keine Schuld trägt. Was dich dann schmerzt, ist zwar unangenehm, aber du kannst dich freuen, daß du ohne Schuld bist. Egal was passiert, begegne den Pfeilen des Schmerzes mit dem Schild der Geduld, der ein wirksames Allheilmittel für jede Form von Angst ist. Es gibt keine bessere Medizin.

Schmerz: Ich werde aber von den Schmerzen in meinen Beinen überwältigt.

Vernunft: Die Ärzte werden dir raten, dich niederzulegen und nicht aus dem Bett zu steigen. Wie nutzlos, während der Plage etwas zu empfehlen, was vorher hätte getan werden sollen! Aber ich will nicht weiter auf ihre Ratschläge eingehen. Du selbst wirst schnell erfahren, ob sie ihr Honorar wert sind. Und doch werde ich genau das gleiche empfehlen wie die Ärzte, aber aus einem anderen Grund. Du denkst vielleicht, daß die Heilung einfacher ist, indem du Umschläge auf die schmerzenden Stellen aufträgst und dich niederlegst, weil dann die Geister und Säfte nicht so stark fließen wie beim Stehen oder Gehen. Ich möchte aber, daß du in deinem Bett liegst, alle Sorgen um dein körperliches Wohlbefinden beiseite läßt, deinen Kummer beruhigst, bequem ausgestreckt daliegst und etwas über das Grab nachdenkst, wie du darin liegen würdest und deinen jetzigen Zustand (der Vergänglichkeit) betrachtest. So mach dich mit dem Tod vertraut, bevor er kommt, damit du nicht überwältigt wirst, wenn er kommt. Denn der Tod allein kann deinen sterblichen Leib von allen Krankheiten befreien. (Diese Meditation über Tod und Vergänglichkeit, die auch Petrarca selbst oft übte und z.B. in „Mein Geheimnis“ beschreibt, war schon immer eine heilsame Methode, um die Anhaftung an den sterblichen Körper zu verringern und damit auch Krankheit und Schmerz leichter ertragen zu können.)

Petrarcameister - Von kranken Beinen

Der Petrarca-Meister zeigt wieder seine genaue Kenntnis vom ärztlichen Beruf, wie er auch stets den Bader vom Arzt unterscheidet. Hier ist es der Arzt im breiten Pelzmantel, der das offene Bein des Patriziers behandelt. Er trägt mit einem Spatel Salbe auf, wie sie sein Gehilfe links im Bild zubereitet. Die Butzenscheiben im Fenster des dargestellten Innenraums deuten, ebenso wie der Scherenstuhl, das wohlhabende Milieu an. Eine kleine perspektivische Unstimmigkeit ist dem Künstler unterlaufen: Der Vorhang rechts im Bild hängt räumlich gesehen vor dem Kranken. Die Stange, an der dieser Vorhang hängt, setzt jedoch mit ihrem linken Ende an einem Pfeiler an, der räumlich gesehen beträchtlich hinter dem Kranken steht.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht können wir im Bild einen Spiegel von Natur und Geist bzw. Körper und Seele sehen: Wie der Arzt das Bein als Fundament des Körpers mit Salbe behandelt, so sollte auch Christus bzw. die Vernunft das Bewußtsein als Fundament des Geistes mit dem Heiligen Geist salben. Und wie der Gehilfe auf seinem Bein die Salbe aus den Heilkräutern zubereitet, die er in seiner Tasche in der Natur gesammelt hat, so sollte auch der Verstand den Nektar der Tugend sammeln, um die heilsame Salbe eines ganzheitlichen Bewußtseins zuzubereiten, welche die Vernunft gebrauchen kann. Und wie der Kranke nicht mehr ungezügelt durch die Welt rennen kann, sondern seine Füße hochlegt, still sitzt und achtsam schaut, so sollte auch der kranke Geist zur Ruhe kommen, die innere Stille finden, Achtsamkeit üben und nicht den unruhigen Gedanken nachlaufen. Und wie der Arzt die Binden gebraucht, um die körperlichen Wunden zu verbinden, damit sie sich schließen und heilen können, so gebraucht die Vernunft die geistigen Binden, damit die weltlichen Gegensätze von Geist und Natur, Mein und Dein, Leben und Tod usw. wieder zusammenwachsen, geheilt und vereint werden. Und wie der Vorhang im Bild beiseite geschoben wurde und die Sicht auf die Heilung des vergänglichen Körpers freigibt, so sollte auch der Vorhang der Unwissenheit des begrifflichen Verstandes beiseite geschoben werden, damit sich die Sicht auf die geistige Heilung der ewigen Seele bzw. auf den Heiligen Geist zum ewigen Leben öffnet. Entsprechend heißt es auch in der Bibel: „Der Heilige Geist, mit dem Christus euch gesalbt hat, bleibt in euch! Deshalb braucht ihr keinen, der euch darüber belehrt, sondern der Geist lehrt euch das alles. Und was er lehrt, ist wahr, es ist keine Lüge. Bleibt also bei dem, was er euch lehrt und lebt mit Christus vereint. (1.Joh. 2.27)

2.96. Vom Verlust der Augen

Schmerz: Ich habe meine Augen verloren.

Vernunft: Ach, wie viele abscheuliche Bilder des Lebens hast du verloren, und wie viele Schauspiele von häßlicher Überheblichkeit wirst du nicht mehr sehen!

Schmerz: Ich habe aber meine Augen verloren.

Vernunft: Vielleicht des Kopfes, aber nicht des Herzens. Solange diese lebendig sind, ist alles schön und gut, und nichts ist verloren.

Schmerz: Ich bin blind.

Vernunft: Zwar kannst du dann die Sonne nicht mehr sehen. Aber du hast sie gesehen und erinnerst dich, wie sie aussieht. Und wenn du sie noch nie gesehen hast, dann ist es einerseits ein härterer Schicksalsschlag, aber andererseits wirst du etwas völlig Unbekanntes auch weniger begehren.

Schmerz: Mir fehlen die Augen.

Vernunft: Du kannst den Himmel und die Erde nicht mehr sehen. Aber die Fähigkeit, den Herrn des Himmels und der Erde zu sehen, hast du damit noch nicht verloren. Diese Sicht ist sogar viel klarer als die verlorene.

Schmerz: Ich bin zu ewiger Blindheit verdammt.

Vernunft: Nun wirst du die grünen Täler nicht mehr sehen, die hohen Berge, die blumigen Heiden, die schattigen Wälder, die silbernen Brunnen, die gewundenen Bäche, die saftigen Wiesen und auch die Gesichter der Menschen, die man als den schönsten Anblick bezeichnet. Doch ebenso wirst du die Misthaufen, die ekligen Abwasserkanäle und die verrotteten Kadaver nicht mehr sehen, oder was sonst den Magen durch abscheulichen Anblick quält.

Schmerz: Ich wurde meines Augenlichtes beraubt.

Vernunft: Selbst wenn dieses Leiden keinen anderen Vorteil hätte, als das Schauspiel unrühmlicher und ganz verdorbener Taten nicht sehen zu müssen, wäre die Blindheit schon wünschenswert. Das habe ich oft behauptet, aber ich finde, daß sie nie wünschenswerter war als in diesem Jahrhundert, in dem es keine Hoffnung mehr auf ein Entkommen gibt. Egal, wohin man sich auf dieser Erde wendet, überall herrscht das Reich des Wahnsinns, und die Tugend wurde verbannt. In einer solchen Situation ist es eine Art Zuflucht und Trost, das Augenlicht verloren zu haben.

Schmerz: Ja, dieses Augenlicht habe ich verloren.

Vernunft: Und damit auch den Anblick der Verführungen. Freue dich! Geschlossen sind die Fenster, durch die das Vergängliche hereingekommen ist, und vielen Lastern wurde der Weg versperrt. Gier, Völlerei, Wollust und andere Übel haben ihre Diener und Komplizen verloren. Damit kannst viel von der Tugend wiedergewinnen, die durch diese Feinde deiner Seele verlorenging.

Schmerz: Ich habe aber meine Augen verloren.

Vernunft: Und damit schlechte Führer, die dich ins Verderben geführt haben. Es ist erstaunlich, wie oft das helle Licht dieses Körperteiles den ganzen Geist in Dunkelheit stürzt! Beginne jetzt, dem Geist zu folgen, der dich zu besseren Dingen ruft, und höre auf die Wahrheit, die dir sagt: „Suche nicht nach dem Sichtbaren, sondern nach dem Unsichtbaren. Denn was sichtbar ist, das ist vergänglich, was aber unsichtbar ist, das ist ewig. (2.Kor. 4.18)

Schmerz: Mir fehlt das Licht meiner Augen.

Vernunft: Und dir würden viele Übel fehlen, wenn du dieses Licht nie bekommen hättest. Jetzt verhindern Tugend und körperliche Blindheit zukünftige Übertretungen, und vergangene können durch Kummer und Buße ausgelöscht werden. Trauere nicht, denn deine körperliche Blindheit wird deine geistigen Augen öffnen. Du könntest eher trauern, daß dies nicht früher geschehen ist.

Schmerz: Ich habe das Licht meiner Augen verloren.

Vernunft: Dann bewahre das wahre Licht deines Geistes! Diejenigen, die ein Auge verloren haben, sagen gewöhnlich, daß sie mit dem anderen Auge klarer sehen. Wenn dem so ist, würde ich meinen, daß nach dem Verlust der beiden körperlichen Augen die geistigen Augen am klarsten sehen und du dem Ausspruch des berühmten blinden Wahrsagers Tiresias zustimmen kannst: „Gott hat meine Augen überwältigt und alles Licht in meinen Geist gebracht.“ Wirklich unglücklich und blind bist du erst, wenn du auch dieses innere Licht verloren hast. Was ich vermute, wenn du dich weiterhin so beklagst. Das heißt, du klagst, weil du das Einzige verloren hast, was dir wahrhaft eigen ist.

Schmerz: Ich habe die Augen in meinem Kopf verloren.

Vernunft: Dann reinige und erweitere jene, die du nicht verloren hast, und wende dich, weil deine äußerlichen Augen weg sind, deinen innerlichen Augen zu. Dort, glaube mir, wohnt die Glückseligkeit, die du suchst, nicht in deinen äußerlichen Augen.

Schmerz: Ich kann das Licht nicht mehr sehen.

Vernunft: Dann lerne, in der Dunkelheit glücklich zu sein. Ist dir die Antwort des Philosophen Antipater entgangen, die vielleicht grob, aber sicherlich treffend war? Als einige seiner Freundinnen seine Blindheit beklagten, witzelte er: „Findest du etwa kein Vergnügen in der Nacht?“ Das ist witzig und deutlich. Es gibt viele Freuden im Dunkeln und viele Sorgen im Licht. Aber wohlgemerkt, ich habe nur anständige Dinge im Sinn!

Schmerz: Ich klage um meine verlorenen Augen.

Vernunft: Wenn du sie schlecht verwendet hattest, solltest du froh sein, daß du diese Werkzeuge des Übels verloren hast. Wenn nicht, hat es keinen Sinn, sich über etwas zu ärgern, das zwar dein Gesicht ziert, aber für Tugend und gerechte Entschlossenheit ziemlich unnötig ist. Gott untersucht nicht deine Organe, sondern dein Herz. Biete es Ihm rein und ganz an! Sobald er es akzeptiert hat, wird er auch alles andere akzeptieren, was dazugehört. Denn nur, wer Ihm sein ganzes Herz widmet, hat nichts zurückgehalten.

Schmerz: Ich habe die Augen meines Körpers verloren.

Vernunft: Wenn du zum Himmel aufblickst, dann tröste dich mit Didymus, der seit seiner Kindheit blind war und trotz seiner Blindheit bis zu seinem Tod ein Leben in asketischer Tugend führte. Als der heilige Antonius zu dem alten Mann kam, sagte er ihm, er solle sich keine Sorgen über den Verlust der Augen machen, die man mit Fliegen, Mäusen und Eidechsen gemeinsam hat, sondern frohlocken, daß diese Augen, die er mit den Engeln gemeinsam habe, sicher und heilsam seien. Diese Worte waren Antonius, diesem Schüler des himmlischen Meisters, wahrlich würdig.

Wenn du die Tugend der freien Künste bevorzugst, dann denke an Homer und Demokrit, von denen der erste angeblich nichts mit seinen Augen sah, während er jene wunderbaren und göttlichen Zeilen diktierte, aber einen so scharfsinnigen Geist wie Lynkeus hatte. Der zweite hat sich selbst die Augen ausgestochen, um nicht alles sehen zu müssen, was seiner Meinung nach die Schärfe seines Blickes auf die Wahrheit beeinträchtigte. Ob diese Tat Lob oder Tadel verdient, werde ich auf sich beruhen lassen. Aber sie fand ihre Nachahmer.

Wenn du beabsichtigt hättest, in der Malerei wie Apelles oder in der Bildhauerei wie Phidias Erfolg zu haben, dann würde ich schon zustimmen, daß du etwas verloren hast. Doch ist es auch ein Gewinn, wenn du von niederen Unternehmungen abgehalten und zu höheren gezwungen wirst.

Schmerz: Ich bin aber hilflos und nutzlos in meiner Blindheit.

Vernunft: Oh Blinder, warum erniedrigst du dich selbst? Tiresias, über den wir bereits gesprochen haben, war blind, was das körperliche Augenlicht anbelangt, aber er war ein berühmter Seher mit großen Visionen! Und hat nicht der Stoiker Diodotus, der eher für seine Verbindung zu Cicero als für seine philosophischen Ansichten bekannt ist, seinen Sehverlust durch sein Gehör gelindert? Wie Cicero an derselben Stelle erwähnt, ließ sich dieser Mann Tag und Nacht Bücher vorlesen, bei deren Studium er seine Augen nicht brauchte. Er widmete sich sowohl der Philosophie als auch den Saiteninstrumenten und arbeitete, was ohne Augenlicht kaum möglich erscheint, mit geometrischen Figuren, indem er anderen erklärte, wie man die Linien zeichnet, während er sie mit großem Einfallsreichtum diskutierte. Auch Gaius Drusus hatte keine Augen, aber er war so im Zivilrecht versiert, daß sein Haus jeden Tag mit Mandanten gefüllt war. Sie konnten zwar den Weg zum Gericht sehen, aber nicht, wie sie ihren Rechtsstreit gewinnen konnten. Und so suchten sie die Hilfe eines blinden Führers. Doch der Berühmteste von allen, der jemals für seine Blindheit bekannt war, hieß Appius Claudius und war seinem Beinamen entsprechend tatsächlich blind. Obwohl er durch Blindheit und Alter belastet war, war er dem Volk nicht nur für seinen Rat bei privaten und rechtlichen Problemen bekannt, sondern auch für die Autorität und das Urteilsvermögen, mit dem er den Senat leitete und das gesamte Gemeinwesen regierte. Aber du, der einen seiner Sinne verloren hat, gibst sofort alle anderen auf und deinen Verstand obendrein, wie jemand, der über einen kleinen Verlust verärgert ist und in tiefer Verzweiflung das ganze Leben mit seinen Werkzeugen verwirft.

Schmerz: Ich bin blind und kann nicht sehen, wohin ich gehe.

Vernunft: Aber deine Führer können sehen, sei es jetzt deine Seele oder eine andere Person, die Blinden gewöhnlich auf ihren Wegen helfen. Mit ihrer Hilfe kannst du den richtigen Weg finden und sogar das Höchste erreichen, die vollkommene Tugend und edle Entsagung, denn diese Errungenschaften werden nicht von deiner Sehschwäche beeinträchtigt, solange es nicht an den Kräften des Geistes mangelt.

Erinnere dich an Simson aus der Hl. Schrift (Richter 13.1) und an Lucans Bürgerkrieg, was Tyrrhenus in Massilia getan hat. Weil aber poetischen Berichten weniger Anerkennung geschenkt wird, möchtest du dich vielleicht an das erinnern, was viel sicherer ist, weil es erst kürzlich passierte und mit eigenen Augen hätte bezeugt werden können. König Johann von Böhmen, Sohn eines römischen Kaisers, der direkt vor ihm regierte, und Vater eines weiteren, hatte schon immer schwache Augen, und in seinen späteren Jahren erblindete er sogar. In dem Krieg zwischen den Königen der Engländer und Franzosen, die Johann begünstigte, der mittlerweile dreißig Jahre gedauert hat, in dieser schrecklichen Schlacht, in der diese beiden Könige kämpften, spürte Johann, daß das Vermögen seiner Seite zu schwinden begann. Er rief seinen Rittern mit lauter Stimme zu und befahl: „Führt mich schnell zu jenem Schlachtfeld, wo der König des Feindes und die größte Streitmacht seines Heeres ist!“ Was sie mit Trauer und Zittern taten. Er gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte kopfüber in den Nahkampf, während seine Männer, die sehen konnten, es kaum wagten, dem blinden König mit den Augen zu folgen, als er die tapfersten Soldaten des Feindes angriff, tapfer und wild kämpfte. Als er fiel, bewunderten und lobten seine Gegner, wen sie besiegt hatten. - Ich sage dir, was jeder weiß, aber in Vergessenheit gerät, wenn es nicht bewahrt wird. So frage ich dich: Hat die Blindheit den Ruhm dieses tapferen Kriegers beeinträchtigt? Natur und Tugend hatten ihn bewundernswert gemacht, und die Blindheit machte seine Tapferkeit noch erstaunlicher.

Schmerz: Ich bin aber blind.

Vernunft: Wenn du nicht aufhörst, dich zu beschweren, fange ich noch an zu scherzen. Denn was zwingt dir deine Blindheit mehr auf, wenn deine anderen Fähigkeiten erhalten bleiben, als was Asklepiades scherzhaft sprach, als er (durch einen Unfall) erblindete, nämlich daß er nun nicht mehr allein gehen muß, sondern einen Knaben als Führer gewonnen hat.

Petrarcameister - Vom Verlust der Augen

Reale Darstellung mischt sich in diesem Bild mit symbolischer Bedeutung. Ein Augenkranker mit einem großen Buch in den Händen, das auf Versagen der Augen hinweisen soll, ist für eine Operation auf einer Bank liegend gefesselt, damit er nicht durch unwillkürliche Bewegungen den ärztlichen Eingriff gefährdet. Der Bader, in der Tracht eines Handwerkers, nimmt die Operation vor. Hinter dem Operationstisch steht eine Königin, die zwar kompositionell eng mit der ersten Handlung verbunden ist, jedoch offensichtlich in keinem direkten gedanklichen Zusammenhang mit ihr ist. Sie bohrt sich mit der Rechten einen langen Dolch in die Seite, während ein Vogel ihr die Augen auskratzt. Petrarca nennt kein Beispiel einer Herrscherin, die so ihrem Leben ein Ende gemacht hätte. Eine Deutung, auf welche Legende Sebastian Brant mit dieser Darstellung des Petrarca-Meisters habe hinweisen wollen, kann vorerst nicht gegeben werden. Es ist anzunehmen, daß ein Zusammenhang mit den Trostworten der Vernunft besteht, nach denen die Augen die Diener und Trabanten von Geiz, Unkeuschheit und anderen Lastern seien und ihr Verlust vor Versuchungen schütze. Erst wenn des Gemütes Licht erloschen sei, sei man wirklich blind. So mag bei dieser Frau, die sich selbst den Tod gibt, des „Gemütes Licht“ erloschen sein, ohne daß zuvor ihre Augen Schaden genommen hatten. Zu ihr im Gegensatz steht der Pilger, der links mit einem Leithund seines Weges geht. Er hat zwar die Kraft der Augen verloren, doch ist er nicht blind, weil ihm noch des „Gemütes Licht“ leuchtet.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht könnte man den altgewordenen Geist sehen, wie er im Körperhaus gebunden liegt, und der begriffliche Verstand operiert an den körperlichen Augen, damit die Buchstaben der Schrift gelesen werden können, denn der Verstand liebt das „begreifbare Bücherwissen“. Dabei beachtet er nicht, daß die Seele, die durch das große Fenster aus der weiten Natur in den engen Körper kam, vom körperlichen Tierwesen bzw. Körperbewußtsein geblendet wird und ihre innerliche geistige Sicht verliert. Denn der gewöhnliche Verstand als Freund des Ichbewußtseins ist vor allem auf die äußerliche Sinneserfahrung gerichtet und schaut nicht gern nach Innen zur Seele, weil er dort auf die Königin treffen würde, eine ganzheitliche Seele, die sich in der mystischen Hochzeit wieder mit der ganzheitlichen Vernunft als König vermählen sollte. Der vermeintliche Dolch könnte bei näherer Betrachtung auch ein Band ihres Kleides sein, wie sich auch „im Wind des Geistes“ die beiden Bänder nach hinten lösen, die daran erinnern, daß die Seele von den Gegensätzen der Natur gebunden wird, die alle einen Anfang und ein Ende haben. Sie selbst ergreift mit der einen Hand das Ende und mit der anderen den Anfang in ihrem Herzen. Entsprechend sieht man auch hinter ihr ein Tuch oder Kleidungstück zu Boden sinken, was vielleicht daran erinnern soll, daß die Seele bereit ist, ihre „körperlichen Hüllen“ fallen zu lassen, aber der Verstand erkennt es nicht und will es auch nicht erkennen. So sieht man auch links einen Pilger, der von seinem Tierwesen geführt wird und damit von der Sonne wegläuft, die sich nun hinter den Wolken der Unwissenheit verbirgt, was die geistige Blindheit andeutet, die der begriffliche Verstand zusammen mit dem trennenden Ichbewußtsein liebt.

2.97. Vom Verlust des Gehörs

Schmerz: Ich habe mein Gehör verloren.

Vernunft: Damit wird ein weiterer Ansturm gestoppt. Viel Übel dringt durch die Augen und viel durch die Ohren ein. So viele Verführungen kommen durch beide Tore, um deinen Geist zu ergreifen. Um all dies zu vermeiden, scheinen sowohl Blindheit als auch Taubheit fast gleichermaßen wünschenswert. Aber wie alles in der Welt der Sterblichen haben sie auch ihre Nachteile, und ich gestehe, daß sie nicht ohne Bitterkeit sind, die allerdings durch Geduld versüßt und durch Tugend überwunden werden kann. Welches der beiden mehr oder weniger lästig ist, ist schwer zu sagen, abgesehen von der Tatsache, daß Blindheit gefährlicher und Taubheit lächerlicher erscheint. Daher werden die Schwerhörigen gewöhnlich als Dummköpfe angesehen, während die Blinden elender erscheinen, so daß die Menschen die Tauben mit ihrem Lachen und die Blinden mit ihrem Mitleid belasten. Aber der Weise ignoriert beides, weil er die Dinge nicht so beurteilt, wie sie anderen erscheinen, sondern wie sie sind.

Schmerz: Ich habe aber mein Gehör verloren.

Vernunft: Damit entgehst du sowohl den Schmeicheleien von Speichelleckern als auch den Anschuldigungen von Verleumdern, ein ganz anderes, aber ebenso schlimmes Übel, es sei denn, wir halten es für etwas männlicher, auf Anschuldigungen zu hören als auf Schmeicheleien. Das erstere kann eine Art Medizin sein, aber das letztere ist immer Gift. So wirkt eine Verleumdung durch ihre Bissigkeit manchmal heilend, während schmeichelnde Worte nur verunreinigen. Denn geheuchelte Liebe ist schlimmer als aufrichtiger Zorn.

Schmerz: Ich habe mein Gehör verloren.

Vernunft: Die Natur oder Umstände haben dir den Schutz gegeben, der auch Odysseus gegeben wurde, damit du ebenfalls sicher vor dem Gesang der Sirenen segeln und glücklich den Hafen erreichen kannst. Wie vielen Gefahren wäre dein Geist sonst ausgesetzt, wie vielen Lügen und Irrtümern, und wie viele Ängste wären auf diese Weise in dich eingedrungen!

Schmerz: Doch ich habe mein Gehör verloren.

Vernunft: Dann hört man die Nachtigall, die Harfen und die Pfeifen nicht mehr, aber auch nicht mehr die brüllenden Esel, grunzenden Schweine, heulenden Wölfe, bellenden Hunde, knurrenden Bären, brüllenden Löwen, schreienden Kinder, feilschenden Marktweiber und was das Allerschlimmste ist, das allgegenwärtige Gelächter närrischer Dummköpfe, ihr endloses Gejammer und wirres Gerede, was alles so häßlich klingt.

Schmerz: Mir wurde mein Gehör gestohlen.

Vernunft: So bist du vor vielen weiteren Betrügereien sicher. Denn nichts täuscht die Menschen öfters als Worte. Für einen Gehörlosen besteht diese Gefahr nicht mehr.

Schmerz: Ich bin schwerhörig geworden.

Vernunft: Das Gehör ist ein gefährliches Organ des Körpers, besonders bei Fürsten, die vom Geflüster der Schmeichler oft so aufgeblasen werden, daß sie bald platzen und sterben, während ihre Untertanen darüber lachen.

Schmerz: Ich höre ganz schlecht.

Vernunft: Wer sich nicht mit anderen unterhalten kann, kann sich doch mit sich selbst unterhalten, eingedenk der Maxime von Cicero: „Wer sich mit sich selbst unterhalten kann, braucht die Gespräche anderer nicht.“ Natürlich kann auch ein Gehörloser durch Lesen oder Schreiben ein Gespräch führen, denn wenn wir lesen, sprechen wir mit den Alten, und wenn wir schreiben, sprechen wir mit der Nachwelt. Und wenn wir die Bücher einer heiligen Philosophie lesen, hören wir den Herrgott, und wenn wir beten, sprechen wir mit Ihm. Dazu brauchen wir weder Zunge noch Ohren, nur Augen und Hände und ein frommes Herz. Hier, wie in vielen anderen Dingen, solltest du den Rat deines Landsmannes Cicero befolgen: „Wie die Blinden Trost aus ihrem Gehör schöpfen, so können ihn die Tauben durch ihr Sehen finden.“ Wenn du die Stimmen deiner Mitmenschen nicht hören kannst, solltest du die Bücher lesen, die von ihnen geschrieben wurden, und Bücher schreiben, damit sie sie lesen können. So betrachte in der Stille den Himmel, die Erde und das Meer, sowie den Schöpfer von allem! Die Taubheit kann dich von all dem nicht abhalten, sondern sogar hilfreich dafür sein.

Schmerz: Mein Gehör hat mich verlassen.

Vernunft: Auch ein Gehörloser kann die Töne und Zahlen kennen, die die Intervalle von Quinte und Oktave charakterisieren, sowie die anderen Proportionen der Tonleiter, mit der Musiker arbeiten. Auch wenn man die Klänge der menschlichen Stimme, der Streicher oder der Orgel nicht hört, kann man doch deren Grundkanon in seinem Kopf erfassen und wird diesen geistigen Genuß zweifellos einem bloßen Ohrenkitzel vorziehen. Aber angenommen, die Gehörlosen könnten auch die Zahlenbeziehungen der Musik nicht erkennen, so ist doch alles gut, solange sie die Zahlen der Tugend kennen und diese üben, und daran hindert sie ihre Taubheit nicht. Denn es ist viel besser, gut zu sein als gelehrt. Und wer sehr gelehrt und weise ist, sollte auch sehr gut sein. Denn wenn er bösartig ist, ist er auch unwissend und völlig unfähig, selbst als gelehrtester Gelehrte unter der Sonne. (Aristoteles beschreibt z.B. in seiner Metaphysik 1.5 , daß die Zahlen von den Schülern des Pythagoras als grundlegend von allem betrachtet wurden.)

Schmerz: Ich werde schwerhörig.

Vernunft: Es ist gut, daß dir das nicht passiert ist, bevor du den Glauben empfangen hast, der hauptsächlich durch das Hören kommt und den du jetzt hast. Worüber beschwerst du dich eigentlich? Wonach suchst du noch? Wenn du den Gesang der Menschen oder der Vögel nicht hören kannst, dann lausche mit deinem Herzen dem himmlischen Gesang und richte dein inneres Ohr auf Gott!

Schmerz: Ich kann nichts hören.

Vernunft: Dann denke nach und sprich mit dir selbst! Wenn ich nicht hören kann, was die Leute zu mir oder über mich sagen, höre ich auf das, was der Herrgott in mir sagt. Die Leute reden immer über Streit, doch Er spricht immer über Frieden.

Schmerz: Ich höre überhaupt nichts.

Vernunft: Viele haben sich auf der Suche nach der Stille durch weite und lange Reisen erschöpft, nur um in einer abgelegenen verlassenen Ecke zu finden, wonach sie sich sehnten. Du hast nun bequem überall dabei, was andere mühsam suchen. Lerne, diesen Segen zu nutzen! Erinnere dich an all den Lärm und das Geschrei, was nun vergangen ist, und beginne, die Stille zu genießen, die jetzt dir gehört.

Petrarcameister - Vom Verlust des Gehörs

In die Mitte des Bildes bringt der Petrarca-Meister eines der im Buch seltenen biblischen Motive: Den Jünger Simon Petrus, wie er dem Knecht Malchus bei der Gefangennahme Christi mit dem Schwert das Ohr abhaut. Dieses Beispiel ist nicht gut gewählt, denn mit dem Abhauen des Ohres geht das Gehör nicht verloren. So steht denn auch diese Gruppe mit dem unmotiviert fliegenden Mantel des Jüngers fast als Fremdkörper in der Komposition. Um so anschaulicher sind die beiden anderen Szenen. Links behandelt ein Arzt, mit Pelzmantel und in reicher Kleidung, einen Ohrenkranken, indem er aus einer Phiole heilende Tropfen in das Ohr bringt. Rechts steht ein tauber Magister, der beide Hände helfend an die Ohren legt, während ihm ein anderer Mann seine Worte in die Ohren schreit. - Bei allen Krankheitsbildern unterscheidet der Petrarca-Meister stets zwischen der Verrichtung des Arztes und des Baders. Der Arzt seiner Zeit heilt medikamentös mit Pulvern, Pillen, Tropfen, Salben oder Wässern, der Bader ist dagegen der Chirurg. Im Rang steht der studierte Arzt höher und wird vom Petrarca-Meister stets in patrizischer Tracht mit Pelzmantel gezeichnet.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht können wir rechts den altgewordenen Geist als Magister sehen, der viel von anderen gehört und gelernt hat. Aber nun schließen sich die äußerlichen Ohren, und selbst das lauteste Geschrei dringt nicht mehr in ihn ein. Dazu liegt er nun links im Körperhaus still und läßt sich von der Vernunft als Arzt die inneren Ohren reinigen. Entsprechend sieht man neben der Phiole mit den heilenden Tropfen auch verschiedene Reinigungsmittel an den Wänden des Körperhauses hängen. So kann es bald geschehen, daß die innere Intuition vom Feuer des Heiligen Geist getrieben erwacht und ungestüm mit fliegendem Mantel und dem Schwert der ganzheitlichen Erkenntnis gegen den begrifflichen Verstand vorgeht, der bisher als Knecht der Gesetzeslehrer bzw. Wissenschaftler gedient hat, aber nun mit seiner begrenzten Lampe am Boden liegt. Die unterschiedlich lange Hose an den Beinen, auf denen er bisher stand, und die beiden Hände, mit denen er seine Lampe als Licht des Bewußtseins festhält, deuten auf die Gegensätzlichkeit des Verstandes hin, der die Welt durch Gut und Böse, Mein und Dein, Werden und Vergehen oder auch Leben und Tod betrachtet und daran festhalten will. Aber wie wir aus der biblischen Geschichte wissen (Luk. 22.50), will das Christusbewußtsein diesen Verstand nicht töten oder vernichten, sondern heilen und wieder ganz machen, das heißt, die gedanklichen Gegensätze wieder vereinen. (Siehe auch Albrecht Dürer „Kleine Passion“.)

2.98. Von der Lebensmüdigkeit

Schmerz: Ich bin sehr lebensmüde.

Vernunft: Eine Reaktion auf Krankheitszustände, welche die gefährlichste ist, die ich kenne. Sie ist höchst beschwerlich, der Verzweiflung bereits nahe und direkt dahin führend. Um davon abzuhelfen, wurde in euren Kirchen besonders das Gebet an die Seelen der Gesegneten eingesetzt, die, befreit von geistiger Müdigkeit und körperlicher Bindung auf Erden, die Freuden des Himmels und die ewige Gelassenheit des Geistes genießen.

Schmerz: Die ermüdenden Probleme des Lebens umgeben mich von allen Seiten.

Vernunft: Solcher Ermüdung sollte durch glückliche Gedanken und guter Hoffnung entgegengewirkt werden, sowie durch den Trost guter Freunde und Bücher, durch eine Vielfalt heilsamer Freuden und angenehmer Übung, durch Beschäftigung und vor allem durch Geduld in allen Angelegenheiten und unerschütterliche Ausdauer. Du darfst dein Leben auf keinen Fall wegwünschen, nicht aus Haß auf die Gegenwart und ungeduldiger Sehnsucht nach der Zukunft, nicht aus Angst und nicht aus irgendeiner Erwartung vom Leben. Dies tun nur unwissende Menschen, die versuchen, der Armut und Ermüdung dieses Lebens mit seinen zeitlichen Qualen zu entkommen, um in die ewigen zu fallen. Auch wenn unser Cicero in seinem Buch „De Officiis“ den Tod des jüngeren Cato entschuldigt, und auch wenn Seneca ein solches Verhalten mit Ehrfurcht lobt und an vielen Stellen die Umstände diskutiert, die einen Selbstmord rechtfertigen, so ist doch ein anderes Wort von Cicero unendlich klüger, nämlich daß sowohl du selbst als auch alle guten Menschen diese Seele in der Obhut des Körpers lassen müssen und das menschliche Leben nicht aufgeben dürfen, es sei denn auf Geheiß dessen, von dem es dir gegeben wurde, damit du dich nicht der von Gott auferlegten Pflicht für den Menschen entziehst. Ja, denke, das wurde dir vom Himmel gesagt. Wenn Gott, dessen Tempel alles ist, was du siehst, dich nicht aus dem Gefängnis des Körpers befreit hat, dann steht dir dieser Ausgang noch nicht offen (Cicero, de re publica VI). Kurz gesagt, hüte dich davor, daß du einerseits nicht von Lebensmüdigkeit getrieben so sehr an den Tod denkst, daß es dir rechtmäßig erscheint, danach zu greifen, oder du anderseits so sehr in irgendeine Freude versinkst, daß du gar nicht an ihn denkst, so daß er deinen achtlosen Geist unerwartet niederschlägt.

Petrarcameister - Von der Lebensmüdigkeit

In einer dreiteiligen Szene schildert der Petrarca-Meister, daß Lebensüberdruß in allen Ständen vorkommt. Im Mittelbild ersticht sich ein vornehmer Greis, der auf einem Thronsessel in einem reichen Zimmer mit Marmorfußboden und Brokatverkleidungen sitzt. Er trägt die Kleidung der Zeit des Künstlers, und es ist deshalb nicht unbedingt gesagt, daß Cato dargestellt sein soll, wie ihn Petrarca in seinem Text als vornehmen Selbstmörder genannt hat. (Cato tötete sich vor dem Einmarsch der feindlichen Truppen Caesars mit seinem Schwert. Nach einem mißlungenen Schwertstoß fiel er schwer verletzt in Ohnmacht, worauf man ihn medizinisch versorgte, doch als er wieder zu Bewußtsein kam, riß er die Wunde auf und starb. Quelle: Wiki) Draußen vor der Tür hat ein Bauer seinem Leben durch Erhängen an einem Baum ein Ende bereitet. Links öffnet sich der Blick auf den Dachboden eines Bürgerhauses. Am Dachsparren hat sich eine Bürgersfrau mit ihrem Kopftuch erhängt, und der Teufel zieht ihr den Schemel unter den Füßen fort.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht könnte man hier drei prinzipielle Ebenen des Selbstmordes erkennen: Rechts hinten in der Natur auf der Ebene des Körperbewußtseins in Gestalt eines Bauern, der sich am Baum der Körperlichkeit erhängt, weil sich der Verstand in seinem Körper nicht mehr ertragen kann. Mit der Macht dieser Tat verstärkt sich entsprechend das Körperbewußtsein der ewigen Seele. Links den Selbstmord auf der Ebene des Ichbewußtseins, der sozusagen auf dem angefüllten Dachboden des Körperhauses im Kopf stattfindet, weil sich die Person mit dem Verstand selber nicht mehr ertragen kann. Dieser Selbstmord wird vom Ichbewußtsein in Gestalt des Teufels verursacht und ausgeführt, und entsprechend verstärkt sich mit der Macht dieser Tat das Ichbewußtsein der ewigen Seele. Die dritte Art wäre dann im Zentrum der „Freitod“ auf der Ebene eines höheren uneigennützigen Bewußtseins, weil die Vernunft als König auf dem Thron im Körperhaus die allgemeinen Zustände in der Welt nicht mehr ertragen kann. Und mit der Macht dieser Tat würde sich entsprechend die ganzheitliche Vernunft bzw. Tugend oder Weisheit der ewigen Seele verstärken. Doch praktisch wird man wohl in jedem Selbstmord mehr oder weniger alle drei Ebenen finden können.

2.99. Vom Übergewicht des Körpers

Schmerz: Ich habe einen schweren Körper.

Vernunft: Darüber könntest du dich beklagen, wenn du zum Fliegen geboren wärst und nicht als Mensch zur Tugend.

Schmerz: Mein Körper ist dick und unbeholfen.

Vernunft: Überlaß diese Beschwerde den Schauspielern wie Roscius oder Aesopus. Wenn du nicht durch ein enges Loch kriechen oder auf einem Seil durch die Luft tanzen kannst, wo liegt das Problem? Gehe mit guten Männern, maßvoll im Gang, und überlasse den Bühnenspielern schnelle Gesten und flinke Sprünge. Ernsthaftigkeit und Mäßigung gehören zu einem weisen Menschen, sowohl in seinen Taten und Worten als auch in seinen Gedanken.

Schmerz: Ich habe aber einen schweren Körper.

Vernunft: Beleibtheit gilt gemeinhin als Begleiter des Alters, und wer das Alter haben will, muß auch die Beleibtheit akzeptieren. Aber manchmal entpuppt sie sich eher als Begleiter der Natur als des fortgeschrittenen Alters. So sehen wir auch junge Menschen, die fettleibig sind, und schlanke Alte, die flink sind. Außerdem kann ein beweglicher Geist in einem dicken Körper wohnen und ein träger Geist in einem beweglichen Körper. Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Körper und Geist ist sicherlich nicht zu verachten!

Schmerz: Ich habe aber einen übergewichtigen Körper.

Vernunft: Nicht weniger, obwohl unsichtbar, kann das Gewicht des Geistes und seiner Entschlossenheit sein. Setze diesen Geist dem Gewicht des Körpers entgegen und nichts wird mehr „übergewichtig“ sein.

Schmerz: Mein Gewicht überwältigt mich.

Vernunft: Dann bewege deinen Geist und versuche, dein Körpergewicht zu verringern, indem du fleißig arbeitest und viele schwere Dinge tust, um Geist und Körper zu trainieren. Damit vertreibe die müßigen Freuden des Körpers und jegliche Faulheit, verachte die Begierden und hasse die Trägheit, sorge für Abhärtung und vergiß die Verweichlichung, übe strenge Disziplin und erfreue dich am Schwierigen, und bestehe darauf, beim Essen, Trinken, Sitzen und Liegen immer maßvoll zu sein, sowie kurz und leicht zu schlafen.

Schmerz: Ich leide sehr unter diesem Gewicht.

Vernunft: Manche leiden auch unter dem Gegenteil, und manche an etwas anderem. Niemand lebt sein Leben ohne Leid, aber jeder scheint nur seine eigenen Probleme zu kennen und ignoriert oder verachtet die der anderen.

Schmerz: Mein Gewicht ist wirklich zu hoch.

Vernunft: Wenn das Wort „Homo“ („Mensch“) als ein sterbliches Geschöpf von „Humus“ („Erde“) abgeleitet wird, dann wird er um so mehr Mensch sein, je mehr er davon erfüllt ist. Dennoch ist es der irdischen Natur des Menschen unmöglich, auf diese Weise die geistige Natur des Menschen zu überwältigen, die sich in der Tat durchsetzen wird, wenn sie sich nicht als taub für die Tugend erweist und ihr Vertrauen auf den schlechten Rat lustvoller Habgier setzt.

Schmerz: Ja, mein schwerer Körper bedrückt meinen Geist.

Vernunft: Dann sammle deinen Geist und trage diese enorme Belastung mit aller Kraft, die du hast. Denke daran, daß sich himmlische Geister oft über alle körperlichen Lasten erheben und erstaunliche Höhen erreichen.

Schmerz: Ich werde aber von der Masse meines Körpers erdrückt.

Vernunft: Obwohl die Natur nicht zu überwinden ist, bemühe dich, jeden Tag deine geistige Kraft zu erhöhen und damit deine körperliche Last zu verringern.

Petrarcameister - Vom Übergewicht des Körpers

In einem hallenähnlichen Raum sitzen zwei Dicke beisammen und geben durch ihr Tun auch gleich die Ursache ihrer Unförmigkeit zu erkennen. Auf dem Tisch vor ihnen stehen die riesigen Gläser, die noch heute in Kunstsammlungen die Verwunderung erregen bei dem Gedanken, daß aus ihnen wirklich getrunken worden ist. Dazu hat der links sitzende Zecher einen Sessel, der eigens für seine Körperbeschaffenheit konstruiert zu sein scheint. Der Dicke, der rechts sitzt, schlägt die Laute. Für seine unförmigen Finger scheint das sonst bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts übliche „Plektrum“ zu winzig zu sein, er verwendet statt dessen einen Kalbsfuß. Links im Freien sitzt ein dicker Mann hilflos auf dem Boden. Die ganze Darstellung besagt deutlich, daß Müßiggang und Unmäßigkeit in den Genüssen die Laster sind, die zu den Nöten der Schwerleibigkeit führen.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht könnte man bei dem „Zecher“ im Zentrum des Bildes angesichts der Schürze und Frisur auch an eine beleibte Frau denken, so daß Mutter Natur und Vater Geist am Tisch dieser Welt oder auch Gottes sitzen und das Brot und den Wein genießen, von dem Christus sagt: „Wahrlich, ich sage euch: Werdet ihr nicht essen das Fleisch des Menschensohnes und trinken sein Blut, so habt ihr kein Leben in euch. (Joh. 6.53)“ In diesem Sinne wäre alles gut. Das Problem ist nur, wenn das Ichbewußtsein diesen Weg geht und diese Nahrung in einem persönlichen Körper mit den „großen habgierigen Händen“ ansammelt, die im Bild zu sehen sind. Der Körper wird damit geistig und körperlich immer schwerer und träger, so daß er immer weiter in die enge materielle Welt versinkt, wie auch die dicke Person in ihrem „Sessel, der für ihre Körperbeschaffenheit gemacht wurde“, und sich nicht mit Leichtigkeit in den weiten Himmel reinen Bewußtseins erheben kann. Ähnliches wissen wir auch aus der modernen Physik: Gewicht bzw. Masse unterliegt Zeit und Raum, aber das Licht selbst bzw. das reine Bewußtsein nicht. Dazu könnte man auch links im Bild den übergewichtig beleibten Sohn auf der Schwelle des Körperhauses sehen, den dieses übergewichtige Paar von Natur und Geist durch das trennende Ichbewußtsein gezeugt und geboren hat, anstatt des heiligen Christuskindes aus dem ganzheitlichen Christusbewußtsein, das in uns geboren werden soll. Dazu wäre eine geistige Beweglichkeit nötigt, wie sie auch Petrarca im Text empfiehlt, damit der Geist die „Laute der Gedanken“ nicht mehr mit dem „Tierfuß“ des Körperbewußtseins spielt, sondern mit der Vernunft eines höheren Christusbewußtseins, das nichts Eigenes mehr ansammelt und dafür sorgt, daß das Angesammelte wieder abgebaut und verbrannt wird.


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