Heilung von beiderlei Glück - Francesco Petrarca

2.60. Von Dieben

Schmerz: Das Wenige, was mir noch bleibt, kann ich kaum gegen Diebe verteidigen.

Vernunft: Dein Gutsverwalter auf dem Land hat dich gelehrt, dieses Übel mit Geduld zu ertragen, welche du nun auch in der Stadt üben mußt.

Schmerz: Ich werde aber von Dieben bedrängt.

Vernunft: Gegen dieses Übel helfen keine Klagen. Hier ist Bestrafung erforderlich, und in der Zwischenzeit ist sorgfältige Wachsamkeit ratsam. Es gibt manche, die nicht wachsam sind, sich aber über Diebe beschweren. Doch das alte Sprichwort sagt: „Gelegenheit macht Diebe.“

Schmerz: Die Diebe belagern meine Tür.

Vernunft: Dann schließe die Tür, verriegle sie, halte die Augen offen und sei vorsichtig! Bei Fahrlässigkeit bist du selbst schuld. Selten fallen wachsame Menschen einem Dieb zum Opfer. Diejenigen, die keine Häuser haben, sind berechtigter zu solchen Klagen. Das sind jene Menschen, die im Süden und im hohen Norden leben, besonders die Skythen, die, wie du lesen kannst, kein Verbrechen für schlimmer halten als Diebstahl. Was vernünftig ist, denn was bliebe den Menschen, die in den Wäldern leben, wenn der Diebstahl erlaubt wäre?

Schmerz: Diebe stehlen mir meine Sachen!

Vernunft: Du willst, daß sie dir gehören, aber was tust du dafür? Dann betrachte es als Strafe für deine Nachlässigkeit, und das ist der Preis, den du zahlen mußt, um zu lernen, dein Eigentum zu bewahren. Nützliches lernt man nicht umsonst!

Schmerz: Ich habe große Probleme mit Dieben.

Vernunft: Das ist sicherlich ein quälender Haufen, und aus gutem Grund von allen anständigen Menschen gehaßt, nicht nur weil sie schädlich sind, sondern weil sie so verdorben sind. Nur unheilsame Geister fühlen sich zum Diebstahl hingezogen. So geschah es nicht ohne Grund, daß Severus Alexander als junger, aber guter Prinz so von Haß auf Diebe erfüllt war, daß Aelius Lampridius über ihn schrieb: „Wann immer er einen Dieb sah, hatte er einen Finger bereit, um dem Mann ein Auge auszustechen. So groß war seine Empörung über diejenigen, die den Ruf von Dieben hatten, daß er bei jeder, auch noch so zufälligen Begegnung mit ihnen in große Wallung geriet und mit zornentflammtem Gesicht kaum noch sprechen konnte.“ Dies war wirklich eine bemerkenswerte Empörung eines großmütigen Geistes über die schreckliche Ungeheuerlichkeit des Diebstahls, die diesem mutigen und ruhmreichen Mann so aufbrachte. Es wird auch berichtet, daß damals ein Mann in einem öffentlichen Amt des Diebstahls beschuldigt wurde, sich aber dann mit Hilfe befreundeter Könige durch unangemessene Intrigen in den Militärdienst flüchtete, wo er jedoch auf frischer Tat ertappt wurde, denn kaum jemand, der dieses Laster einmal pflegte, kann es jemals wieder aufgegeben. Da fragte Alexander die Könige, die ihn unterstützt hatten, welche Strafe sie Dieben gewöhnlich auferlegen. Und als sie „das Kreuz“ antworteten, wurde der Mann an Ort und Stelle gekreuzigt.

Schmerz: Ach, ich werde so von Dieben geplagt!

Vernunft: Gegen Diebe sind Wachsamkeit und sorgfältiger Schutz wirksam. Aber die beste Verteidigung ist Armut. Solange du etwas hast, das Dieben begehrenswert erscheint, kannst du dich ihren Händen und Augen niemals ganz entziehen. Willst du also keine Diebe mehr fürchten, dann sei arm!

Petrarcameister - Von Dieben

Die seltsame Darstellung, wie ein Kaiser, auf dem Thron sitzend, mit der Gewissenhaftigkeit eines Operateurs zwei jungen Burschen mit den Fingern die Augen aussticht, geht auf Petrarcas Text zurück. Dort ist der Kaiser Aurelius Alexander genannt, dem die Diebe so verhaßt gewesen seien, daß er sie mit eigener Hand geblendet habe, wo er ihrer habhaft geworden sei. - Hinter dem kunstvollen Terrassenbau, den der Petrarca-Meister für den Kaiser errichtet hat, sind Diebe bei der Arbeit. Mit Strickleitern gelangen sie über das Dach hinweg zu ihrer Beute. In der Ferne droht groß der Galgen, der in der Zeit des Künstlers das Ende einer Diebeslaufbahn bedeutete.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht können wir im mittleren Teil des Bildes das Ichbewußtsein sehen, wie es über die „Strick-Leiter“ in das Dach bzw. den Kopf des Körperhauses eindringt und wie der Verstand die Dinge be- und ergreift und auf einen Haufen wirft, den das Ego dann als sein Eigentum davontragen will. Im Vordergrund wäre eine Lösung dafür bzw. Erlösung davon dargestellt, wenn die Vernunft auf den Thron kommt und dem Ichbewußtsein mit seinem begrifflichen Verstand ein Auge aussticht, so daß die dualistische Sicht von Mein und Dein oder Gut und Böse verschwindet und damit auch die diebische Begierde nach Eigentum erlischt. Ein anderer Weg ist im Hintergrund unter der Herrschaft der Natur zu sehen, die dem Dieb symbolisch am Galgen das Genick bricht, so daß die Verbindung zwischen Kopf und Körper bzw. Ich- und Körperbewußtsein zerbricht. Dann hat das Ichbewußtsein weder das göttliche noch das irdische Licht und sinkt mit seiner gierigen Leidenschaft in die Dunkelheit, was man früher auch als Hölle bezeichnete. All das kann die Vernunft auf seinem Thron unter dem „Himmel“ auf dem weit offenen „Terrassenbau“ im Ganzen überschauen und weiß, was zu tun ist.

2.61. Vom Raubüberfall

Schmerz: Ich wurde von Räubern ausgeraubt.

Vernunft: Obwohl das Zivilrecht besagt, wenn ich mich nicht irre, daß kein Diebstahl schlimmer ist als ein gewaltsam ausgeführter, so sind doch meiner Meinung nach heimliche Diebe schlimmer. Sie handeln hinterlistig durch Täuschung, während der Räuber mit offener Gewalt handelt. Und so kann, in Übereinstimmung mit Ciceros Bemerkung, ersterer mit dem schlauen Fuchs, letzterer mit dem Löwen verglichen werden. Außerdem stehlen Diebe lautlos Dinge und hinterlassen einen Hauch von Mißtrauen, aber Räuber rauben es offen von dir und hinterlassen keinen Verdacht (bzgl. des Täters).

Schmerz: Ich fiel in die Hände von Räubern, die mich nackt zurückließen.

Vernunft: Auch Cäsar geriet in die Hände von Räubern, die ihn nicht nur beraubten, sondern gefangenhielten, und er, der Herr über alles werden sollte, mußte sich mit einer großen Geldsumme loskaufen, auch wenn er die Befriedigung hatte, sich schnell für diese Beleidigung zu rächen, was ihm etwas Trost für die erlittenen Kränkungen bot. Auch Regulus, der so oft siegreich war, fiel in die Hände des Feindes und wurde mit schrecklicher Grausamkeit getötet, ein großer Verlust, der das Römische Reich gefährdete. Auch Kaiser Valerian fiel in die Hände von Feinden, die das Reich erniedrigten, indem sie ihn zwangen, seine letzten Jahre in schändlicher Knechtschaft zu verbringen. Wenn dir also nichts Schlimmeres passiert ist, als ausgeraubt zu sein, solltest du der Glücksgöttin und den Räubern dankbar sein, die dir dein Leben und deine Freiheit gelassen haben. Denn wie Cicero in seiner Philippika feststellte, ist es die Großzügigkeit der Räuber, behaupten zu können, daß sie denen das Leben geschenkt haben, denen sie es nicht nahmen. Nimm daher deine Erfahrung in Kauf, die du mit diesen großen Persönlichkeiten und vielen anderen berühmten Männern teilst, und die im Vergleich zu anderen nicht allzu ernst, ja sogar wünschenswert erscheint. Du solltest niemals versuchen, mehr Glück zu haben als diejenigen, die gemeinhin als die Glücklichsten von allen gelten!

Petrarcameister - Vom Raubüberfall

Für diese Darstellung wählt der Petrarca-Meister den Schauplatz seiner Zeit und schiebt die gelehrten Hinweise Brants an den Rand. Ein Flußschiff wird von ritterlichen Knechten überfallen. So mag es oft zugegangen sein, wenn die Augsburger Kaufleute den Landsknechten der Herzöge von Bayern in die Hände fielen. Rechts sind im Wald Ritter unterwegs und suchen mit ihren Knechten nach Opfern. Von der Landstraße aufgegriffen worden sind die gefesselten Kaufleute, die links in einem Reisewagen von Reitern und Knechten eingebracht werden. In der Ferne ist ein Reiter in weitem Mantel sichtbar, der von zwei Bewaffneten zu einer Burg eskortiert wird. Es ist ein Kaiser, Julius oder Valerianus, von deren Gefangennahme durch Räuber Petrarca spricht. - In allen Varianten hat der Künstler die „Räuber“ seiner Zeit dargestellt, die Raubritter, von deren Fehdeunwesen jede Stadtchronik des 15. und 16. Jahrhunderts zu berichten weiß.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht könnte man hier eine kreisförmige Entwicklung von rechts hinten im Wald sehen, wo Ego und Verstand mit ihren Waffen auf dem Tierwesen reitend nach Eigentum suchen. Als nächstes wird hinten links die Vernunft, die eigentlich Kaiser sein sollte, gefangengenommen und in die Ego-Burg eingekerkert. Damit binden sich dann die Sinne und das Denken als Raubritter an ihren eigenen Seelenwagen mit den drei bekannten Gesellen bzw. Händlern von Begierde, Haß und Unwissenheit und der angesammelten Karma-Ladung. Und im Vordergrund sieht man dann, wie die räuberischen Sinne mit dem Denken in ihrer egoistischen Habgier im Fluß des Lebens auch andere Lebewesen gewaltsam angreifen und deren „Vermögen“ rauben. Dazu werden sieben Räuber und sieben Bootsfahrer dargestellt, und auch ein alter Mann bzw. Geist sitzt vorn im Boot, der relativ gelassen zusieht, denn er kennt wohl die Macht der Natur zusammen mit der Gerechtigkeit Gottes und durchschaut diesen Ego-Kreis der Aneignung, so daß er ihn auch verlassen kann.

2.62. Vom Betrug

Schmerz: Ich wurde von Betrügern getäuscht.

Vernunft: Bist du überrascht? Ich würde mich eher wundern, wenn du unbeschadet davonkommen könntest, solange du dich unter Menschen befindest. Denn welcher Mensch wird nicht von anderen betrogen? Vertrauen wird verbannt, und Betrug herrscht über alles. Hast du noch nie darüber nachgedacht? Kein Jäger oder Vogelfänger legt seine Netze für die Tiere mit soviel Schlauheit aus, wie die listigen Menschen für die naiveren, was schon früher geschah und auch heute noch geschieht. Heute zeigt man sogar bewundernd auf die Meister des Betrugs, und der gilt als der Klügste, der am geschicktesten im Betrügen ist. Willst du wirklich vermeiden, getäuscht zu werden? Dann mußt du entweder sterben oder die Gemeinschaft der Menschen meiden.

Schmerz: Ich wurde betrogen, weil ich nicht vorsichtig genug war.

Vernunft: Mit mehr Vorsicht wärst du vielleicht weniger leicht zu täuschen gewesen. Doch nun denke darüber nach, ob du selber schon einmal jemanden betrogen hast! Denn fast jeder hat schon einmal betrogen, und dann ist es vielleicht einfacher, von einem anderen zu ertragen, was du selber getan hast. Es sei denn, du bedenkst nie, was du anderen antust, und kannst deshalb nicht ertragen, was andere dir antun, so daß du in jeder Hinsicht der ungerechteste Richter bist.

Schmerz: Ich habe Verluste erlitten, weil mich ein Freund betrogen hat.

Vernunft: Du irrst dich, wie schon so oft! In der Freundschaft gibt es keinen Betrug. Und du irrst dich auch immer darin, daß du diejenigen für deine Freunde hältst, die es nicht sind. Wenn du wahre Freundschaft erfährst, kannst du leicht feststellen, daß sie von unschätzbarem Wert ist, eine höchst heilige Sache. Aber du bist immer auf der Suche nach weltlichen Vorteilen und versuchst, bei einem Abendessen oder einem kurzen Gespräch Freundschaften zu schließen. Kaum hat man einen solchen gefunden, verliert man ihn wieder, denn was man nicht wahrhaft hat, geht auch schnell wieder verloren. Hinterher sagst du, du seist von deinen Freunden getäuscht worden, und bezeichnest den Unschuldigen schändlicherweise als Schuldigen.

Schmerz: Ich wurde durch Betrug verletzt.

Vernunft: Vielen hat es geholfen, betrogen worden zu sein. Zumindest wirst du von nun an vorsichtiger leben. Es kommt oft vor, daß wir durch den Verlust kleiner Dinge das Risiko vermeiden, das wirklich Große zu verlieren.

Schmerz: Ein schlimmer Betrüger hat mir geschadet.

Vernunft: Oder hat dich eher erweckt, dein Bewußtsein geschärft und dich gelehrt, niemandem zu vertrauen, den du nicht geprüft und als wahrhaftig erkannt hast. Gerne würde ich dir Beispiele nennen, um dein Unglück zu lindern, aber es gibt so unzählig viele davon. Wer lebt schon, ohne betrogen zu werden? Denn im Ganzen sind all die Übel, die euch Sterblichen durch die Natur widerfahren, weit geringer als das, was ihr euch untereinander zufügt. Daher ist es weder möglich noch nötig, jeden Fall zu verfolgen. Denke nur an Canius, wie er in Syrakus von Pytius mit großer List betrogen wurde. Zumindest konnte sich Canius darüber trösten, daß er als römischer Ritter von einem lebendigen Fremden getäuscht worden war. Aber Augustus Cäsar, der Kaiser von Rom, wurde von einem anderen Römer hinters Licht geführt, der schon halbtot war. Es ist bekannt, daß ein gewisser Marius, der, weil er von Augustus bevorzugt wurde, von den niedrigsten Rängen zu den höchsten militärischen Ehren und zu großem Reichtum aufgestiegen war, es gewohnt war, öffentlich zu erklären, daß er den, dem er alles verdankte, zu seinem Erben machen und alle seine Reichtümer hinterlassen wolle. Und kurz bevor er starb, wiederholte er dies gegenüber Augustus. Doch als er seinen hinterlistigen Geist aufgegeben hatte, stellte sich heraus, daß er in seinem Testament nicht einmal den Namen Cäsars erwähnt hatte. Er hätte es verdient, daß man seine Leiche an einem Haken zum Tiber geschleppt und hineingeworfen hätte, weil er sich nicht einmal auf seinem Sterbebett zurückhielt, seinen Herrn und Wohltäter zu betrügen.

Petrarcameister - Vom Betrug

Es ist zunächst nicht verständlich, was diese prachtvolle Landschaft mit der Klage des Schmerzes „Ich bin von Betrügern betrogen worden“ zu tun haben soll. Auf der glatten, spiegelnden Fläche eines großen Teiches sind Fischer bei der Arbeit. In zwei Booten arbeiten sie zu viert als Mannschaft Hand in Hand, wie auch heutzutage noch. Nahe dem Ausfluß am Wehr sind Netzfischer am Werk, die Bottiche für die Aufbewahrung der lebenden Beute bei sich liegen haben. Das alles ist so eindringlich geschildert, daß der Betrachter in die Landschaft eingeht und sich wie ein Zuschauer am Teichufer vorkommt. Befremdlich stehen nur die beiden Patrizier im Vordergrund, die mit dem Geldbeutel in der Hand und mit deutenden Handgebärden um die Fische im Bottich zu handeln scheinen. Von Betrug ist jedoch auch bei ihnen nichts zu sehen. Auch der Text des Petrarca gibt keinen Aufschluß, wenn man von der bloßen Nennung des Cannius, der zu Syrakus von Pythius betrogen worden sei, absieht. - Wird dagegen festgestellt, daß der gleiche Holzschnitt auch in den „Officia M.T.C.“ von 1531 vorkommt, wo die Geschichte dieses Betruges nun ausführlich erzählt ist, dann dürfte gewiß sein, daß der Petrarca-Meister den Schnitt für den Cicero geschaffen hat, wo er nach dem deutschen Text arbeiten konnte, und daß ihn der Verleger oder Sebastian Brant auch für das „Glücksbuch“ geeignet hielt. Nach der Sage hat Pythius, um einen Garten am Meer vorteilhaft verkaufen zu können, an dem Tag, als Cannius ihn besuchte, alle Fischer der Umgebung veranlaßt, ihre Beute an seinem Meeresufer auszubooten. Durch diesen scheinbaren Reichtum wurde Cannius zum Kauf verführt. Schon nach wenigen Tagen kam der Betrug ans Licht, als die Fischer wieder an ihren gewohnten Plätzen, nicht aber vor den neu erworbenen Gestaden des Cannius fischten. Es ist also dargestellt, wie Pythius dem Cannius den betrüglichen Fischsegen weist und dieser den Beutel zum Kauf zieht.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht erinnert das Bild auch an den allgemeinen Betrug unserer „Begriffe“, die der Verstand im Netz der Gedanken aus dem Wasser des Lebens bzw. Meer der Ursachen fischt. Das Ichbewußtsein kauft dem Verstand diese begrifflichen Fische als Wahrheit mit dem Geld aus Karma-Schulden ab, um diese sich anzueignen, sich davon zu ernähren und sich selber zu erhalten, wie im Bild in Form der beiden Patrizier zu sehen ist. Die Gelehrten und „Wissenschaftler“ errichten dann sogar „künstliche Wehre“ und machen einen „Zuchtteich“ daraus, auf dem sie als Fischer in ihren Booten fahren, um ihren Lebensunterhalt aus toten Begriffe zu gewinnen, die zuvor lebendige Fische in einer lebendigen Wasserwelt waren. Diese werden dann ans trockene Land gezogen und in künstliche Behälter bzw. Systeme gepackt. Und doch geschieht das Ganze in einer lebendigen Natur… - Dieses Gleichnis von den Fischern und ihren Netzen pflegte auch der berühmte Quantenphysiker Hans-Peter Dürr gern zu verwenden, der es in der Quantenphysik gewohnt war, viel kleinere Fische als die materiellen zu fangen, an denen aber unsere kommerzialisierte Welt bis heute kein wirkliches Interesse zeigt, eine habgierige Welt, die im Rahmen ihrer eigenen Gesetze den Betrug liebt und fördert. (Siehe Video „Hans-Peter Dürr: Das Fischernetz als Bild für das Vorgehen der Wissenschaft“)

2.63. Von einem zu kleinen Haus

Schmerz: Ich wohne in einem kleinen Haus.

Vernunft: Ein kleines Haus ist in vielerlei Hinsicht praktisch. Unter anderem ist es nützlich gegen Diebe, über die du dich zuvor beklagt hast, weil sie darin kein Versteck finden können. Während umgekehrt von großen Häusern gesagt werden kann, daß sie ihre Besitzer täuschen und den Dieben helfen. Ich betrachte ein Haus als zu klein oder zu groß je nach Anzahl der Bewohner. Doch du scheinst das Gefühl zu haben, allein in einem zu kleinen Haus zu leben. Aber um wieviel kleiner ist dann das Haus, in dem dein Geist und deine Seele wohnen müssen, und wie viel schmutziger, inmitten von Galle und Blut. Und doch würdest du, wenn dies möglich wäre, niemals wollen, daß sie woanders hinziehen.

Schmerz: Ich habe ein enges Haus.

Vernunft: Das Haus aus Lehm beengt eine himmlische Seele nicht. Oft ist ein kleines Haus in der Lage, großen Ruhm zu bewahren, während ein großes mit viel Schande erfüllt dasteht. Das Haus ziert nicht den Geist, sondern wird von ihm geschmückt. So können die Hütten der Armen fröhlich und anständig, die Schlösser der Könige und die Paläste der Reichen traurig und schmutzig sein. Kein Haus ist zu klein, daß es hochgesinnte Bewohner nicht aufwerten können oder es für angesehene Gäste unangemessen wäre!

Schmerz: Mein Haus ist wirklich zu klein.

Vernunft: König Evanders empfing den großen Hercules in einem winzigen Palast. Cäsar, der zukünftige Herr der Welt, wurde in einem einfachen Haus geboren. Romulus und Remus, die Gründer einer so großen Stadt, wuchsen in einer Hirtenhütte auf. Auch Cato wohnte nicht in riesigen Hallen. Diogenes lebte in einem runden Faß und Hilarion in einer kleinen Laubhütte. Einige der heiligen Väter hielten sich in tiefen Höhlen auf, große Philosophen in kleinen Gärten, und mächtige Feldherren haben auf dem kahlen Boden oder in erbärmlichen Zelten geschlafen. Aber Caligula und Nero residierten in gewaltigen Palästen. Nun wähle, mit wem du leben möchtest!

Schmerz: Ich habe ein enges Haus, gemein und grob.

Vernunft: Die Mauern halten die Diebe und Winde ab sowie die langweilig gemeinen Leute, die oft schlimmer sind als diese beiden zusammen. Das Dach schützt dich vor Kälte, Hitze, Sonne und Regen. Dagegen sind hohe Türme die Wohnungen für Hochmut, große Häuser für Stolz, schöne Häuser für Wollust und reichhaltige Häuser für Habgier. Wahre Tugend verschmäht keine Wohnung, es sei denn, sie ist von Lastern besetzt.

Schmerz: Ich wohne wirklich sehr beengt.

Vernunft: Wünschst du, daß dir jedes Haus groß und geräumig erscheint? Dann denke an das Grab!

Petrarcameister - Von einem zu kleinen Haus

Der Petrarca-Meister hat sich anscheinend den Angaben Sebastian Brants gefügt und hat aus seiner Zeit als Beispiel für enges Wohnen nur die Bauernhütte mit ihrem Strohdach und dem Knüppelzaun ins Bild gebracht, ohne die Bewohner darzustellen. Neben der Hütte sitzt Diogenes in seiner engen Tonne und schaut zufrieden zur Sonne auf. Im Hintergrund ist der Einsiedler Hilarion in seiner Laubhütte zu sehen, wie er in heiligen Schriften liest und seine Umgebung nicht beachtet. Auch über ihm strahlt die Sonne und verklärt seine bescheidene Behausung. Die beiden Jungen mit Kronen, die wie Indianer spielende Kinder am Boden entlangkriechen, sollen Romulus und Remus sein. Dem Text nach gehören sie zu der Hütte, denn Petrarca schreibt ausdrücklich, daß sie in der Behausung eines Hirten aufgezogen worden seien. - In dem Nebeneinander von kaum zu vereinbarenden Menschen und Hütten bleibt die Darstellung in der Aufzählung stecken und wird nicht zum Bilde.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht kann man von rechts nach links sehen, wie die geistige Wohnung um so größer wird, je weiter sich das Bewußtsein zum göttlichen bzw. ganzheitlichen Licht in der Natur erhebt, und die körperliche Wohnung nimmt entsprechend ab und verliert an „Gewichtigkeit“. Dagegen wird das Leben um so dunkler, je tiefer das Bewußtsein in die materiell-körperliche Natur sinkt und sich in immer dickere Mauern der Bauern-Häuser bis zu den Ego-Burgen der Raubritter einschließt. So steht links der Baum des ewigen Lebens mit seiner Krone im himmlischen Licht der göttlichen Sonne, und rechts der Baum der Gegensätze von Gut und Böse sowie Leben und Tod. Diese Gegensätze, die sich im Schatten der Natur verstecken, erinnern auch an Romulus und Remus, von denen das höhere Bewußtsein die göttliche Sonne sucht und als Vernunft König sein sollte. Aber von hinten kommt das stolze Ichbewußtsein, das auch König sein will. Und wie wir wissen, erschlägt dann Romulus seinen Bruder Remus wie Kain den Abel, so daß aus der einfachen Hirtenhütte bald die stolzen und unersättlichen Paläste von Rom werden.

2.64. Vom Gefängnis

Schmerz: Ich wurde unverdient in ein Gefängnis eingesperrt.

Vernunft: Ein unverdientes Gefängnis ist besser als unverdiente Freiheit. Es ist also viel besser, um der Gerechtigkeit willen unverdientes Übel zu erleiden, als sich (frei und zügellos) mit Gütern zu bereichern, die durch Bosheit erworben wurden. Obwohl sie natürlich nicht als „Übel“ und „Güter“ bezeichnet werden sollten, aber ich spreche wie die Leute, die den Schmerz für ein großes Übel und das Vergnügen für das höchste Gut halten.

Schmerz: Ich bin aber in einem Gefängnis eingesperrt.

Vernunft: Wer ist nicht in einem Gefängnis eingesperrt? Wer entkommt jemals daraus, bis er stirbt? Dein Los und das aller anderen ist uralt. Warum beklagst du dich dann von neuem? Du solltest wissen, daß du vom ersten Tag deiner Geburt an und sogar schon davor eingesperrt und angekettet warst auf Befehl dessen, für den die Weite des Himmels nur eine winzige Hütte ist. Und wenn wir den größten Dichtern glauben wollen, ist die Welt, in der du dich befindest, selbst nur ein dunkles und schwarzes Gefängnis. Wenn du es mit Seelenfrieden verlassen willst, darfst du die engen Grenzen nicht fürchten, noch Folter oder Tod oder was sonst einem Menschen geschehen kann. Dazu muß dein Geist bereit und gewappnet sein, alles geduldig und verachtend (bzw. entsagend) zu ertragen, um den gefährlichen und schlüpfrigen Weg des Schicksals zu gehen, was auch immer kommen mag.

Schmerz: Ich bin in einem schmutzigen und engen Gefängnis eingesperrt.

Vernunft: Kein Gefängnis ist schmutziger und enger als das deines Körpers, an dem du so viel Freude hast und auch so viel Angst vor der Entlassung.

Schmerz: Ich werde in einem grausamen Gefängnis festgehalten.

Vernunft: Das Gefängnis hat schon viele vor drohender Gefahr und den Händen des Feindes geschützt. So diente es vielen als Schutzschild, und es war sicher, es zu betreten, und gefährlich, es zu verlassen. Denn als sie befreit wurden, stellten sie fest, daß das, was sie gefürchtet hatten, nützlich war und das, was sie sich ersehnt hatten, viel Elend brachte.

Schmerz: Ich werde im Gefängnis festgehalten.

Vernunft: Woher weißt du, ob es möglicherweise kein Gefängnis ist, sondern sozusagen ein Ort der Zuflucht? Wie oft wurden schon diejenigen, die von der Knechtschaft befreit wurden, vom Schwert des Feindes oder von der Armut überwältigt, die grausamer war als jeder Feind? Wie oft haben sie ihre Freilassung bereut und sich gewünscht, daß die Haft, die ihnen zu lange gedauert hatte, ewig gedauert hätte? Wir haben gesehen, wie Menschen im Gefängnis glücklich lebten. Aber nach ihrer Freilassung wurde ihr Leben arm und hart und nahm ein trauriges Ende.

Schmerz: Ich führe aber ein elendes Leben im Gefängnis.

Vernunft: Manche haben im Gefängnis Bücher verfaßt, aber du verfaßt nutzlose Beschwerden. Manche haben im Gefängnis das Studieren gelernt, aber du hast dich der Trägheit ergeben.

Schmerz: Ich werde aber im Gefängnis festgehalten.

Vernunft: Viele haben sich aus Liebe zu Gott und ihrer Abscheu vor der Welt oder der Menschheit freiwillig dafür entschieden, in Löchern und Höhlen zu leben oder sich in engen Mauern einzuschließen. Du, der nichts dergleichen im Sinn hat und auf das Ende deiner Haft hofft, mußt entweder auf jemanden warten, der dich befreit, oder auf den Tod, der einen anderen Schlüssel zum Gefängnis besitzt, welches einen Eingang, aber viele Ausgänge hat. Einige werden aus Mitleid befreit, andere durch Gesetz. Einer kommt wegen seiner Unschuld heraus, ein anderer wegen der Nachlässigkeit des Gefängniswärters oder durch Bestechung, List, Tunnelbau oder in der Dunkelheit einer freundlichen Nacht. Eure Väter erinnern sich, daß einige auch durch Erdbeben und die Zerstörung des Gefängnisses einen Ausweg gefunden haben. Und diejenigen, die durch nichts davon befreit wurden, wurden durch den Tod befreit.

Auch die Schicksale der Entflohenen waren nicht weniger vielfältig. Die Gefangenschaft führte Marius zum Konsulat. Von den Piraten gefangen zu werden, brachte Cäsar das Imperium. Und auch in der heutigen Zeit sind einige aus dem Gefängnis zu den Höhen der Macht aufgestiegen und haben ihre Ketten nur abgelegt, um sie anderen anzulegen. Tatsächlich kamen Regulus und Sokrates sowie viele andere nicht im Gefängnis um, wie es zu erwarten war, sondern erreichten trotz Gefängnis ein glorreiches Ende. Kurz gesagt, das Gefängnis hat einigen zu außergewöhnlichem Ruhm verholfen und anderen zu enormem Reichtum, Landbesitz oder sogar Königtum. Es hat viele in den Himmel erhoben und schließlich alle ins Grab entlassen. Es hat also wirklich niemanden festgehalten, den es nicht wieder freigelassen hat.

Petrarcameister - Vom Gefängnis

Die Vernunft muß auch in der Kerkerhaft allerlei Gutes finden: Im Kerker sei Sicherheit, keine Angst vor dem Schwert des Feindes, keine Sorge wegen Armut. Im Kerker hätten einige Weise schöne Bücher geschrieben, andere hätten dort die Schrift gelernt. - Dagegen denkt der Petrarca-Meister an die Gefängnisse seiner Zeit, in denen vom Schreiben schöner Bücher nicht die Rede sein konnte. Da liegen die Gefangenen im lichtlosen Gewölbe auf dem nackten Pflaster. Mit einer Strickleiter kann man zu ihnen durch die Öffnung in der Decke gelangen, und mit einem Strick wird ihnen Speise und Trank hinabgelassen. Im Raum über dem Verließ sieht man einen Knecht, im Begriff, die Strickleiter hinabzusteigen. Zwei Besuchern schließt der Wächter die Tür zum oberen Gelaß auf. Hinter ihnen steigt ein Ratsherr mühsam die steile Treppe hinauf, er muß wohl von Amts wegen bei dem Besuch zugegen sein. Hier hat der Petrarca-Meister eine besonders ausdrucksvolle Gestalt geschaffen: Wie er die Rockschöße hochnehmen muß, um nicht auf der steilen Treppe zu stolpern, wie er höchst mißmutig ist, daß man ihm zumutet, wegen der elenden Gefangenen nun auch noch Treppen zu steigen. - Unter der Treppe wird ein Gefangener hinter Gittern sichtbar, und vor ihm steht in Freiheit auf der Straße ein Jüngling von ritterlichem Aussehen, der den Gefangenen mit dem gezogenen Schwerte bedroht, ihn aber nicht erreichen kann. Für diese Szene war Brants Hinweis auf Petrarcas Trost maßgebend, daß man im Kerker vor dem Schwert des Feindes sicher sei.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht können wir hier das Körperhaus sehen, wie die Seele hinter dicken Mauern in einem Turm gebunden liegt, sozusagen im Unterbewußtsein, halb schläft und halb wacht. Doch sie hat immer die Möglichkeit, sich zu erheben und über die „Strickleiter“ der Bindungen diesen Turm nach oben zu verlassen, in ein höheres und freieres Bewußtsein im göttlichen Licht, sozusagen in ein Überbewußtsein. Auf der rechten Seite des Bildes sieht man dann, wie das Bewußtsein in dieses Gefängnis kommt. Da steht das stolze Ichbewußtsein mit dem Schwert der Trennung und Unterscheidung und fühlt sich in Anbetracht der anderen Gefangenen frei und ungebunden. Und so nutzt es auch diese Freiheit gewöhnlich zur Zügellosigkeit, und wir sehen dann, wie es als „Besucher“ über die Stufen seiner entsprechenden Entwicklung vom begrifflich suchenden Verstand in den Turm geführt wird, vor ihm der „Wächter“ als Geist und Richter und hinter ihm der „Ratsherr“ als Vernunft, die nicht gehört wurde.

2.65. Von der Folter

Schmerz: Ich werde zu Unrecht gefoltert.

Vernunft: Was würdest du sagen, wenn du schuldig wärst? Keine Folter ist größer als die, die dir dein Gewissen zufügt. Wenn es rein ist, verschmähe äußeren Schmerz, denn dein Trost wohnt in dir.

Schmerz: Ich werde ohne jeden Grund gefoltert.

Vernunft: Dann habe Mitleid mit deinem Peiniger, denn er wird noch schlimmere Folter als du erleiden müssen. Wenn auch die ganze Welt gegen dich schreit, ist es immer noch ein geringeres Übel, Unrecht zu erleiden, als es zu begehen.

Schmerz: Ich werde wirklich gefoltert.

Vernunft: Eine neue Beschwerde über eine alte Krankheit! Wurdest du noch nie gefoltert? In Qualen geboren, hast du in Qualen gelebt und wirst in Qualen sterben. Was ist daran neu? Die Methoden der Folter haben sich geändert, aber nicht die Folter selbst. Untersuche deinen Lebenslauf und notiere jeden Tag, den du ohne irgendeine Folter verbracht hast! Wahrscheinlich wirst du einige finden, die mit falschen Freuden vergoldet wurden. Aber eigentlich war jeder einzelne Tag voller Folter. Wenn du sorgfältig darüber nachdenkst, wirst du zugeben, daß kein Teil des Lebens jemals frei davon ist. So haben einige das Leben aus gutem Grund als eine lange Qual betrachtet. Dennoch scheinen solche philosophischen Gedanken dich nicht zu berühren, bleiben gleichsam im Vorzimmer deines Gehörs und dringen nicht in die Tiefen deines Geistes ein. So seufzt du über jedes leichte Unbehagen des Körpers, aber fühlst nicht die ewige tödliche Qual des Geistes, unwillig, das eine zu ertragen, und unbewußt für das andere.

Schmerz: Ich werde auf die Folterbank gezogen.

Vernunft: Welchen Unterschied macht es, ob man auf die Folterbank oder ins Bett steigt, um sich quälen zu lassen? Du wirst von den Stricken des Peinigers zerrissen, aber andere werden von Fieber gequält, von Gicht, von Frau und Kind oder von ihrem Schatz, einer durch Reichtum und der andere durch Armut, einer durch die Hand des Arztes und der andere durch die Rute des Lehrers, der eine von einem faulen Diener und der andere von einem stolzen Herrn, dieser durch unersättliche Begierde und Habsucht und jener durch quälende Angst, die Schlimmste aller Peiniger. Betrachte achtsam den Zustand der Sterblichen, und du wirst kaum einen finden, der nicht an irgendein Gestell gefesselt ist. Obwohl es so viele tausend Arten von Foltergestellen gibt, warum fürchtest du vor allem das aus Holz?

Schmerz: Ich werde wirklich gefoltert.

Vernunft: Dann finde Trost in deiner Unschuld oder in der Gerechtigkeit. Wenn du zu Unrecht gefoltert wirst, dann kannst du dich freuen, denn für dich und andere steigert diese Prüfung den hellen Glanz deiner Tugend, um angezogen und emporgehoben zu werden. So ist der Ruhm des Altbewährten süß und weithin duftend. Auch Gewürze werden gemahlen, damit sie besser riechen, und die schönsten Dinge werden hoch aufgehängt, damit sie nicht verborgen bleiben. Und wenn deine Folter verdient ist, dann mußt du das Heilmittel ertragen. Festgebackener Schmutz muß mit Feuer oder groben Scheuermitteln entfernt werden, und es liegt nahe, daß die Medizin gegen eine schwere Krankheit nicht leicht ist. Wer einer Krankheit überdrüssig ist, wird bittere Pillen nicht ablehnen, und wer seine Verbrechen wirklich bereut, hat keine Einwände gegen die Bestrafung.

Schmerz: Ich wurde auf die Folterbank gebunden.

Vernunft: Wenn es zu Unrecht geschieht, dann hast du vom Himmel den nötigen Verdienst, um diese Grausamkeit zu verachten. Wenn es gerechtfertigt ist, wirst du aus dem Irdischen herausgerissen, damit du dein Verbrechen klarer sehen kannst. So sollst du bereuen, es begangen zu haben, aber nicht, daß du die Strafe erleiden mußtest.

Schmerz: Ich werde hart gefoltert.

Vernunft: Entweder wird deine Tugend auf die Probe gestellt oder dein Vergehen bestraft. Das eine ist immer nützlich, und das andere immer gerechtfertigt. Für die Gerechten ist strenge Disziplin von Vorteil, und für die Bösartigen ist Straflosigkeit das Schlimmste.

Schmerz: Ich werde wirklich gefoltert.

Vernunft: So lerne den Weg von Geduld und Sterben.

Petrarcameister - Von der Folter

Es ist die Zeit, in der die „scharfe Frage“ zur Gerichtspraxis beim Verhör der Angeklagten gehört. Der Petrarca-Meister stellt diese Prozedur dar und übt zugleich mit dem Gesamtbild Kritik an einer Obrigkeit, die solche unmenschliche Folterung als eines ihrer Rechtsmittel verwendet. - Rechts in dem Gewölbe sitzt der Amtmann am Tisch und richtet seine Fragen an den Angeklagten. Neben ihm der Schreiber, der keinen Blick für den Leidenden hat, sondern sich nur bemüht, der Vernehmung zu folgen. Vor dem Tisch steht in reicher Kleidung der Scharfrichter. Er hat von seinem Gesellen dem Angeklagten die schweren Gewichte an die Füße hängen lassen, hat ihn an den Armen hochziehen lassen und beobachtet nun gespannt, wie der Unglückliche die „scharfe Frage“ aushält. Führte sie nicht zum Geständnis, dann wurde die Folterung angedroht, wie sie mit dem Streckbett im Vordergrund des Bildes vollzogen wird. Eine Befragung war während dieser Prozedur natürlich nicht mehr möglich. All diese Marterungen waren nicht Bestrafungen, sondern Mittel zur Erlangung von Geständnissen, die dann erst zum Urteil und zur Strafe führten.

Mit der Darstellung in der linken Bildhälfte nimmt der Petrarca-Meister zu diesen Grausamkeiten Stellung. Er stellt wiederum die Sage von dem Zauberer Perillus und dem Tyrannen Phalaris dar, die Petrarca im 95. Kapitel des 1. Buches erzählt hatte, die überdies auch aus der „Gesta Romanorum“ allgemein bekannt gewesen sein dürfte. Im Text zu dem vorliegenden Kapitel hat Petrarca sie nicht erwähnt, so daß die kritische Gegenüberstellung von Folter und Bestrafung des Erfinders der Folter auf den Petrarca-Meister zurückgehen muß. Perillus hatte dem Phalaris einen ehernen Stier, in dem ein Mensch geröstet werden könnte, als treffliches Foltermittel genannt und war der erste gewesen, der mit dieser teuflischen Erfindung zu Tode gequält wurde. So kündet der Künstler mit dem Nebeneinander der beiden Darstellungen der grausamen Obrigkeit seiner Zeit an, daß auch sie am Ende ihre Richter finden werde.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht ist dieses Thema heutzutage schwer zu betrachten, weil wir die körperlichen Qualen nur noch als eine Fehlfunktion des Körpers betrachten und kaum noch mit einem geistigen Fehlverhalten oder sogar schlechten Gewissen verbinden. Doch damals stellte man noch den Geist über den Körper, und das Äußerliche kam aus dem Innerlichen. So sieht man im Bild, wie die Seele am Körperhaus hängt und mit den schweren Karma-Gewichten der Schuld belastet wird, bis die Schuld erkannt, gestanden und bereut wird, so daß man auch die Strafe entsprechend akzeptiert, um die Schuld zu bezahlen. Dazu sitzt der Amtmann als Bewußtsein am Tisch der Welt mit dem Schreiber als Erinnerung im „Buch des Lebens“ sowie dem Scharfrichter als wirkender Geist. Und im Vordergrund wird dann die Strafe in der Natur von den Gegensätzen vollzogen, die förmlich auseinanderreißen, was wir doch gern zusammenhalten wollen, vor allem das persönliche Eigentum der Ego-Blase, und uns mit Gewalt einflößen, was wir nicht gern schmecken wollen. Entsprechend sieht man auch links, wie der egoistische Geist, der anderen schaden will, in seinem eigenen Tierwesen im Feuer der Leidenschaft brennt, wie auch Petrarca im Text sagt, daß der Peiniger noch schlimmere Folter erleiden muß. Der Weise mit dem Turban und dem Herrscherstab könnte dann die Vernunft sein, die eigentlich im Menschen herrschen sollte, aber nicht, um solche Qualen körperlich zu verbieten oder zu betäuben, sondern um die geistigen Ursachen weitsichtig zu erkennen, zu vermeiden und aufzulösen.

2.66. Vom ungerechten Urteil

Schmerz: Ich bin durch ein ungerechtes Urteil verurteilt worden.

Vernunft: Du kannst durch das Urteil eines Richters oder die Aussage einiger Zeugen verurteilt werden, aber freigesprochen durch das Schweigen der öffentlichen Meinung oder besser durch dein eigenes Gewissen oder am besten durch göttliches Urteil. Die Anrufung des ewigen Gerichts des gerechten Richters ist am sichersten, und Er ist es gewohnt, das falsche Urteil der Menschen aufzuheben.

Schmerz: Ich wurde wirklich zu Unrecht verurteilt.

Vernunft: Wie die Gerechtigkeit die Schuldigen verfolgt, so verfolgt die Ungerechtigkeit die Unschuldigen. Wo also eine ungerechte Verurteilung ist, da ist der Angeklagte unschuldig, und niemand außer einem Wahnsinnigen wäre so töricht, dies rückgängig zu machen und lieber zu Recht als zu Unrecht verurteilt zu werden. Und niemand ist so feige, es sei denn, er wäre völlig skrupellos, daß er einen ungerechten Freispruch einer ungerechten Verurteilung vorziehen würde, die doch in demselben Sinne vorzuziehen ist, wie eine verhinderte Gerechtigkeit der ungehinderten Bosheit oder ein gesunder Geist dem körperlichen Wohlergehen, auch wenn das eine schwere Mühe und das andere leichtes Vergnügen bedeuten könnte. Ich gehe sogar noch weiter und sage: Es ist viel besser, zu Recht verurteilt zu werden, als zu Unrecht freigesprochen zu werden, ebenso wie es schlimmer ist, ein Verbrechen ungestraft zu lassen, als es zu bestrafen. Denn durch die Bestrafung gesellt sich die Gerechtigkeit zum Verbrechen, nämlich die Heilung zum großen Übel. Im ersten Fall wäre das Verbrechen mit Straflosigkeit verbunden, was durchaus ein schlimmeres Vergehen sein kann als das Verbrechen selbst. So ist die Straflosigkeit mit Sicherheit der Gerechtigkeit abträglich und die Wurzel für viele weitere Verbrechen.

Schmerz: Ich werde von einem sehr ungerechten Urteil bedrückt.

Vernunft: Ein festgegründeter und selbstbewußter Geist hat unbesiegbare Schultern. Egal wie viele Verluste, wieviel Schande und Strafe du darauf häufst, er wird der Last nicht erliegen. Ein solcher Geist bleibt aus eigener Kraft und mehr noch durch Gottes Hilfe unerschütterlich. Darüber hinaus gibt es auch vergangene Ereignisse, die trösten, weil sie eine ähnliche Geschichte erzählen und nicht zu verachtende Gefährten mit sich bringen, wie Furius Camillus und Livius Salinator in Rom, Aristides und Miltiades in Athen und viele andere, unter denen du dich vielleicht auch freuen wirst, Cicero und Sokrates zu finden. Vielleicht möchtest du bei ihnen sein, es sei denn, du ziehst die Gesellschaft eines Publius Clodius vor. Die vorhergenannten Männer waren höchst angesehene Bürger und gelobt in ihren Heimatländern, aber sie wurden für schuldig befunden und zu Verbannung, Gefängnis und Tod verurteilt. Doch Publius Clodius, dieser berüchtigte Schurke, der sich neben anderen abscheulichen Verbrechen des Ehebruchs und religiöser Entweihung schuldig gemacht hatte, wurde mit allgemeiner Zustimmung in allen Anklagepunkten freigesprochen. Gibt es jemanden, der die Ungerechtigkeit so wenig fürchtet, daß er die Verurteilung und Verbannung des Cicero durch seinen Feind Clodius nicht einem solchen Freispruch vorziehen würde? Aber all dies ist alltägliches menschliches Wesen. Wenn du deinen Blick höher richtest, wirst du feststellen, daß sogar der König des Himmels ebenso wie seine Familie der Auserwählten, die den Schritten ihres göttlichen Führers folgten, einem falschen Urteil ausgesetzt waren. Und auch ihre Nachfolger, die von ähnlich großer Unschuld und großer Tugend waren, wurden vom Sturm der weltlichen Urteile ergriffen und auf die Felsen der Justiz geschleudert.

Schmerz: Ich fühle mich beleidigt durch das falsche Urteil.

Vernunft: Es gibt einen, der dich rächen wird und jene richtet, die anderen Unrecht tun, und der sagt: „Die Rache ist mein, und ich werde es zur rechten Zeit vergelten. (5.Mose 32.35)“ Auch wenn du es vielleicht nicht glaubst, aber Er wohnt auch im Herzen des Richters und der Zeugen, und da sind die großen Rächer: Keine Tierzähne sind schärfer als die des eigenen Gewissens!

Schmerz: Ich bin verletzt durch das ungerechte Urteil.

Vernunft: Es ist keine einfache Kunst, die Lektion einer erlittenen Verletzung zum Guten zu nutzen, so daß man die Ungerechtigkeit anderer Menschen zum Nutzen des Leidenden umkehren kann. Ungerechtigkeit schadet immer dem Täter und nützt ihm niemals etwas.

Schmerz: Ich wurde verurteilt, obwohl ich unschuldig bin.

Vernunft: Wäre es besser, schuldig zu sein? Dies war auch die Antwort von Sokrates an seine Frau Xanthippe, als sie nach Frauenart darüber jammerte, daß er sterben mußte, obwohl er unschuldig war. Auch wenn manche anders darüber denken, so ist es bei weitem besser, unschuldig verurteilt zu sein, als schuldig. Denn im ersten Fall ist nur die Strafe bitter, im zweiten aber sowohl die Strafe als auch ihre Ursache.

Schmerz: Ich wurde durch ein ungerechtes Urteil des Volkes verurteilt.

Vernunft: Erwartest du, daß die Menschen dir gegenüber eine Wahrhaftigkeit zeigen, die sie weder bei sich selbst noch bei irgend jemand anderem wahrnehmen? Es ist ein großartiges Argument für deine Unschuld, daß du von Ungerechten verurteilt wurdest.

Schmerz: Ich verdiene es aber nicht, vom Volk verurteilt zu werden.

Vernunft: Schau, solche Leute haben nicht nur den verurteilt, der es nicht verdient hat, sondern sogar einen, der großes Lob verdient hat. Nämlich Camillus, den ich bereits erwähnt habe, und sogar Livius. Und später trieben ihre ungerechten Urteile Scipio Africanus und andere tapfere Cornelianer in die freiwillige Verbannung.

Schmerz: Auch der König hat mich verurteilt, obwohl ich unschuldig bin.

Vernunft: Oft sind die Urteile von Königen Rache und keine Gerechtigkeit. Denn jeder, der sich freimütig gegen die Übermacht der Könige ausspricht und den Verlust von Freiheit mißbilligt, wird des Hochverrats für schuldig befunden.

Schmerz: Und schließlich haben mich die Richter verurteilt.

Vernunft: Keine Kreatur ist giftiger als ein ungerechter Richter. Wenn Menschen von einer Schlange gebissen werden, leiden sie zwar unter Schmerzen, sollten sich aber nicht beschweren, weil die Schlange naturgemäß gehandelt hat, auch wenn es für ihr Opfer unangenehm ist. Solche Richter haben auch Sokrates verurteilt und Clodius freigesprochen. Und es ist schwer zu entscheiden, welches dieser beiden Urteile ungerechter war. Eine Nation, die von Königen und Richtern regiert wird, muß bereit sein, harte und ungerechte Entscheidungen zu erleiden, und braucht sich nicht beklagen, wenn sie geschehen.

Petrarcameister - Vom ungerechten Urteil

Diese Tröstung der Vernunft in Petrarcas Text mag Sebastian Brant veranlaßt haben, hier einen „Weisen“ vom Künstler vor den Richter stellen zu lassen. Zwei Diener führen den Gefesselten vor. Der Richter sitzt auf einem thronähnlichen Sessel unter einem Baldachin mit dem Richterstab in der Hand. Trotz des Zeitkostümes soll das Bild wohl als historisches Beispiel gelten. Die Menschenhaut auf dem Stuhl des Richters gibt die Verbindung mit der Sage von Kambyses, die Petrarca im 47. Kapitel des 1. Buches erzählt hatte. Auch daß statt der Beisitzer eine mitleidige Frau und ein Greis, der fast das Spiegelbild des Verurteilten ist, gezeichnet sind, spricht für den Sinn des Bildes als den eines historischen Beispiels.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht können wir rechts das Ichbewußtsein mit dem begrifflichen Verstand sehen, die den „Weisen“ als höhere Vernunft oder Weisheit gebunden und begriffen haben und nun beurteilen bzw. verurteilen wollen, um ihre Macht zu erhalten. Der Richter wäre unser Urteilsvermögen, das förmlich auf den Fehlurteilen unserer Väter sitzt. Das ist biblisch gesprochen die Erbsünde, die bis zurück zu Adam und Eva reicht, als sich der Geist von der Natur trennte und sich verführen ließ, vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen. Und aufgrund eines solchen ungerechten Urteils konnte auch Sisamnes nicht „mit heiler Haut davonkommen“ oder „seine Haut retten“, auf der nun seine Nachkommen sitzen. So könnte man links in dem Greis auch Adam oder den gealterten und blindgewordenen Geist hinter der tragenden Säule des Körperhauses sehen, der sich immer noch an diesem Richteramt der Erkenntnis von Gut und Böse festhalten will. Die verhüllte Frau auf der anderen Seite des Richterstuhls wäre dann Eva als Mutter Natur, die um die Vernunft betet, die nicht unter der Urteilsmacht des egoistischen Verstandes stehen sollte.

2.67. Von der Verbannung ins Exil

Schmerz: Ich wurde zu Unrecht verbannt.

Vernunft: Wie redest du? Hättest du es vorgezogen, zu Recht verbannt worden zu sein? Ist dir nicht bewußt, daß die vielen Verletzungen, die du erlitten hast, etwas ganz Gegenteiliges meinen? Du wirst in deinem ungerechten Exil von der Gerechtigkeit getröstet, die jetzt deine Begleiterin ist, nachdem sie deine ungerechten Landsleute verlassen hat und dir ins Exil folgte.

Schmerz: Ich wurde in ein ungerechtes Exil verbannt.

Vernunft: Hat dich der König verbannt? Oder der Tyrann? Oder die Leute, der Feind oder du selbst? Wenn es der König war, ist entweder dein Exil gerecht, oder er selbst ist ungerecht, so daß er kein wahrhafter König wäre. Wenn es der Tyrann war, dann sei froh, von jemandem ins Exil gejagt zu werden, unter dem jeder gute Mann verbannt wird und die Diebe herrschen dürfen. Wenn es die Leute waren, dann folgen sie einfach ihrer Gewohnheit, denn sie hassen die Guten und würden nicht einmal einen vielköpfigen Tyrannen verbannen, wenn er sich nur so benehmen würde wie sie. Daher brauchst du dich nicht von deinem Heimatland ausgeschlossen fühlen, sondern von der Gesellschaft der Bösartigen befreit, und nicht in die Verbannung getrieben, sondern in die Gesellschaft anständiger Menschen aufgenommen. Wenn es ein Feind war, der dich ins Exil geschickt hat, dann bedenke die Bedeutungslosigkeit dieser Verletzung, denn er wütete nicht wie ein Teufel und wollte dir alles nehmen, sondern hat dir nur dein Land genommen und die Hoffnung gelassen. Und wenn du es selbst warst, dann hast du dich wohl entschieden zu gehen, weil du des Volkes oder des Tyrannen überdrüssig warst, und solltest nichts bereuen, sondern stolz darauf sein, die Tugend deiner Heimat vorgezogen zu haben. Dann hast du keinen traurigen, sondern einen ehrlichen und nicht hassenswerten Fall, den anständige Menschen begehren, also kein Grund zur Verbannung, sondern für deine Abwesenheit. Auch Pythagoras verließ Samos aus eigenem Antrieb, und Solon verließ Athen, Lykurg verließ Sparta, und Scipio verließ Rom.

Schmerz: Ich wurde aber zum Exil verurteilt.

Vernunft: Viele wurden durch ihr Exil geehrt und sind gleichsam durch die Mächte des Unglücks und der Gewalt berühmter und geachteter geworden. Was hält dich davon ab, dich denen anzuschließen, die durch solche Schicksalsschläge berühmt geworden sind, ähnlich wie ein helles Feuer durch das Aneinanderschlagen von Feuersteinen entsteht?

Schmerz: Ich wurde aber ins Exil getrieben.

Vernunft: Dazu findest du in der Geschichte viele große Männer als Partner in deinem Unglück, deren liebenswürdige Gesellschaft deine vermeintliche Entbehrung nicht nur mindern, sondern ganz vergessen lassen kann. Camillus war im Exil nicht weniger ein Mann als zu Hause, also großartig als Bürger und großartig im Exil. Obwohl er gerechte und reiche Siege und Triumphe ins Kapitol brachte, wurde er bald darauf verbannt und vergalt die erlittenen Verletzungen, indem er die Sicherheit in seinem undankbaren Land wiederherstellte. Und ich muß zugeben, daß es nicht einfach ist, ein vergleichbares Beispiel für ein solches Verdienst im Exil zu finden. Rutilius und Metellus waren vom Exil so wenig betroffen, daß Rutilius, als er von demjenigen Herrscher zurückgerufen wurde, dessen bloßes Nicken aufgrund von Ungehorsam den sofortigen Tod bedeutete, das Exil wählte und sich weigerte, zurückzukehren, sei es nun, um den Senat und die Gesetze des Landes, so ungerecht sie auch sein mögen, in keiner Weise zu mißachten, oder um nicht wieder ins Exil zu geraten. Und Metellus kehrte mit der gleichen Haltung und dem gleichen Geist zurück, mit dem er ins Exil gegangen war. Zu diesen beiden gesellt sich Marcellus, der in der Zeit des Bürgerkriegs zwar verbannt wurde, aber mit seiner gewohnten Beständigkeit das Studium wertvoller Künste nicht vernachlässigte, sondern sich noch mehr darum bemühte und widmete, frei von der Verantwortung des öffentlichen Dienstes, um seinen Geist mit solchem Fleiß zu erheben, so daß es schien, als wäre er auf die besten Schulen geschickt worden, aber nicht ins Exil. Bei Cicero wird dies noch deutlicher, denn er erlangte wahre Größe aufgrund der Brillanz seiner Werke und des Reichtums seiner Weisheit, was ein süßer Trost sowohl im Exil als auch im Gefängnis war.

Schmerz: Ich leide aber im Exil.

Vernunft: Ein kurzes Exil wird dich bald wieder in dein Heimatland zurückbringen. Und ein langes Exil verschafft dir eine neue Heimat, aus der jetzt diejenigen verbannt werden, die dich verbannen wollten. Dies wird geschehen, sobald du die Natur der Dinge akzeptierst und nicht die Meinungen der Menschen. Nur ein überaus engstirniger Geist hängt so sehr an einem Ort der Erde, daß er denkt, er sei verbannt, wenn er woanders ist. Wer sein Exil beklagt, ist weit entfernt von der Erhabenheit des Geistes, dem die ganze Welt wie ein kleines Gefängnis erscheint. Als Sokrates gefragt wurde, in welchem Land er geboren wurde, antwortete er: „Ich bin ein Bürger des Universums.“ Eine wahrhaft sokratische Antwort! Jeder andere hätte geantwortet: „Ich komme aus Athen.“ Aber für Sokrates war das ganze Universum seine Heimat, nicht nur der Teil, den du als Heimat zu bezeichnen pflegst, das heißt „deine Welt“, die nur der unterste Teil des ganzen Universums ist, sondern auch der weite Himmel, der diesen Namen („meine Welt“) mit größerer Berechtigung trägt. Denn dies ist das Reich, das für dich bestimmt ist. Wenn sich dein Geist nach dieser Heimat sehnt, wird er sich überall auf Erden wie ein Fremder und Verbannter fühlen, wo immer er auch sein mag. Denn wer nennt einen Ort „Heimat“, an dem er nur für kurze Zeit verweilt? Heimat ist das Reich, in dem man für immer sicher und friedlich bleiben kann. Und ich glaube, dies auf der Erde zu suchen, wird ein vergebliches Unterfangen sein. Nach dem Naturgesetz und den entsprechenden Grenzen für die Sterblichen ist diese ganze Erde nur solange deine Heimat, wie du darauf lebst. Wer sich also auf dieser Erde im Exil betrachtet, wird nicht so sehr von diesen Umständen bedrückt, sondern mehr von seinem Verstand (von der Last seiner Seele). Auch Paulus sagte, daß wir auf dieser Erde kein dauerhaftes Zuhause haben (Hebr. 13.14). Ovid sagte: „Jedes Land ist dem Tapferen sein Land.“ Und Statius sagte: „Die ganze Erde ist der Geburtsort des Menschen.“ Ich möchte, daß du mit diesen Worten bewaffnet ein Mann wirst, der überall und nirgendwo zu Hause ist!

Schmerz: Ich wurde ins Exil befohlen.

Vernunft: Dann gehe freiwillig, und es wird eine Reise sein und kein Exil. Denke daran, daß das Exil schon einigen eine Chance zum Verlassen und anderen eine Chance zur Rückkehr bot. Denn es gibt Menschen, denen es nirgendwo schlechter geht als in ihrer Heimat.

Schmerz: Ich wurde aber ins Exil gezwungen.

Vernunft: Wenn du das willst, wozu du gezwungen bist, dann bringst du einen ungezwungenen Zustand hervor. Denn alle Gewalt wird durch Duldung überwunden, und was freiwillig getan wird, darüber hat die Gewalt keine Macht.

Schmerz: Ich muß aber ins Exil gehen.

Vernunft: Dann tue bereitwillig, wozu du gezwungen wirst! Folge anmutig und gib dich nicht der Traurigkeit hin. Auf diese Weise schüttelst du alle gewaltsame Notwendigkeit ab, all diese „diamantenen Nägel und Ketten“, die damit einhergehen, und alle abscheulichen Belästigungen. Andernfalls wünschst du das Unmögliche und meidest das Notwendige: Beides ist vergeblich!

Schmerz: Ich gehe ins Exil.

Vernunft: Vielleicht gehst du auch in den Frieden und findest dein wahres Glück unter der Maske eines vermeintlichen Elends. Zumindest wirst du von nun an frei von Neid sein. So beeile dich, um dich in der Herrlichkeit zu sonnen, die mit dieser Sicherheit einhergeht. Nichts ist süßer, als sich in freundlichen und sicheren Quartieren zu verstecken, die niemals auf den Hauptstraßen der Stadt zu finden sind.

Schmerz: Ich wurde aber aus meiner Heimat vertrieben.

Vernunft: Von den Schlimmsten vertrieben, schließe dich den Besten an und beweise in der Tat, daß nicht du des Vaterlandes unwürdig bist, sondern das Vaterland deiner unwürdig ist! Laß sie spüren, was sie verloren haben und daß du nicht das Gefühl hast, etwas verloren zu haben. Laß die Bösartigen unter ihnen den Haß und das Mißtrauen vermissen, das sie gegen dich hegten, und die Gutartigen ihre Liebe und Zuneigung zu dir erkennen, so daß sie dir mit ihren Augen folgen, wenn du gehst. Laß ihnen das Bedauern zurück, dich zu verlieren, während du freudig mit ihren guten Wünschen aufbrichst. Denke nicht daran, zurückzukehren, und wünsche nicht, mit denen zusammen zu sein, die deine Verbannung wollen. Bedaure nicht, daß dir jetzt von anderen aufgezwungen wird, was du selbst hättest tun sollen. Du hättest dem Haß der Leute nachgeben und freiwillig ins Exil gehen sollen, um ihn zu vermeiden. Diese Ratschläge gebe ich dir, und es fehlt nicht an den brillantesten Männern, die durch ihr Beispiel dafür eintreten. Du weißt, daß dies zuallererst die drei großen Scipios getan haben, und zwar mit einer solchen Entschlossenheit, daß sie ihr geliebtes Heimatland ihrer Anwesenheit beraubten und es sogar für unwürdig hielten, ihre Asche zu erhalten. Doch des berühmten Epigramms erwiesen sie sich als würdig, das einer von ihnen schrieb. Ihre Namen sind in unsterblicher Erinnerung und können dir aufgrund des Ruhmes und der historischen Bedeutung dieser Männer nicht unbekannt geblieben sein: Es sind Africanus, Nasika und Lentulus.

Schmerz: Ich werde ins Exil geschickt.

Vernunft: Ja, du wirst geschickt, um dich zu beweisen, wie du dich im Exil verhalten wirst. Wenn du untergehst, bist du wirklich ein Verbannter im Exil, wenn du unerschütterlich bestehst, wird dich das Exil wie viele vor dir adeln, die unerschrocken und strahlend aus der Not hervorgegangen sind, um der Nachwelt den rechten Weg aufzuzeigen. Laß die Tyrannen schimpfen und das Volk toben! Laß deine Feinde und das Unglück heulen! Du kannst verbannt, eingesperrt, geschlagen und getötet werden, aber du kannst nicht besiegt werden, es sei denn, du hebst deine Hände (und ergibst dich). Keiner kann dich der Eigenschaften berauben, die dich zu einem Bürger und Fürsten deines Reiches machen, wohin immer du gehst.

Schmerz: So gehe ich ins Exil.

Vernunft: Geh achtsam und furchtlos! Du weißt nicht, wie lang die Arme deines (wahren) Königs sind. Nichts ist ihm zu weit, und er wird dich überall beschützen, wie er dich bisher in deiner Heimat beschützt hat.

Petrarcameister - Von der Verbannung ins Exil

Das Elend, über das sich der Schmerz beklagt „Ich werde mit Unrecht in das Elend getrieben“, bedeutete damals nicht Not wie heute. Elend ist die Fremde, die Abwesenheit vom Heimatort oder Heimatland. „Ins Elend“ getrieben zu werden, war eine Strafe, die sich häufig anderen Sühnen anschloß. In der Zeichnung des Petrarca-Meisters wird links ein Verurteilter durch Auspeitschen bestraft. Dann muß er vor dem höchsten Richter, hier dem rechts im Bild sitzenden König, „Urfehde“ schwören, daß er niemals wieder seine Heimat betreten will. Der Richter leistet ebenfalls einen Schwur, wie es Rechtsbrauch gewesen sein mag. Die Strafe wurde vor allem gegen Handwerker und Bürger in den Städten verhängt. Bei den starken Bindungen, die für sie durch Hausbesitz, Zunftzugehörigkeit und Verwandtschaft an die Vaterstadt bestanden, war es eine schwere Strafe, die in vielen Fällen die Existenz vernichtete. - Als tröstendes Beispiel hat hier Sebastian Brant oder der Petrarca-Meister nicht eines der historischen Beispiele gewählt, die Petrarca in reicher Zahl gibt, sondern ein Religionsbild. Der durch den Adler gekennzeichnete Evangelist Johannes ist „im Elend“ auf der Insel Parmos. Ihm erscheint die Madonna und inspiriert ihn zu seinen Schriften.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht können wir als Fortsetzung des vorhergehenden Bildes sehen, wie der verurteilte Geist, der sich durch sein falsches Urteil selbst zur „Körperhaft“ verurteilt hat, zur Strafe mit der Rute des Leidens in die Körperlichkeit getrieben wird. Und zwar in die körperliche Geburt in materiellen Häusern und Burgen, die der Geist nun fälschlicherweise als seine Heimat oder sogar sein „Vaterland“ betrachtet, obwohl es nur sein Geburtsland ist, sozusagen sein „Mutterland“. Nach ein paar Jahren sieht man dann rechts, wie die gefallene Weisheit bzw. Vernunft als altgewordener Ego-König auf dem teuflischen Drachenthron sitzt und mithilfe des begrifflichen Verstandes den Geist bindet, der hier nach Freiheit und Einheit strebt, und ihn durch gegenseitiges Abschwören aus seiner körperlichen Welt ins Exil verbannen will, um dieser „Urfehde“ als Gegensatz zwischen Natur und Geist aus dem Weg zu gehen, die er als trennendes Ichbewußtsein niemals lösen kann. Gleiches sehen wir auch heute noch an unserer modernen „Naturwissenschaft“, die alles Geistige soweit wie möglich aus ihrer Welt verbannen will. Dagegen wird im Hintergrund dargestellt, wie sich der Geist aus dieser materiellen Natur durch die göttliche Vision einer göttlichen Natur wieder erheben kann, wie ein Adler in die Lüfte, denn was gefallen ist, kann sich auch wieder erheben. Dazu wird das Christusbewußtsein geboren, das göttliche bzw. ganzheitliche Licht des Heiligen Geistes, der das Mutterland der Natur und das Vaterland des Geistes wieder zu einer Gottheit bzw. Ganzheit vereint und die Trennung heilt.

2.68. Von der Belagerung der Heimatstadt

Schmerz: Meine Heimatstadt wird belagert.

Vernunft: Troja wurde belagert, Tyrus wurde belagert, Karthago wurde belagert, Jerusalem wurde belagert, Numantia und Korinth wurden belagert, und sie alle fielen. Warum sollte sich dann jemand schämen, belagert zu werden? Sogar Rom, die Stadt der Städte, wurde belagert, obwohl sie damals schon aufgehört hatte, Rom zu sein. Was soll ich über Capua sagen, über Tarentum, Syrakus, Athen, Veji und viele kleinere Städte? Auch Städte haben ihre besonderen Schicksale, und nur wenige entgehen dem Schicksal, belagert zu werden. Aber das Vergehen der Zeit ist ein solches Hindernis für die Erinnerung, daß selbst die Bewohner nichts mehr vom Schicksal ihrer eigenen Städte wissen. Du bemerkst nur die gegenwärtige Belagerung, ohne die Vergangenheit zu kennen und die Zukunft vorauszusehen. So verhältst du dich gewöhnlich in jeder Situation: Du beklagst nur, was gerade stört, ganz von deinen Sinnen geleitet, wie jedes andere Tier.

Schmerz: Ich werde aber in meiner Heimat belagert.

Vernunft: Ich sagte schon, daß du über alles weinst, was dich bedrückt. Nun mag dir das Exil möglicherweise wünschenswert erscheinen, weil es deine Freiheit weniger einschränkt, obwohl sie weder von Belagerung noch Exil eingeschränkt werden kann, wenn es eine wahre Freiheit des Geistes wäre, die es dir erlaubt, nach draußen zu gehen, wenn du eingesperrt bist, und zurückzukommen, wenn du ausgeschlossen wurdest, und immer sein kannst, wo du sein willst.

Schmerz: Ich werde aber in meiner eigenen Heimat belagert.

Vernunft: Priamos, der kein Untertan, sondern ein König war, wurde in seiner eigenen Heimat zusammen mit seiner ganzen Familie belagert, die mehr berühmt als glücklich war. Antigonos, der König der Mazedonier, wurde bei Argos belagert und Eumenes bei Pergamon. In der heutigen Zeit wurde in der Stadt Genua Robert, der König von Sizilien, belagert, der nicht geringer als die alten Könige war, wenn wir die wahre Tugend betonen, die wahre Könige ausmacht. Und du, armer Mann, jammerst über das Schicksal, das sogar Könige trifft?! Ambrosius wurde belagert und Augustinus wurde belagert, beide innerhalb der Stadt Mailand. Später wurde Augustinus sogar innerhalb der Mauern seines eigenen Bistums belagert, bis ihn Gott, der sich seiner Tränen erbarmte, aus der Belagerung auf Erden befreite und in das himmlische Königreich erhob.

Schmerz: Ich werde wirklich belagert.

Vernunft: So sage mir, wer wird nicht belagert? Die Menschen werden von Sünden belagert, von Krankheit und Feindschaften, von Sorgen, dringenden Geschäften oder von Trägheit, von Reichtum oder von Armut, von Schande oder von lästigem Ruhm. Dein Körper, den du so umsorgst und liebst, umhüllt dich wie eine Zwangsjacke und belagert dich in ständiger Umklammerung. Sogar diese Welt selbst, in der ihr Menschen in ständiger Kriegsführung schreit und knurrt und mit solchem Eifer versucht, die Grenzen eurer Herrschaften und Königreiche auszudehnen, um sie zu bewohnen: Was ist sie wirklich anderes als wie Cicero sagte, nur eine kleine Insel, umgeben von jenem Meer, das ihr auf Erden den Atlantik, das Große Meer oder den Ozean nennt. So siehst du, wie klein sie ist trotz ihres stolzen Namens. Du wirst schon immer von allen Seiten belagert, und doch redest du davon, belagert zu werden, als wäre es etwas Neues! Überlege lieber, welche Maßnahmen oder Ratschläge zur Sicherung deiner Heimatstadt beitragen können. Dies kannst du tun, indem du an den fleißigen alten Mann Archimedes von Syrakus denkst (dessen Wurfmaschinen bei der Verteidigung von Syrakus gegen die römische Belagerung im Zweiten Punischen Krieg eingesetzt wurden), denn Wehklagen allein helfen weder dir noch deiner Heimat.

Schmerz: Ich werde in meiner eigenen Heimat belagert.

Vernunft: Wie meinst du das? Möchtest du lieber woanders belagert werden? Sicherlich, das könntest du vorziehen, und das zu Recht, denn wenn du anderswo belagert würdest, würde vielleicht deine Heimatstadt nicht belagert werden. Doch für dich ist es ein kleiner Trost, daß du die Belagerung in deiner Heimat erleiden mußt, weil geliebte und bekannte Orte dich beruhigen, wie Fremdes und Widerliches dich verletzen können.

Schmerz: Ich werde aber innerhalb der Mauern meiner Stadt eingesperrt.

Vernunft: Du klingst, als gäbe es keine schlimmeren Zwänge als diese Mauern, obwohl viele Stadtbewohner vor Gericht oder an anderen öffentlichen Einrichtungen so beschäftigt sind, daß sie das ganze Jahr über kaum die Stadttore sehen. Aber wenn du von Belagerung sprichst, dann will jeder ausbrechen und bildet sich ein, gebunden und gefesselt zu sein. Doch das liegt nicht an der Belagerung, sondern an der Meinung, die wohl das Unbeständigste im Leben der Sterblichen ist!

Das verlangt nach einer Geschichte: Vor nicht allzu langer Zeit lebte in Arezzo ein schwacher alter Mann, der, wie man sagt, nie einen Fuß außerhalb der Stadtmauern gesetzt hatte. Als dies den Stadtvätern bekannt wurde, riefen sie den Mann und beschuldigten ihn aus Spaß, sich heimlich aus der Stadt zu schleichen, um geheime Gespräche mit dem Feind zu führen. Er schwor bei allen Heiligen, daß er die Stadtmauern nie verlassen hatte, nicht nur während des gegenwärtigen Krieges, sondern zu keinem anderen Zeitpunkt seines langen Lebens. Sie gaben vor, ihm nicht zu glauben, sagten ihm, daß die Stadt ihn des Hochverrats verdächtige und mehr. Dann drohten sie mit schwerer Strafe und befahlen ihm, die Stadt nicht zu verlassen. Aber er, so heißt es, war über ihr Verbot so empört, daß er gleich am nächsten Tag außerhalb der Stadtmauern erwischt wurde, wo er noch nie zuvor gesehen worden war.

So kämpfen die Menschen angetrieben von der angeborenen Sturheit ihres Geistes gegen alles, was ihnen verboten wird. Auch du sagst, du seist eingesperrt und eine ganze Stadt sei dir nicht groß genug. Und wenn sie nicht belagert wäre, wärst du wahrscheinlich mit einem ganz kleinen Teil davon zufrieden, vielleicht nur mit einem einzigen Haus. Aber so geht es den Eifrigen! Dazu sollte dir auch bewußt sein, daß fast alle Belagerungen von relativ kurzer Dauer sind. Damit hast du den Trost sowohl des Ortes als auch der Zeit. Es fehlt dir nur die Gleichmütigkeit. Was dich traurig und klagend macht, ist nicht die Natur der Dinge, sondern deine eigene Unzufriedenheit.

Petrarcameister - Von der Belagerung des Heimatlandes

In einem Zeitbild schildert der Petrarca-Meister die Belagerung einer Stadt, in die sich ein König zurückgezogen hat. Die Angreifer haben eine Brustwehr um die Stadt gezogen, und haben in diesem Schutz ihre Geschütze aufgefahren. Nun ist eine Bresche in die Stadtmauer geschossen worden, und mit Leitern versucht eine Mannschaft, den Eingang in die Stadt zu erzwingen. Die Verteidiger schützen sich mit schweren Setzschilden und wehren mit Steinen und anderen Wurfgeschossen den Ansturm ab. Handfeuerwaffen waren zur Zeit des Petrarca-Meisters noch selten. Ganz links ist ein Kriegsknecht gezeichnet, der mit einer plumpen Büchse zur Bresche eilt. - In keiner der Darstellungen des Petrarca-Meisters ist ein bestimmtes Ereignis aus seiner Zeit gemeint. Die große Fahne hinter dem Wald von Spießen ist unbestimmbar, und auch die sonst im Buch vorkommenden Wappen und Devisen haben keinen realen Sinn. Trotzdem entsprechen seine Darstellungen tatsächlichen Vorgängen, die er erlebt hat.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht sehen wir nun, wie die Körperstadt, in die sich der Ego-König zurückgezogen und mit dicken Mauern umgeben hat, von anderen Egos und auch von der Natur selbst belagert und angegriffen wird, weil dieses Ichbewußtsein den Geist der ganzheitlichen Vernunft ins Exil verbannt hat. Damit ist es nun herausgefordert, sich gegen alles andere verteidigen zu müssen, und unfähig, in Frieden zu leben, weder mit der Natur selbst noch mit anderen Wesen, von denen es sich getrennt und bedroht betrachtet. So kommt auch der Tod in seine Welt, weil er andere töten und „unwirksam“ machen muß, um selber zu leben und zu wirken, was man rechts im Bild vor der belagerten Ego-Burg sieht. Und alle Waffen, die er dazu erfindet, wie die Wurfmaschine des Archimedes oder die Kanonen und Gewehre, richten sich dann wieder gegen ihn, wie links im Bild dargestellt wurde. Und im Zentrum des Bildes könnte man den Lösungsvorschlag des Petrarca-Meisters erkennen: Gemeinsam sind wir stark unter der großen Fahne eines einheitlichen Geistes.

2.69. Von zerstörter Heimatstadt

Schmerz: Aber was sagst du dazu, daß meine Heimat völlig zerstört wurde?

Vernunft: Hast du nicht gehört, was mit den Städten passiert ist, die ich zuvor erwähnt habe, und zahllosen anderen? Alexander von Mazedonien zerstörte Tyrus und Theben sowie Persepolis, die Hauptstadt des Königreichs Persien, was erstaunlicherweise auf den Vorschlag einer gewöhnlichen Hure hin geschah. So schwach ist das Vermögen einer großen Stadt! Troja wurde von Agamemnon zerstört, Sagunt von Hannibal, Karthago und Numantia vom jüngeren Africanus, Jerusalem von Titus, und andere Städte von anderen Männern. Rom wurde nie vollständig zerstört, aber das Alter zermürbte die Stadt mit Unterstützung der Bürgerkriege. Aber was spielt es für eine Rolle, wer sie besiegt hat, solange wir sie besiegt sehen?! Neueren Datums ist die Geschichte der Zerstörung Mailands durch Friedrich, einen barbarischen und wilden Kaiser. Warum denkst du dann, daß deine Heimatstadt von diesem Schicksal verschont sein sollte, dem die größten Städte und sogar Reiche unterliegen? Hat dich die Liebe so geblendet, daß du dir vorstellst, diese eine Stadt, in der du geboren wurdest, sei unsterblich, obwohl der Rest der Welt sterblich ist? Himmel und Erde werden einstürzen und alle Berge und Meere vergehen, denn was aus dem Nichts entstanden ist, wird wieder zu Nichts. Und du bist schockiert über den Untergang deiner Heimatstadt und beklagst dich darüber? Wie ich bereits sagte, sterben Städte wie Menschen, zwar nicht so oft wie diese, weil es weniger Städte gibt und sie länger bestehen, aber sie sind dem Tod ebenso unterworfen. Nicht nur Menschen sind sterblich, sondern alles in der Welt des Menschen ist sterblich, außer seiner Seele.

Schmerz: Meine Heimat ist gefallen.

Vernunft: Und so könnte sie auch wieder auferstehen. Viele sind wieder auferstanden, und für manche war der Untergang der Beginn einer glücklicheren Wiederauferstehung. Sagunt und Mailand stehen heute an ihren alten Plätzen. Aber die Stadt in der Nähe von Mailand, sozusagen die letzte, die Pompeius lobte, mußte wegen derselben barbarischen Faust ihren Standort wechseln und wurde ungefähr zur gleichen Zeit zerstört. Auch Jerusalem und Karthago wurden zerstört (und wieder aufgebaut). Daher kannst du hoffen, und falls deine Hoffnung scheitert und du denkst, deine Heimatstadt sei untergegangen, dann halte dich selbst fest, damit nicht auch du dem Unglück erliegst, denn der Zusammenbruch des Geistes ist schlimmer als der Zusammenbruch von Mauern. Ein Mensch sollte starken Mut zeigen, nicht verweichlichte Trägheit, auch wenn er die Tatsache beklagen muß, daß seine Heimatstadt gefallen ist. Stirb nicht mit ihr, denn dein Untergang wird deiner Heimat nicht helfen. Du solltest dich und die übriggebliebenen Landsleute lieber für glücklichere Tage bewahren, was zum Handeln und nicht zum Klagen auffordert. In diesem Fall wäre sogar eine Flucht lobenswert. Du hast sicherlich von Terentius Varro gehört, dessen Versagen und Unbesonnenheit beinahe das Römische Reich gestürzt hätten, dem aber öffentliche Dankbarkeit entgegengebracht wurde, weil er nicht an der Republik verzweifelt war, was wohl seinem Amtskollegen geschah, obwohl er einer der größten Männer war und in dieser Sache völlig ohne Schuld. Wie Bias trägst du alle deine Güter bei dir, auch wenn du nur nackt aus den Mauern deiner zerstörten Heimatstadt entkommen würdest. So strebe danach, jene andere Heimatstadt zu erreichen, die ein ewiges Königreich ist. Sobald du von Gott berufen bist, dorthin aufzusteigen, mußt du keine Belagerung, Zerstörung oder anderen Verluste mehr fürchten, vor denen ihr Menschen in euren Städten so viel Angst habt.

Petrarcameister - Von zerstörter Heimatstadt

Eine Stadt an einem Fluß wird von Feuer vernichtet. Die Einwohner fliehen und können nicht mehr als das Leben retten. Im Vordergrund ist eine Patrizierfamilie dargestellt, bei der die Frau im kostbaren Brokatkleid das Kind auf dem Arm trägt. Auch ihr Mann, ebenfalls in reicher Kleidung, ist mit zwei Kindern entkommen. Eine schwangere Frau ringt verzweifelt die Hände, da sie sich so plötzlich von aller Hilfe und Pflege verlassen sieht. Ein Alter oder Gelähmter wird auf den Schultern aus der Stadt getragen. Jenseits des Flusses ist eine zerstörte Stadt gezeichnet, die durch den mächtigen Zentralbau in ihrer Mitte als Jerusalem zu erkennen sein soll. Eine Parallele aus der alten Geschichte ist damit gegeben, in Anlehnung an Petrarcas Text, der neben anderen zerstörten Städten des Altertums auch Jerusalem nennt.

Soweit schreibt Walther Scheidig. Aus geistiger Sicht scheint der Petrarca-Meister in diesem Bild über die Frage nachzudenken, was nach dem Tod bleibt, wenn die äußeren Mauern der Körperstadt zerbrechen und im Inneren alles in Flammen aufgeht und verbrennt. Dazu könnte man links den wirkenden Geist bzw. die Seele aus dem Feuer fliehen sehen. Vorn im Zentrum steht dann eine Familie eng zusammen im Wind des Lebens, der von rechts hinten das Feuer anfacht, vom Fluß des Lebens her. In edle Kleider gehüllt erinnern sie uns an die individuellen Seelen, die doch zusammen als Familie nur eine Seele sind und zur ewigen Stadt beten und streben. Rechts von ihnen könnte Mutter Natur im Wind des Lebens stehen, die das ungeborene Leben in ihrem Leib trägt und zum Berg betet. Und dahinter sieht man einen Mann bzw. Geist, wie er die irdische Last von Krankheit, Alter und Tod als Erbsünde zum Fluß des Lebens trägt. Auf diesem Fluß rudern die Körperboote vom diesseitigen zum jenseitigen Ufer, und es gibt sogar eine Brücke für Besucher. Doch selbst diese jenseitige Stadt erscheint in diesem Bild vergänglich, so wie alle Formen, die entstehen, wieder vergehen müssen. Das einzige Unvergängliche ist der Tempel Gottes im Zentrum der ewigen Stadt als eine Ganzheit, denn nur das Ganze ist ewig, und alles Abgetrennte vergänglich.


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